NACKT in Roetgen

Wie gerade von der Mutter geboren, liege ich in Roetgen auf einer grünen Wiese. Nackt. Wie siebenundzwanzig andere wildfremde Menschen um mich herum, die vor hundert Jahren eingeschlafen sind und vergessen haben, aufzustehen – Frösche, die vergeblich auf einen Kuss warten…

Der Anblick der fremden Haut auf den Plastikliegestühlen der Saunalandschaft in Roetgen -, alt, faltig, ohne Spannkraft –  verwirrt mich. Meine Augen wissen nicht, wohin sie schauen sollen. Das linke Auge blickt brav in Richtung der Köpfe, studiert die Falten und Gesichtszüge des Fleisches. Das rechte, freche, das Froschauge, rutscht nach unten, bleibt zwischen ihren Beinen, glotzend: buschige Monster, graue Ungeheuer, die einmal, vor vielen Jahren, ein junges, rosa, zartes Würmchen gewesen sind, unschuldig, verschämt, bevor sie sich auf die Jagd nach rasierten Prinzessinnen, bunten Punks, und toupierten, wilden Irokesinnen gemacht hatten.

 Adams Mutter

Die Sonne strahlt, das fluoreszierte Grün leuchtet, kein Geräusch weit und breit. Nur Dösen, in die Ferne blicken, Augen zu und wegtauchen. Die Welt versinkt in einem träumenden, halbwachen Mittagschlaf. Mit mir. Die dünne weiche Matte unter mir saugt mich ein. Vor mir taucht Adam, mein Urvater, auf.

Wie ein unglückliches Kind in der Kleidung seines älteren Bruders, das nach der Mutter sucht, setzte er sich, müde, erschöpft, verloren, auf eine weise Plastikliege.

Wie ein vom Thron gestürzter König, umfasst er seinen Kopf mit beiden Händen.

Wie die letzte Ahnung, die er nicht aufgeben will, die Zärtlichkeit, Wärme, das Vertrauen des Mutterschoßes zu finden, legt er seinen schweren Kopf, aufgeschraubt auf den wie ein Akkordeon gefaltetem Rumpf, auf die weiche Lehne und schließt die Augen.

Sein blasses Gesicht klebt an dem weißen Plastik wie verwachsen. Er umarmt seinen kahlen Schädel als ob er überlege, ob die Suche nach der Mutter noch einen Sinn mache.

Seine müden Beine, schräg übereinander gekreuzt und sein Unterkiefer, der seine Unterlippe fest beißt, scheinen in jeden Moment engültig zu entscheiden, die Suche nach der Mutter einzustellen, und alles, was er je bis jetzt gesehen, gehört, gerochen, getastet, geschmeckt, gehofft, gedacht hatte, einfach zu vergessen.

Adam schläft ein, nackt, verloren, einsam.

ln dieser gefalteten Position liegt er nun seit genau dreitausend Jahren wie der Frosch, den man vergessen hatte zu küssen, bevor man ihn gegen die Wand geworfen hatte.

Neben dem im Schlaf versunkenem Adam, wacht seine Partnerin, nicht viel jünger als er. Eine schöne Frau. Eva vielleicht. Wenn Eva versucht Adam, den Alten, zu wecken, ohne ihn zu küssen, wechselt er sie im Schlaf aus. Seine Evas werden immer jünger, attraktiver und anspruchsvoller. Leider haben sie immer weniger Lust, wenig Mitgefühl oder Liebe zu Adam, ihm, der immer älter und schlapper wird, zu küssen. Sie liegen neben ihm einsam, unglücklich, drehen ihm den Rücken zu und knurren: er solle endlich mal wieder wach werden, er solle aufhören zu schnarchen, er solle sie nicht weiter warten lassen…

Adam schläft weiter und lässt Evas kommen und gehen. Mit beiden Händen umschließt er seinen kahlen Kopf, immer fester, als ob er auf diese Welt gekommen wäre, allein, um zu üben, sich selbst in Schutz zu nehmen. Um sein Leid und alle Katastrophen zu verschlafen.

 Des Königs neue Kleider

Adam dreht sich nie um. Er will die Zukunft nicht verpassen.

Sein Haar fällt aus in Büschen und fängt woanders an zu wachsen. Ganz wild, wo man es nie erwarten würde. Wo es gar nicht hingehört: in der Nase, in Ohren, auf der Zunge, in der Suppe.

Er sucht nie das Haar in der Suppe. Er isst einfach, alles was er kriegt. Das Essen ist das einzige, was ihm, dem Greis, noch Freude macht.

Seine Freude hat Nebenwirkungen. Sie wächst in seinem Bauch. Wird immer dicker. Wie ein Kind im Bauch einer Frau, die zum erstenmal eine Frucht unter ihren Brüsten spürt, das in siebenundzwanzig Wochen auf die Welt kommen wird, spürt nun Adam die warme Milch in seinem Bauch, eine Mischung aus Lust auf die Mutter, die er nie hatte, und Angst, er könnte es ihr, so wie er ist, nie recht machen und ihre Sehnsüchte nie stillen. Genauso wie er, der Erstgeborene, es seinem Vater nicht recht machen kann, der ihm im Schlaf seine Rippen brach und eine entriss, um ihm daraus eine Frau, die Eva, zu basteln.

Adam schläft.

Seine Mutter – warum gibt es sie nicht? Warum hat er, der Adam, der Erstgeborene, keine Mutter? Was hat sein Vater ihr angetan? Was verschweigt er ihm? Warum fragt ihn keiner nach seiner Mutter? Warum tun alle so, als ob es selbstverständlich wäre, ohne Mutter auf die Welt zu kommen..

Seine Haut hängt wie ein Sack. Seine Augenringe hängen, sein Bauch hängt, seine Hoden hängen. Alles an ihm hängt. Alles um drei Nummer zu groß. Wie damals bevor er die Suche nach seiner Mutter, nach ihrer Umarmung, für immer aufgegeben hat. Wie ein betrogener König, der seinem Vater vertraut hat.

Evas Apfel

Eva liegt neben ihm . wie eine Wachsfigur, die vergeblich bei dem schlafenden Adam nach Halt sucht. Sie spürt das Bedürfnis, sich zu bewegen, frei zu sein, aus dem Paradies auszubrechen.

Sie will, gehört werden, von ihm, ihrem Partner. Er soll verstehen , was sie schmerzt .

Adam liegt neben ihr, mit von ihr abgewandten Rücken und schnarcht. Bevor sie die Sätze, die sie ihm sagen wollte, in ihrem Kopf fertig ausformulieren konnte, war er fort.

Wann wird er seine Augen endlich aufmachen, sie anschauen, ihr ein schönes Wort sagen? Sie küssen?

Die Sonne knallt. Eva im Halb-Sitz-Halb-Liegen-Position hebt den Kopf. Sie knickt ihr linkes Bein in der Mitte, das knochige Knie zieht sie zu ihrer Brust, umarmt es mit beiden Händen, ganz fest, als ob ihr drei Tausend Jahre und ein Tag langes Warten auf ihn, einem einfühlsamen Partner, in diesem Moment aufgbe. Ihr Blick wandert über die grüne Wiese, das kochende Plantschbecken, in dem das nackte faltige Fleisch einer fülligen Dame vor sich hin schmort, und landet zielstrebig auf dem hängenden Bauch ihres schnarchenden Königs, rutscht ein Stück weiter und bleiben kleben an seinen beiden in grauem Gebüsch zerknitterten Hoden. Eva beißt sich auf die Lippe, in dem Moment fällt ein Apfel auf ihren Kopf. Ihr Stirn faltet sich zu einem Fragezeichen. Der Adam neben ihr murmelt im Halb-Schlaf, er habe Hunger.

„Unterhaltung untersagt!“

 Die Überschrift in der achtzig Grad heißen Edelkristallsauna lese ich atemlos.

Die nackten Menschen, die über und unter mit mir auf den Holztreppen tapfer hocken und hauchen, machen, was sie lesen. Sagen nix.

Die Schrift bittet sie freundlich aber aufdringlich, zu schweigen.

Ich mag keine Befehle und unterhalte mich ernsthaft mit meinen Gedanken.

Nein, ich habe nichts gegen die nackte Wahrheit. Ja, aber ich bin katholisch erzogen.

Ja, wie die meisten hier im Thermalbad, in Roetgen… Aber ich gehe öfter in die Sauna als in die Kirche…

Nackt, nachdenklich und nüchtern marschiere ich, das Kind von Adam und Eva, aus dem heißen, verschwitzten Raum und springe in das kalte Brunnenbecken.

Auf der grünen Wiese mit siebenundzwanzig weisen Plastikliegestühlen suche ich mir dann einen Platz in der Sonne.

Wie von der Mutter frisch geboren, liege ich dort wie alle: unsichtbar, nackt, mürrisch, alleine.

Ich grüße niemanden. Schweigsam beobachte ich die fremden Körper.

Wie eine neue Kollektion der Königskleider.

Wie eine Modenschau, ausgestellt auf siebenundzwanzig weißen Plastik-Thron-Stühlen

Die Nacktheit, ihre, meine, unsere, verbindet uns sofort,

wie Peinlichkeit, der sich keiner entziehen kann,

Wie die neue Verschwörungstheorie kurz vor den Wahlen.

Integriert in die erzwungene Nacktheit, schläft das Kind von Adam und Eva ein und träumt von einer Burka, unter der es sich vor allen diesen nackten Menschen verstecke könnte.

 Bikini in Paradies

Am Frühstückstisch der Hoteltherme sitze ich am nächsten Morgen alleine und studiere die wildfremden Gesichter,

Befreit von der Last ihrer nackten Körper, wirken sie so ausgeschlafen, so völlig normal.

Welches Gesicht gehört aber zu welchem Körper aus der Saunalandschaft? rätsle ich vergeblich.

Welcher Frosch wurde in der Nacht geküsst?

Sie atmen den Morgenkaffeeduft ein, klopfen ihr Vier-Minuten-Frühstücksei, schneiden das Kornbrötchen in der Mitte auf, schmieren Butter und Marmelade.

Die Stille im Frühstücksraum könnte ich mit dem Messer schneiden.

Am Nachmittag sitzen im Restaurant an meinem Stammtisch zwei Katharinas: eine entspannte Bistro-Wirtin aus demNachbarort mit sehr gespannter rosa Haut, die jeden Dienstag ihren Ruhetag hier in der Sauna feiert und eine angespannte IT-Spezialistin aus Los Angeles, die ihre stressige IT-Aufgaben mit dem Familienbesuch in Deutschland zu verbinden versucht. Was ich in Roetgen, dem längsten Dorf Deutschlands suche, wollen die beiden Damen wissen.

„Die nackte Wahrheit!“, gebe ich zu: „Ich erforsche an meiner eigenen Haut, was die Menschen dazu treibt, sich bis zum letzten Kleidungsstück vor wildfremden Menschen freiwillig auszuziehen und stundenlang ohne Pieps nebeneinander herumzuhocken, zu liegen, schwitzen, schmoren. Und so tun, als ob es das Normalste auf der Welt wäre, seine Organe, sein Fett, Falten, die fade Haut, alle Monster, die Schamhaare, Hoden, Titten, wie auf einem Teller zu präsentieren“..

Ich frage,  ob das die wirkliche Freiheit sei? Oder eher die Sehnsucht nach dem verlorenen Garten Eden, dem Paradies, das uns unsere neugierige, ungeduldige, selbständige, rachsüchtige Mutter für immer gestohlen hat?

„Nackt sein – die neue Uniform? Die neue Kollektion der Könige, die wir auf unserer Haut spüren wollen?“, werfe ich meine vielen Dilemma in die Runde.

Die IT Spezialistin Katie aus Los Angeles richtet sich auf, als ob ich ihre Gedanken gelesen hätte, Sie schüttelt   entschlossen ihren Kopf: Es sei alles „Fake“, meint sie.

„Alles Show. Selbstbetrug“.

Nacktsein unter wildfremden Menschen sei alles anders als natürlich, sagt sie. Es sei eine typisch deutsche Erfindung, ihre verkrampfte, wahre Natur hinter der nackten Haut zu verstecken! Das könne sie, als geborene Deutsche, die in 16 Jahre Amerika die wahre Erfahrung mit der Freiheit habe testen können, wohl am Besten beurteilen..

„Die Amerikaner gehen in die Sauna nur im Bikini, sie sprechen aber so frei und laut, wie auf der Straße, im Büro, im Restaurant auch“, sagt sie mit triumphierendem Unterton.

„Wir, die nackten Deutschen, schweigen immer, wie im Grab…“

Katty, die Bistrochefin, deren Klientel, die Dauer-Camper aus Holland, Belgien und Deutschland sind, die ihre Freiheit nach der Pensionierung in Wohnwagen bei Hitze, Regen und Eis ausleben, nickt. Sie fühle sich auch nicht ganz wohl so nackt in der Sauna, ständig denke sie, wie sie in den Augen den anderen wirke, und sie wisse auch nicht, wohin mit ihrem Blick. Im Bikini aber, sei es bestimmt noch schlimmer…

Als die Diskussion um die nackte Haut immer heißer wird, leuchtet bei der IT-Katie das Handy. Ihr amerikanischer Chef sei es, sagt sie, und eine tiefe Falte zeichnet sich zwischen ihren Augenbrauen. Sie fühle sich wie per Mausklick über Kontinenten gesteuert, sagt sie nach dem Gespräch und geht.

Als ich am späten Nachmittag im Bademantel die Sauna wieder betrete, sehe ich über die Wiese in Richtung Plantschbecken zwei junge, schön geformten Körper, ohne ein Gramm Fett in kreischend roten Bikinis, grazil schreiten. Alle Augen kleben an den beiden jugendlichen Rebellinnen. Meine auch.

„Oh Gott, wie still es hier ist…? sagt die eine.

„Wie damals als Gott Adam erschuf“, sagt die andere.

„Ja, bevor er den ersten Fehler machte: Eva aus Adams Rippe zu basteln …“sagt die erste und sie kicheren in dem Garten Eden mit den weißen Plastikliegen…

 

„Regelmäßiges Saunabaden stärkt die Abwehrkräfte, beugt kleinen Erkältungskrankheiten vor, ist Training für Herz und Kreislauf, reinigt die Haut und last but not least bewirkt die vegetative Umstimmung eine einmalige Entspannung, die man nur beim Saunabaden erfahren kann…“

https://www.roetgentherme.de/saunadorf/

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