Nebel über dem Wald

So hell, so wunderbar hell

Die Straße, in der Siedlung, auf dem Hügel, ist abgedunkelt. Das ist sie meistens. Nur vereinzelt stehen Straßenlaternen an der Seite. Ab und zu löst ein Bewegungsmelder aus und ein Haustüreingang wird flutlichthell angestrahlt. Vielleicht huscht eine Katze vorbei und wechselt die Straßenseite. Dann erlischt das Licht und alles ist wieder dunkel. 

In dieser Straße, in einem Haus, in einem Zimmer, ausgestattet mit Bett, Schreibtisch und Kleiderschrank, wohnt ein Kind. Es ist ein gewöhnliches Kind, würden die meisten sagen. In der Schule ist es den größten Teil der Zeit nicht auffällig. In der Schule hebt es zwar nur selten den Arm, das Lehrpersonal nimmt das aber so hin. Das Kind hat leider einen extrem weiten Weg zur Schule, weshalb es manchmal, unter Umständen, vorkommen kann, dass es diesen Weg, an dem ein oder anderen Tag, nicht auf sich nimmt. Das ist verständlich. 

Das Kind sagt: „Heute ist nicht der für mich geeignetste Tag, um diesen höllischen Weg zu meistern.“ Stattdessen nimmt das Kind eine Whatsapp-Sprachnachricht an die Mutter auf, denn der Vater ist nämlich, wie so oft, schon weg.

Der Inhalt der Nachricht lautet: „Hallo Mama, ich kann heute nicht in die Schule. Mir geht es wirklich nicht so gut. Ich bleibe zu Hause im Bett. Mach dir keine Sorgen.“ Das Ende der Nachricht wird von starkem Husten begleitet, um die Situation des Kindes akustisch zu verdeutlichen. 

Das Kind, das in dieser Straße, in einem Haus, in einem Zimmer, ausgestattet mit ockerfarbenem Teppichboden, einem bequemen Stuhl und einem Computer wohnt, ist ein absolut tolles Kind, würde die Mutter sagen. Der Vater hingegen schweigt. Es ist kein Kind aus einem Bilderbuch, das nicht, aber es ist ein Kind, das seinesgleichen sucht. Sagen wir, das Kind ist vielleicht doch nicht so gewöhnlich, wie zunächst angenommen. Das Kind ist ein Zeitreisender. Das Kind kann nicht nur die Zeit verlassen, es kann ohne Probleme den Ort wechseln. Das Kind ist gut ausgerüstet. Es ist flink und flexibel. Es ist ansprechbar und bereit. Das Kind hat natürlich auch einen Namen, es nennt sich selbst aber nur: rox95.

Das Kind versinkt im bequemsten aller Stühle, es lässt sich fallen und gehen. Mittlerweile kennt es keine Uhrzeiten mehr. Es fällt dem Kind teilweise sogar schwer, zwischen Tag und Nacht zu unterscheiden, denn das Lieblingsfeature im Zimmer des Kindes sind die Rollladen. Keine billigen Vorhänge oder durchsichtige Rollos. Echte abdunkelnde Rollladen. Das Kind liebt die Rollladen. Natürlich nur dann, wenn sie unten sind. Nicht, dass das Kind damit einen Lärm von draußen unterbinden würde, denn in der Straße, in der Siedlung, auf dem Hügel, ist es tagsüber und auch nachts extrem still.

Früher war das Kind im Sportverein. Es mochte gerne Schwimmen. Irgendwann wurde die Schwimmhalle geschlossen und seitdem steht, in der Ecke des Zimmers, eine kleine Tasche mit Badehose, Handtuch und Schwimmbrille. Das Kind hat nicht versucht ein neues Wasserbecken zu finden, denn jedesmal, wenn es in den Überlandbus steigen muss, wird ihm übel. Deshalb hat das Kind beschlossen, von dem Moment an, mehr Zeit auf dem bequemen Stuhl zu verbringen. Es war sicher kein einfacher Entschluss und eher aus der Not heraus geboren als eine wirklich bewusste Entscheidung. Das Kind sitzt nun Tag und Nacht auf dem Stuhl und es ist wirklich froh, dass es das Zimmer von innen heraus verschließen kann. Das ist fast so gut wie die Rollladen. 

Die Mutter kocht gerne für das Kind. Hühnerfrikassee oder Kartoffelbrei. Beides mag das Kind wirklich gerne. Es isst nur unregelmäßig, mal sehr wenig und in der Nacht dann schleicht es sich zum Vorratsschrank und stibitzt zwei, drei Packungen Essbares. Es ist auf leisen Füßen unterwegs und mit der Beute am Schreibtisch angekommen, klemmt es sich wieder die Kopfhörer über die Ohren. Es freut sich wirklich ungemein in diesem Raum zu sitzen. 

Das Kind ist, Tag wie Nacht, unterwegs. Es läuft, springt, fliegt, fährt, hüpft, rennt, versteckt sich, geht in Deckung. Die Hände sind dem Kind heilig. Ohne sie wäre es nichts. Ohne sie könnte das Kind nichts. Ohne sie wäre alles für die Katz. Das Kind ist wirklich fixiert. Wenn die Mutter anklopft, sagt das Kind durch die geschlossene Zimmertür: „Nicht jetzt Mama. Stör mich nicht. Ich bin gerade beschäftigt. Lass uns später reden.“ Manchmal werden die Wörter kürzer und die Stimme lauter. Die Mutter hat dabei ein ungutes Gefühl den Nachbarn gegenüber, deshalb unterlässt sie weitere Versuche der Kontaktaufnahme. Zum Glück klopft der Vater niemals an die Zimmertür. 

Das Kind kennt viele Leute und es unterhält sich sehr gerne. Das Kind erzählt nicht von den Tagen in der Schule, denn dort wo das Kind ist, ist es viel schöner. Es hört auch zu und antwortet ins Mikrophon hinein. Manchmal spricht es auch nur vor sich hin und die anderen hören zu. Es ist ein Austausch auf Augenhöhe. Das Kind sagt, es kennt keine Langeweile, denn dort, wo das Kind ist, gibt es immer was zu entdecken.

Das Kind liebt seinen Bildschirm und alles, was damit zusammenhängt. Nur manchmal scheint es technische Probleme zu geben. Einen Wackelkontakt, ein defektes Kabel oder ein Fehler im System. Das passiert zum Glück nur selten, aber es kommt vor. Das Kind ist dann erstmal völlig irritiert und handlungsunfähig. Es muss atmen und versuchen sich zu beruhigen. Es ist eine vollkommen schreckliche Situation. 

Es geht der Reihe nach alle möglichen Fehlerquellen durch. Es kriecht sogar auf dem Boden herum, um an die versteckten Kabel zu kommen. Es gibt sich größte Mühe die Funktionsfähigkeit wiederherzustellen. Das Kind ist drauf und dran das Problem zu beheben. Zwischendurch stößt es ein paar Schreie hervor. Es ist fast beängstigend, wie laut das Kind dabei ist. Mit Schweißperlen an Kopf und Hand übersät, gibt das Kind auf. Zwei, drei feste Schläge gegen den Bildschirmen und im Zimmer wird es mucksmäuschenstill.

Das Kind zieht entrüstet die Schuhe an und knallt die Wohnungstür hinter sich zu. Es stapft wortlos durch die Straße. Die Mutter ist noch nicht wieder da und der Vater natürlich auch nicht. So kann das Kind unbeobachtet die Straße verlassen. Das Kind streift durch die Siedlung. Es weiß nicht, was es machen soll. Hier und da wehen ein paar Vorhänge in den Fenstern. Es läuft vorbei an dem Sportplatz, der nur noch in ungeraden Kalenderwochen montags und donnerstags von 17.30 Uhr bis 19.45 Uhr geöffnet hat, vorbei an dem Spielplatz mit dem eingezäunten Klettergerüst, vorbei an dem Friedhof mit den offenen Grabstellen. Das Kind dreht seine Runde in der Siedlung. 

„Diese Stadt ist als Map eine Katastrophe“, sagt das Kind und verlässt die Siedlung. Runter vom Hügel und rauf auf den nächsten. Dem Kind schmerzt es schon ein wenig in den Beinen, so lange hat es sich nicht mehr richtig bewegt. Aber dem Kind ist das egal. Es muss weiter und es muss fort. Das Kind ist ab jetzt auf einer Quest. Es schnappt sich einen Stock vom Wegesrand und unterstützt damit seinen Gang.

Die Luft ist anders an diesem Tag. Vom Hügel herab kann das Kind auf die Stadt schauen, auf die drei, vier, fünf oder sechs brachliegenden Industrieanlagen, auf die Bundesstraße und den Fluss. Das Kind hat mit dieser Stadt rein gar nichts am Hut. Es dreht sich um, verlässt den Weg und klettert eine Böschung hinauf. Dort ist es sicher, von dort kann es weitergehen. 

Das Kind kraxelt durchs Unterholz. Endlich kann es alle antrainierten Skills anwenden. Die Tagesmission ist klar: bloß niemandem begegnen, bloß keine falschen Fährten legen, unerkannt bleiben. Nach etlichen Steigungen kommt das Kind zu einer Wanderhütte. Es setzt sich für einen Moment hin. Luft holen, Ruhe bewahren. Neben dem Mülleimer findet das Kind ein Feuerzeug. Drei, vier Mal muss es am Rädchen drehen, bis ein Funke entspringt. „So“, denkt sich das Kind. 

Es schließt die Hand fest um das Feuerzeug. Ein Item, das noch gefehlt hat. 

Der Wald ist trocken, obwohl noch nicht einmal Hochsommer ist. Der Wald ist fast das Schönste hier. Der Wald stirbt, denkt auch das Kind. Der Wald ist eigentlich schon tot. Was soll schon passieren. Das Kind dreht und dreht weiter am Rädchen. Es dreht und dreht. Es dreht mit aller Kraft, die es hat. Es dreht immer weiter und weiter und wartet bis zur Dämmerung. Das Kind will eigentlich nichts böses, aber das Kind will auch nichts zurücklassen. Das Kind will, dass es einmal in der Nacht richtig hell ist. 

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