2. Spione

Genau genommen war es keine Bombe, sondern eine Mine, und ihr Ziel war der Staudamm am Möhnesee. Die Briten zerstörten den Damm 1943 in der Hoffnung, mit den Wassermassen die regionale Schwerindustrie zu treffen und die Nazis aufzuhalten. Die Industrieanlagen blieben verschont, aber die gigantischen Wassermassen rissen die Baracken mit hunderten eingeschlossener Ostarbeiterinnen ins absolute, totale und gnadenlose Nichts. Die meisten dieser armen Frauen waren Ukrainerinnen, obwohl auf den Betontafeln, die die „Befreier“ später auf den örtlichen Friedhöfen anbrachten, auf Russisch steht: „Hier ruhen Arbeiter aus Russland und Polen“.

Gegen Ende der Perestroika veröffentlichte ein deutscher Historiker in der Zeitung „Prawda Ukrajiny“ einen Aufruf an Augenzeugen, sich zu melden. Es meldete sich Darija Moros aus Kamjanezk-Podilskyj. Sie konnte sich vor den herabstürzenden Wassermassen retten und nach dem Krieg sogar nach Hause zurückkehren. Darijas Erinnerungen fanden Aufnahme in einem Buch, das neben Souvenirs am Eingang des neu errichteten Staudamms verkauft wird – bereits wenige Monate nach dem Ereignis wurde der Damm nämlich – von anderen Ostarbeitern – wieder aufgebaut.

Die Souvenirverkäuferin teilt uns mit, der Historiker sei mittlerweile verstorben und das Buch werde nicht wieder aufgelegt. Es gebe nur noch ein paar Restexemplare. Ich blättere in einem, schaue mir eingehend die Schwarz-Weiß-Fotos der Ertrunkenen an, die nach der Katastrophe noch lange von den umliegenden Feldern gesammelt wurden, ihre bläulichen Lippen, die Pflanzenfasern, die sich in ihren Haaren verfangen hatten – und lege das Buch zurück. Wo soll ich denn diese Geschichte, diesen Schmerz noch unterbringen, wenn noch der kleinste Winkel überfüllt ist?

Der Möhnesee wird täglich von Tausenden Touristen besucht. Wolfgang, seine Frau Monika und ich gehören heute dazu, aber wir sind nicht als Ausflügler gekommen, sondern eher als Kundschafter, Spione, denn wir wollen das aufspüren, was die Zeit sorgsam verborgen und bereinigt hat. Uns geht es nicht um die äußerliche Schönheit, sondern um das hässliche Innere, zu dem man in den nach den zerstörerischen Bombardierungen von den Alliierten restaurierten und wieder aufgebauten Städten im Sauerland kaum noch vordringt.  Die auf einem Felsen mitten im Wald eingravierte Inschrift „RAD“ wird man eher als Zeichen für einen Radweg als einen Hinweis auf den Reichsarbeitsdienst verstehen.

Der Anteil der in der Industrie erwirtschafteten Einkommen ist in der Region weiterhin einer der höchsten in ganz Deutschland. Hier und da schauen wundersame Fabrik- und Gewerbelabyrinthe aus den Nadelwäldern hervor, dort werden Dinge produziert, die ich auf Deutsch gar nicht aussprechen kann. Wolfgang übrigens auch nicht.

Wenn wir irgendwohin kommen, wie zum Beispiel nach Meschede, frage ich, ob die Stadt zerstört wurde. Das ist immer meine erste Frage, die ich den Deutschen stelle. Fast vollständig, sagt Wolfgang. Wie auch Neheim. Marsberg dagegen blieb verschont, weil es hier keine militärischen Objekte, sondern nur Kirchen gab.

Wolfgang weiß über alles Bescheid, angefangen beim Dreißigjährigen Krieg. Er hatte das Glück, dort bleiben zu können, woher seine Familie stammt. Als Nachfahrin einer vielmals entwurzelten Familie, die ich in einer Ödnis aufgewachsen bin, in der man zuvor andere entwurzelt und vernichtet hatte, beneide ich meinen Begleiter und bin zugleich fasziniert von seiner leidenschaftlichen Heimatkunde. Sein Augenmerk liegt auf den schmucken Fachwerkhäusern, von denen eins dem anderen gleicht. Er steht da, erfreut sich daran, kennt die Eigentümer, weiß, wie teuer die Rekonstruktion war. Wenn du jemanden siehst, der etwas liebt, verliebst du dich auch. Ich stehe also auch da und erfreue mich. In einem Haus ist jetzt ein Bekleidungsgeschäft. Dort kostet eine Damenhose 200 Euro.

Aus dem Ukrainischen von Claudia Dathe

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