Das Foto zeigt das Einkaufszentrum Aquis-Plaza von Außen

Morgens im modernen Schlaraffenland

Der Höhepunkt der Woche in Aachen war die Einweihung des Aquis Plaza. Selbstverständlich wollte ich mir die Sogwirkung der Eröffnungszeremonie aus nächster Nähe ansehen. Eröffnungszeremonie? Naja, dem wirklichen Paukenschlag hat Saturn einen Strich durch die Rechnung gemacht. Es ist eben keine wahre 8-Uhr-Eröffnung, wenn die Menschen schon seit 6 Uhr durch den Hintereingang am Kaiserplatz ins Gebäude strömen. Mir kamen also schon viele tapfere Familienväter mit großen staubsaugerbefüllten Tüten entgegen, da war das Aquis Plaza noch nicht mal in Sichtweite. Gibt es die umsonst als Symbol der Sogwirkung des neuen Einkaufsversprechens, frage ich mich. Auf Facebook hatte man schon gemunkelt, dass es in allen Läden 50 Prozent gebe und dass Saturn früher aufmachen würde. Ist wohl wahr, denke ich. Trotzdem – oder komischerweise – wird dann vor dem Kugelbrunnen doch noch eine Eröffnungsszene abgehalten. Das Bild der auf den Eingang zuströmenden losgelassenen Massen muss für die Nachwelt festgehalten werden – findet sich sonst auch bei Teenie-Anstürmen auf Konzerthallen. Ein weiteres, mittlerweile zum gängigen Marketing gehöriges Bild ermöglicht der Hintereingang am Kaiserplatz: Dort wird die Apple-Jünger-warten-auf-ihr-neues-i-phone-Schlange aufgeführt. Auch hier fragt man sich, warum der Einlass ausgerechnet um 8 Uhr stoppt und sich eine Schlange bis in die Adalbertstraße bildet. Komisch auch hier, dass währenddessen aus der linken Tür immer wieder Saturntütenträger strömen. So viel sei gesagt, zehn nach acht war dort keine Schlange mehr und um 8.40 Uhr benötigte man auch kein Absperrband mehr. Aber gut, ich bin absolut der Meinung, dass solche Ereignisse sowohl einer Choreographie als auch einen Hauch der Inszenierung bedürfen. Wo kämen wir denn ohne Emotionen hin? Vielleicht hat auch das frühe Öffnen des Elektroriesen den absoluten Verkehrszusammenbruch verhindert.

Emotional – nahe des Nervenzusammenbruchs – ging es bei Snipes im Gebäudeinneren zu. Denn dort knäuelten sich die 12- bis 18-jährigen Schüler in einer für sie frustrierenden erneuten Wartezone. Für die neuesten Air-Max- oder Stan-Smith-Sneaker schafft der Streetwear-Seller es in den letzten Jahren immer wieder, lange Schlangen in Innenstädte zu zaubern. So auch im Aquis Plaza. Kluges virales Marketing? Oder einfach eine leicht zu begeisternde und beeindruckende Zielgruppe – siehe Tennie-Anstürme auf Konzerthallen? Vielleicht haben die Saturn-Staubsauger-Väter ihre Zöglinge um 6 Uhr vor dem Haupteingang platziert, sind dann klammheimlich durch den Hintereingang in den Saturn und warteten dann vollbepackt darauf, sie zur zweiten Stunde in die Schule zu fahren. Daraus wird wohl nichts bei dem Andrang, denke ich. Die Aachener Schulen dürften an dem Morgen eine Kopfschmerzen-, Übelkeit- und Kurzgrippe-Epidemie erlebt haben. Dass Saturn und Snipes in Sachen Marketing so viel gemeinsam haben, hätte ich bis zu diesem Morgen auch nicht angenommen. Aber beide verstehen ihre Zielgruppe bestens und wissen, welche Knöpfe zu drücken sind. „Sie hätten mal um 6 Uhr heute Morgen hier sein sollen. Da war richtig viel los. Dagegen ist es jetzt ruhig!“, sagt die Verkäuferin im Saturn. „Die Kunden standen seit 5 Uhr vor dem Eingang.“

Kürzlich war ich im Kloster Steinfeld. Das Kloster zählt fast dieselbe Geschossfläche wie das Aquis Plaza mit 29.000 Quadratmetern. Im Kloster arbeiten etwa 20 Menschen, hier immerhin 750. Jetzt könnte ich in diesem Zusammenhang das Wort „Konsumtempel“ fallen lassen. Das hatte ich mir für diesen Beitrag vorgenommen, obwohl ich dieses Wort als Synonym für Einkaufszentrum nicht mag. Denn der Konsumtempel ist mehr: „War das mittelalterliche Schlaraffenland Ausdruck des natürlichen Bauernparadieses, so entspricht der moderne Konsumtempel dem künstlichen Paradies des modernen Stadtmenschen“, schreibt die Philosophin Madalina Diaconu. Beide Utopien seien dabei Orte des Überflusses und des Nichtstuns. Im Schlaraffenland spendet die Natur dauerhaft alle Gaben. Im Konsumtempel sind die Waren dauerhaft vorhanden und ihre Herkunft versteckt sich hinter den Etiketten und Labels. Eine Produktion findet in beiden Welten nicht statt. Der Megastore schließt die Außenwelt, die oftmals hässlichen Produktionsbedingungen und deren Wertschöpfung, absichtlich aus. Diaconu weist sogar darauf hin, dass sich die Welt des Großkaufhauses die Mechanismen der Schenkung im schlaraffischen Sinne erhalten hat: „Nimm drei, zahle zwei!“ oder „Zwei zum Preis von einem!“ und „das als feierliche Belagerung inszenierte Spektakel der Eröffnungspreise“ ebenso die schlaraffischen-psychischen Strukturen des Konsumenten zu entfesseln vermag. Die Saturntütenträger, Snipes-Sneaker-Schüler und all die Eröffnungsprozentejäger, die am Mittwoch als erste an der Kasse stehen wollten, bestätigen diese These.

Karl Lagerfeld sagte einmal: „Man muss das Geld zum Fenster rausschmeißen, damit es zur Türe wieder hereinkommt.“ Dem würde ich zwar nicht uneingeschränkt beipflichten, aber im Kern hat er Recht. Denn ohne Handel und Konsum gibt es keinen Aufstieg. Das wird man auch am Aquis Plaza sehen können. Das Geld, das dort investiert wurde, erzeugt große Besucherströme, die es bald wieder zurückbringen. Dass das Stadtbild und der Einzelhandel darunter leiden werden, steht außer Frage, denke ich. Klar, wird das der Fall sein. Klar auch, dass nun Lücken entstehen rund um das Einkaufszentrum. Alles andere anzunehmen, wäre völlig naiv. Aber Lücken müssen ja nicht mit Wettbüros und Ein-Euro-Läden geschlossen werden. Aachen hat aus meiner Sicht bessere Voraussetzungen als manch andere Stadt mit einer solchen gigantischen Shopping-Halle. Aachen hat die Altstadt und muss nun eben eine Brücke zwischen dem Shopping-Erlebnis, den touristischen Anziehungspunkten und dem Einzelhandel bauen. Wenn das gelingt, werden am Ende alle vom Neuen profitieren. Dann wird daraus Fortschritt und eine ganzheitliche Erfolgsgeschichte. Die Aufgabe ist groß, aber die Chance eben auch.

Als jemand, der aus dem wirtschaftlich gebeutelten Bochum kommt, das in diesem Jahr das ehemalige Opel-Werk abreißen musste – eine von vielen Werksstilllegungen in den letzten Jahrzehnten – kann ich solche Entwicklungen wie hier das Aquis Plaza nur einigermaßen unkritisch sehen, wenngleich auch ich weiß, es ist nicht alles Gold, was glänzt.

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