Ich hatte Angst vor der Hölle

Ich habe in den 90er Jahren in einer christlichen Versandbuchhandlung in Wuppertal gearbeitet und dabei den Begriff „christliche Nächstenliebe“ in einer ganz neuen Dimension kennen gelernt.

Rolf Urspruch

Vor dem Treffen mit Rolf Urspruch habe ich mich ein wenig gefürchtet. Nach seiner ersten Mail an mich war klar, da würde einer erzählen, wie zerstörerisch Arbeit für Menschen sein kann. Und, das war mein erstes Gefühl, da war noch etwas, das darüber hinaus ging.

Wir treffen uns am Hans-Dietrich-Genscher-Platz am Bahnhof Barmen, Rolf Urspruch ist pünktlich, ein eher scheuer, zurückhaltender Mensch, der aber umso entschlossener wirkt. Er rollt das R und vielleicht ist er mir deshalb gleich sympathisch.

Keine 1.700 DM habe er verdient, als er Anfang der 1990er Jahre in der christlichen Versandbuchhandlung Verlag und Schriftenmission eine Vollzeitstelle antrat. Das wären heute nicht einmal sechs Euro die Stunde.
Ich hatte damals keine Ahnung, sagt Rolf Urspruch, dass das Ausbeutung ist, über Gehalt hat man einfach nicht gesprochen, auch unter den Kollegen nicht.

Wir spazieren Richtung Barmer Anlagen, die ehemalige Trasse der Barmer Bergbahn entlang. Früher, erzählt Rolf Urspruch, sind die Familien am Wochenende und an Feiertagen mit der Bahn zum Toellerturm hoch. Da war immer was los. 1959 wurde sie leider wegen Unwirtschaftlichkeit geschlossen.

Die Sache in der christlichen Versandbuchhandlung fing gleich mit einem großen Hindernis an. Ein Teil meiner Tätigkeit bestand darin, Büchersendungen zu kontrollieren und dazu musste ich natürlich sitzen. Es gab aber keinen Stuhl zum Schreibtisch. Als mein Chef morgens reinkam, fragte ich ihn, ob er mir nicht einen Stuhl besorgen will. Aber das hat er abgelehnt: Sie bekommen keinen Stuhl. Und da hat meine Kollegin Martina mir etwas Gutes getan und aus ihrem Elternhaus einen Drehstuhl geholt.

Ich war sehr ängstlich damals

Dieser Stuhl, sagt Rolf Urspruch, während wir tapfer den Berg hochlaufen, war dann hart umkämpft. Komischerweise nur mein Stuhl, nie der Stuhl der Kolleginnen. Seitdem er da stand, wurde er von unseren Kunden mitgenutzt. Das waren Leute aus anderen Gemeinden, die Kommissionsware zurückbrachten und neue Bücher aussuchten. Die waren offensichtlich der Meinung, dass ich keine Berechtigung hatte, auf diesem Stuhl zu sitzen, da standen also ständig dreckige Bücherkartons darauf oder Mäntel oder Jacken lagen auf der Lehne, kaum war ich nur mal kurz weg. Manche setzten sich auch einfach und standen nicht mehr auf, selbst wenn ich direkt daneben stand. Und ich habe mich nicht getraut, denjenigen zu bitten, aufzustehen. Ich hatte Angst, der bleibt sitzen, der weigert sich und was mache ich dann? Das ist dann ja noch demütigender.

Auf den Aufnahmen höre ich, dass wir immer noch bergauf gehen. Ich sage nichts. Die Verletzung von damals ist bis heute in Rolf Urspruchs Stimme zu hören.

Seit ich sechs Jahre alt bin, zumindest kann ich mich solange zurück erinnern, war ich schwer depressiv. Bis vor zwei Jahren. Ich hatte Angstzustände, Angst vor Menschen, Angst vorm Leben, Angst vor der Hölle. Also sehr stark von meiner christlichen Erziehung beeinflusst. Und deshalb konnte ich auch nicht soweit denken, dass ich vielleicht zu wenig Gehalt bekam.

Ich war sehr ängstlich damals, sagt Rolf Urspruch, ich habe nur die Kartons genommen und in eine Ecke gestellt, wo sie niemanden störten. Und wenn ich dann wieder aufstand und an meinen Platz kam, stand wieder alles voll.
Einmal, erzählt er, war ein Ehepaar aus Leverkusen da, schon etwas älter, wieder stand der Karton auf meinem Platz, wieder stelle ich den Karton an eine andere Stelle, und da sagte der Mann zu mir, du kannst froh sein, dass du hier arbeiten darfst.

Der Vorwurf lautete auf Hurerei

Hier war mal ein Planetarium, sagt Rolf Urspruch. Es wurde im Krieg beim Fliegerangriff auf Barmen zerstört und leider nicht wieder aufgebaut. Bekannte von ihm, erzählt er, die damals Kinder waren, hätten sich in die Wupper geschmissen, um den Flammen zu entgehen, und dort in den Fluten haben sie sich kennengelernt und später geheiratet.

Seinem Arbeitgeber, der Stadtmission, gehörte auch ein Altenheim in der Nähe von Siegen, der Leiter hatte eine Mitarbeiterin, die mit ihrem Freund ohne Trauschein zusammenlebte.
Und das wurde ihr ständig vorgeworfen, der Vorwurf lautete auf Hurerei. Er muss die ziemlich terrorisiert werden. Wenn diese Menschen bei anderen Sünde feststellen, können sie wirklich zudringlich werden, sagt Rolf Urspruch, und er sagt es so, dass man die Zudringlichkeit förmlich spüren kann.
Was hat Sie denn an der Stelle interessiert, warum wollten Sie dort arbeiten, frage ich.
Ich war froh, dass ich etwas gekriegt hatte, ich wollte unbedingt eine Stelle haben. Vom Arbeitsamt wurde mir eine Ausbildung zum Bürokaufmann vorgeschlagen, in einem Ausbildungszentrum, aber mir ging es psychisch ganz schlecht und ich wusste, das halte ich nicht durch. Und zur selben Zeit hatte ich auch meine Freundin kennengelernt, die in Wuppertal lebte und mit der ich dann 27 Jahre lang zusammen war. So gesehen war es die richtige Entscheidung, ebenfalls nach Wuppertal zu ziehen.

Bei Gott entschuldigen für jeden Mist

Als Kind hatte ich das Pech, ich musste in die Sonntagsschule der Brüdergemeinde gehen, und da ging es viel um die Hölle. Ich hatte unheimlich viel Angst vor der Hölle, mein ganzes Leben lang, ich war mir sicher, dass ich in die Hölle kommen würde und habe angefangen, religiöse Zwänge zu entwickeln. Zum Beispiel, ich muss mich dauernd bei Gott entschuldigen, wegen jedem Mist. Wenn mir der Deckel vom Mülleimer runterknallte, musste ich mich bei Gott entschuldigen. Und wenn ich heil über die Straße gekommen bin, musste ich mich sofort bei Gott bedanken.

An Wuppertal liebt er die Industriearchitektur und vor allem liebt er die Schwebebahn. Besonders im Stadtteil Vohwinkel, das bis heute von der Konstruktion der überirdischen Bahngleise dominiert wird. Er selbst kommt vom Dorf, in der Nähe von Marburg in Hessen, die Gegend ist ländlich und auch stark religiös geprägt, viele Freikirchen gibt es dort, ähnlich wie im Bergischen Land.

Rolf Urspruch vor der Schwebebahn in Wuppertal

Allerdings hatte ich auch Angst vor Menschen, vor allem vor Männern. Und das wussten die in meiner Arbeitsstelle. Zum Beispiel mein Chef, der war ein erfahrener Mann mit viel Menschenkenntnis, als Missionsinspekteur bereiste er die ganze Welt und guckte sich die Arbeit der Missionare an; er war zuständig, wenn es Konflikte gab. Der konnte Menschen gut einschätzen und er hat sofort gesehen, dass ich mich nicht wehren konnte. Schon beim Bewerbungsgespräch hat er gemerkt, wie konfliktscheu und ängstlich ich war, sonst hätte er mir nie diesen schlecht bezahlten Job hingeknallt.

Die Sache mit der Schokolade

Was waren denn Ihre Aufgaben?
Wareneingang und Warenkontrolle und einfache Werbetätigkeit, Zettel falten und Sachen tackern, das war es in der Hauptsache.
Konnten Sie denn von dem Gehalt leben?
Ich hatte keine Gehaltsvorstellungen, aber ich habe schon bald gemerkt, ich komme nicht richtig aus mit dem Geld. Die Kollegen konnten sich ein Auto leisten und jedes Jahr in den Urlaub fahren. Ich dagegen bin immer zu meinen Eltern nach Hessen gefahren und mein Vater hat mir 100 Mark gegeben, damit ich die Fahrtkosten bezahlen konnte. Ich habe aber daraus geschlossen, dass ich eben nicht so gut mit Geld umgehen kann wie die anderen.

Eine andere Sache, sagt Rolf Urspruch, war die Sache mit der Schokolade. Auf meinem Platz stand immer eine Schale mit Schokolade. Die Leute mussten über meinen Kopf hinweggreifen, über meine Schulter hinweg, um an die Schokolade zu kommen. Dass ich da saß, war ihnen egal, fast so, als wäre ich gar nicht da.
Heute würde man das Mikroaggressionen nennen, denke ich, eine Aggression, die als solche nachzuweisen gar nicht so einfach ist, weil sie so harmlos daher kommt. Aus vielen kleinen Mikroaggressionen entsteht ein Dauerbeschuss, dem das Opfer kontinuierlich ausgesetzt ist.
Ich habe dann angefangen, selbst Schokolade zu essen. Ich war also ziemlich beleibt. Und auf einmal hing da eine Karte an unserer Pinnwand, auf der war eine ziemlich beleibte Person abgebildet. Man ist, was man isst, stand da drauf.
Damit war ich natürlich gemeint, sagt Rolf Urspruch. Er lacht. Das war ziemlich gemein.
Waren die froh, dass sie ein Opfer hatten in Ihnen?, frage ich.
Ja, meint er, das kann schon sein.

Haben Sie Angst vor Hunden?

Wir kommen an einem Kriegerdenkmal vorbei, hier liegen die Helden aus dem ersten Weltkrieg begraben, erklärt uns ein Schild, und Rolf Urspruch erzählt von Gerda, der Sekretärin des Chefs, die sehr tüchtig war und sehr viele Überstunden machte. Sie war allerdings ein bisschen labil. Sie war von meinem Chef abhängig, der hieß Becker, und meine Kollegin Martina sagte, wenn die mal einen neuen Chef kriegt, das kann die nicht. Die kann nur mit dem Becker zusammenarbeiten. Und das, sagt Rolf Urspruch, hat der Becker ausgenutzt. Er hat sie oft bis aufs Blut geärgert, solange, bis die Gerda ausgerastet ist. Und der Becker saß dann da und hat das richtig genossen.
Wie hat er das denn gemacht?
Ach, der war sehr kreativ, der wusste, wie man Menschen verletzen kann. Aber die Gerda nannte ihn immer liebevoll das Beckerle, das sagt ja viel aus. Als der Chef dann die Position aufgegeben und nur noch in der Missionsgesellschaft in Neukirchen gearbeitet hat, ist die Gerda ihm hinterhergezogen.
Er ist früh gestorben, sagt Rolf Urpruch, und was aus der Gerda geworden ist, weiß ich nicht.

Blick von den Barmer Anlage auf die Stadt Wuppertal

Wir sind nun oben angekommen auf dem Barmer Berg und schauen hoch zum Toellerturm, bevor wir zurück zum Bahnhof gehen. Ein Hund steht vor uns und schaut uns boshaft an.
Haben Sie Angst vor Hunden?, fragt Rolf Urspruch, vor manchen schon, sage ich, ich mag jedenfalls nicht, wenn sie mich beißen. Gerade die kleinen schnappen ja gerne mal.
Genau, sagt Rolf Urspruch, die Wadenbeißer, das sind die schlimmsten. Der Hund geht zum Glück zu seinem Frauchen zurück, sie nimmt ihn an die Leine.

Rolf Urspruch hat sich viele kleine Begebenheiten aus einem Arbeitsleben gemerkt, manche davon sogar aufgeschrieben. Meine Kolleginnen und mein Chef waren Mitglieder der Evangelischen Gesellschaft für Deutschland, Radevormwald. Ich gehörte nicht dazu, sagt er, weil ich von einer anderen Landesgemeinde kam. Und wer nicht dazugehört, läuft Gefahr, gemobbt zu werden.

Die nehmen mich nicht für voll

Wir unterhalten uns über die Frage, warum man es trotz schlechter Behandlung nicht schafft zu gehen. Ich denke an die Geschichte mit Gerda; vielleicht, weil man irgendwann kein Selbstwertgefühl mehr hat, schlage ich vor, weil man denkt, man kann es allein gar nicht schaffen? Ja, vielleicht stimmt das sogar, sagt Rolf Urspruch. Ich kam zu dem Schluss, das läuft überall so ab, ich kann mich nicht wehren und werde zum Spielball der anderen. Die nehmen mich einfach nicht für voll.

Nach neun Jahren schafft er es schlussendlich doch zu kündigen, aber ich war am Boden, sagt er.
Kurz danach hat der Laden übrigens pleite gemacht, erzählt Rolf Urspruch. Die hatten ja niemanden mehr, der die stupide Arbeit machte.

Erst als er vor zwei Jahren in das Pflegeheim gezogen ist, in dem er jetzt wohnt, ist plötzlich etwas mit ihm geschehen.
Die sind alle so engagiert da, sagt er. Die lieben dort alte Leute! Und da habe ich plötzlich meine Angst verloren. Er denkt viel über sein Leben nach und warum seine Eltern ihm nichts beigebracht haben. Schade, dass ich keine Kinder habe. Er würde gerne nochmal von vorne anfangen.

Wir trinken noch einen Kaffee, es ist ein warmer Tag im Juni, wir sitzen draußen. Rolf Urspruch möchte, dass ich seinen richtigen Namen veröffentliche. Es musste alles mal gesagt werden. Ein Foto machen wir auch noch. Vor der Konstruktion der schönen Schwebebahn, die ein paar Meter über uns vorbeislidet, Richtung Vohwinkel.

Weiterführende Links zur Straße der Arbeit

Spaziergang vom Bahnhof Barmen durch die Barmer Anlagen
Übersichtskarte (Sauerländischer Gebirgsverein, Bergisches Land)

Mehr von Ulrike Anna Bleier

Der Wald hängt voller Spiegel

Ratingen-Cromford liegt definitiv nicht an der Straße der Arbeit. Dennoch treffe ich mich mit Thyra im Café der ehemaligen Textilfabrik – die nicht irgendeine Fabrik war, sondern die erste industrielle Fabrik auf europäischem Festland. Gebaut hat sie bereits 1783 ein gewisser Gottfried Brügelmann, der sich die Konstruktionspläne für die industrielle Verarbeitung von Baumwollgarn nicht ohne ein beträchtliches Ausmaß krimineller Energie beschafft hatte, nämlich durch Industriespionage. Immerhin hat er seine Fabrik nach dem britischen Vorbild in Cromford benannt und einen vollendeten englischen Landschaftspark um das Gelände bauen lassen.

Thyra ist schon da und bestellt gerade einen Kaffee.
Frau Holst, sagt die Kellnerin, wie schön, dass Sie mal wieder vorbeischauen.

Dabei ist es schon 16 Jahre her, dass Thyra hier gearbeitet hat – natürlich nicht in der Textilfabrik, sondern für den Landschaftsverband (LVR), der in der ehemaligen Produktionshalle mit angrenzendem Herrenhaus ein Industriemuseum betreibt.

Es ist eine seltsame Geschichte, sagt Thyra, dass ich damals hier gelandet bin. Denn eigentlich bin ich Tanzlehrerin.

Das war ein Knochenjob

Wir brechen auf und laufen Richtung Anger, wo mich Thyra auf die Wiesen hinweist, auf denen früher das Tuch ausgelegt und gebleicht wurde.

Hier wurde das Tuch auf den Bleichwiesen der Anger getrocknet

Das war ein Knochenjob, sagt Thyra. Hinter den Wiesen überqueren wir den Fluss und laufen auf ein herrschaftliches Anwesen zu. Es heißt Haus zum Haus.
Keine Ahnung, was das ist, auf jeden Fall ein staatstragender Name, sagt Thyra und lacht und ihr Lachen hört sich glücklich an, diese Art von Glück, die keinen Grund braucht.
Ich habe hier ja nur drei Jahre gewohnt; und davor war sie in Gummersbach, wo sie ihre erste Anstellung bekommen hat, in einer Ballettschule in Gummersbach, im Alten Rathaus.

Der Besitzer hatte das Rentenalter längst erreicht, aber wie Tänzer halt so sind, sagt Thyra, der hatte soviel Begeisterung für die Schule und für seine Kundschaft, der konnte gar nicht aufhören. Das war mein allererster Job. Meine Wohnung in Bergneustadt hat mir der Ballettschulenbesitzer besorgt.

Für unsere nächste Ballettschulenaufführung suchen wir Kinderspielzeug wie Roller oder Puppenwagen und außerdem suchen wir eine kleine Wohnung für unsere neue Mitarbeiterin.

350 Schülerinnen zwischen 3 und 80 Jahren hatte die Schule und jede bekam einen solchen Flyer in die Hand gedrückt. Eine Woche später hatte ich eine Wohnung. Er hat mich selbst hingefahren, mit seinem dicken Mercedes.

Der wusste über jeden Dackel Bescheid

Irgendwann, nach der Ich-weiß-nicht-wievielten Knieoperation, musste er die Ballettschule dann doch verkaufen, Tänzer haben eben meistens einen ziemlich kaputten Körper, sagt Thyra. Er war auch sehr groß, sogar größer als ich.
Thyra ist tatsächlich ziemlich groß, sicherlich über 1,80. Ich kann sie mir sehr gut als Tänzerin vorstellt, sie strahlt Disziplin und Leichtigkeit aus.
Der alte Besitzer war eine Institution in Gummersbach, der kannte Hans und Franz und wusste über jeden Dackel Bescheid, und wenn so jemand geht, geht eben auch die Kundenbindung in die Binsen.

Kostenfaktor Thyra

Der neue Besitzer wollte schließlich von mir wissen, warum denn so viele Leute die Schule verlassen. Der meinte offenbar, dass es an mir liegt.
An dir?
Ja, ich war die einzige Festangestellte und damit auch der Kostenfaktor schlechthin.

Wie war denn dein Tagesablauf?
Der Arbeitstag begann um 14 Uhr mit den Kleinen und das ging dann wie die Orgelpfeifen, weil die Älteren ja erst später aus der Schule kamen und am Abend waren die Erwachsenen dran. Und am nächsten Tag wieder um 14 Uhr angefangen. Bis abends um 20 Uhr.
Ganz schön viel, jeden Tag 6 Stunden unterrichten, sage ich (die nach jedem 1-Tages-Workshop zwei Wochen Urlaub braucht.)
Ja, das war wirklich viel.
Dann, eines Abends, ich wollte gerade nach dem Unterricht nach Hause gehen, ach Thyra, hieß es da, ich habe noch einen Brief für Sie, können Sie mir bitte den Empfang bestätigen, ja klar kann ich, sagte ich und quittiere den Brief und mache ihn auf und dann war das meine Kündigung.

Unterbezahlt für 23 Euro die Stunde

Im Nachhinein gesehen, war es aber gut, dass die mir damals in der Tanzschule gekündigt haben. Ich konnte nämlich, sagt Thyra, am Abend keinen Schritt mehr gehen vor Schmerzen. Ich habe das damals einfach akzeptiert und gedacht, meine Knie sind eben nicht die besten. Und erst, als ich dann arbeitslos war, habe ich gesehen, das geht auch anders! Das lag tatsächlich am vielen Stehen und am unaufgewärmten Tanzen.

Schön hier, oder? sagt Thyra. Und schau mal die Birke, die hier so einen 90 Gradwinkel macht.

Sieht ein bisschen aus wie ein Tänzerknie, oder?

Glücklicherweise habe ich ein Foto von der tanzenden Birke gemacht. Beim Abhören der Aufnahmen denke ich, dass es doch erstaunlich ist, wie sehr die Umgebung immer unsere Gespräche spiegelt und unsere Themen. Im Grunde, denke ich, hängt der Wald voller Spiegel, und in manche schauen wir hinein und in andere nicht.

Birke mit Tänzerknie

Danach habe ich erst einmal keinen neuen Job gefunden. Was auch daran lag, dass eine Festanstellung an einer Ballettschule extrem selten ist. Die meisten arbeiten als Honorarkräfte, wie das auch an der VHS üblich ist, wo man unterbezahlt für 23 Euro arbeitet. Brutto! Und das unternehmerische Risiko allein trägt.

Während sie arbeitslos war, hat Thyra sich künstlerisch engagieren können und das Musicalprojekt Oberberg mitgegründet. Nach einem Jahr Arbeitslosigkeit stolperte sie über eine Anzeige in der Zeitung, dass die Rheinland Kultur in Lindlar fürs Bergische Freilichtmuseum jemand suche, der bäuerliche Hauswirtschaft vorführt. Und da habe ich gedacht, naja, Kartoffeln kochen und Kräuterquark rühren, das kann ich.

Ich bin ganz überrascht, welche Trampelpfade deine App kennt, sagt Thyra, während wir durchs Gebüsch Richtung Stadtwald laufen.

Das war also mein Einstieg im Museum, sagt Thyra, und das ist ein total schöner Job, wenn man Natur mag. Ich habe gelernt, wie man auf einem Kohleofen kocht und das Holz hackt und das Anzündeholz abspaltet von den großen Brennklötzen. Ich habe Wildkräuter gelernt und Kühe melken und von der Milch Käse machen. Ich könnte auch auf einer Alm überleben, lacht Thyra. Der Hof Peters ist ein Bauernhof auf dem Stand der 1960er Jahre, und es ist natürlich viel anschaulicher für das Publikum, wenn da tatsächlich jemand wirtschaftet, wenn es da nach Essen riecht und im Herd das Feuer ist. Einen Bildschirm kann man immer montieren, aber das zu erleben, ist etwas ganz anderes.

Das Ding ist nur, sagt Thyra und lacht ihr Lachen, wenn ein Jahr vorüber ist, geht das ganze Programm wieder von vorne los. Und das fand ich … ein bisschen langweilig.

Die kann mehr als Ziegen melken

Im Freilichtmuseum hatte sie eine feste Stelle, vier Tage die Woche. Nach drei Jahren hat der LVR dann aber festgestellt, oh, Freilichtmuseum ist eine gute Sache, nur, im Winter ist da ja weniger los. Das müssen wir mal optimieren. (Es war die Zeit der großen Arbeitsoptimierung). Der LVR hatte damals regionale Kultur, Gesundheit und Straßenbau. An der Kultur wird natürlich als erstes gespart. Den Straßenbau haben sie an die spätere Straßen.NRW abgegeben, die sitzen auch in Gummersbach, hinterm Steinmüller.

Der LVR hat also Saisonbetrieb eingeführt, was eben bedeutete, dass ich die Hälfte des Jahres arbeitslos sein würde, und an dieser Stelle werden wir beinahe von Mountainbikern überfahren, deren Strecke über unseren Pfad verläuft.

Ratingen Stadtpark

Ich war allerdings vorher schon in der Zentrale aufgefallen. Vor allem dadurch, dass ich hartnäckig nachfragte, wie das Alternativkonzept aussieht, da ich ja meine Miete bezahlen muss. So bekam ich eine Aufgabe in der Zentrale in Brauweiler und konnte zeigen, dass ich organisatorisch und konzeptionell gut bin.

Damals hat der Landschaftsverband das Projekt Musik in den Klöstern initiiert. Und der Kollege, der das machen sollte, der war sehr gut in Marketing und Kommunikation. Aber nicht in Fleißarbeit. Die hat er an mich weitergegeben. Dann habe ich noch ein paar Vorschläge gemacht und ein paar Fragen gestellt, und dann war klar, die kann mehr als Ziegen melken. Tatsächlich bin ich dann nicht mehr zurück ins Freilichtmuseum, sondern nach Ratingen-Cromfort. Als Kassenleitung.

Plötzlich Führungskraft

An meiner Reaktion in den Aufnahmen wird klar, dass ich keine Ahnung habe, was eine Kassenleitung ist. Man verantwortet den Kassenbetrieb, schreibt die Dienstpläne und führt das Team, erklärt Thyra.

Meine Einstellung war vor allem auch der Tatsache geschuldet, dass ein elektronisches Kassensystem eingeführt werden sollte. Bis dahin ging beim LVR die Buchhaltung zu Fuß, sagt Thyra, und wie aufs Stichwort höre ich in den Aufnahmen ein Flugzeug auf seinem Anflug zum Düsseldorfer Flughafen, der nur 8 Kilometer entfernt liegt. Und – ganz revolutionär – sagt Thyra, wir fingen sogar an, E-Mails zu schreiben! Das war 2003. Vom Ziegen melken direktemang in die Digitalisierung.

Dann ging es Schlag auf Schlag mit der Karriere. Nach 3 Jahren Kassenleitung in Cromford wurde ihr die übergreifende Objektleitung aller damals sechs LVR-Industriemuseen angeboten.
Und auf einmal war ich Führungskraft mit 80 Mitarbeitern, sagt Thyra und lacht, noch immer überrascht von diesem gewaltigen Karrieresprung. Das Coole daran war, dass ich alles ja selbst schon einmal gemacht hatte, das hat mir sehr geholfen.

Wir bleiben stehen und sagen tolles Bild, nur weiß ich leider nicht mehr, was wir in diesem Moment bewundert haben.

Wahrscheinlich haben wir dieses Mohnblumenfeld gesehen

Später hat Thyra die Hälfte der Museen abgegeben und sich museumsübergreifenden Themen gewidmete, das bedeutete Projektarbeit. Man gab mir ein Buch und sagte, lesen Sie dieses Buch. Da steht alles drin über Projektmanagement. Ich dachte, ok, ich habe zwar nicht alles verstanden, aber probieren wir es einfach mal. Schritt für Schritt. Wie im Tanzunterricht.

Sag mal ein Beispiel, bitte ich sie. Zum Beispiel, sagt sie, wie planen und erfassen wir die Arbeitszeit der Mitarbeitenden? Bis dahin gab es handschriftliche Dienstpläne und Stundenzettel. Das ist aber old school und fehleranfällig, deshalb haben wir auf Software mit elektronischer Stempeluhr umgestellt. Ein riesiger Aufwand war das.

Wir stehen an einer Ampel gegenüber einem Haus. Auf einem Schild ist ein Hund abgebildet, der als Warnung gelten soll. Zu unserer Verblüffung steht genau dieser Hund plötzlich direkt neben uns, in echt. Ist das derselbe Hund, der hier abgebildet ist, frage ich die Besitzerin und deute auf das Schild. Nee, nicht ganz derselbe, lacht sie. Aber das ist wirklich meine Küche, sagt die Frau und deutet auf das Küchenfenster neben dem Schild.

Die kleinste Abteilung der Welt

Die Ampel springt auf grün.

Inzwischen, sagt Thyra, bin ich seit 23 Jahren bei der Rheinland Kultur.
Und seit die neue Chefin da ist und den Bereich umstrukturiert hat, hat Thyra sogar ihre eigene Abteilung bekommen. Am Stammsitz in Brauweiler leitet sie „die kleinste Abteilung der Welt.“
Endlich bin ich da angekommen, wo ich selbst gestalten kann. Wir machen museumsübergreifende Projekte. Die nächste Arbeitsbesprechung am Montag wird übrigens eine Arbeitswanderung sein!, sagt Thyra. Hoffentlich hält das Wetter!

Die Frau mit dem Hund überholt uns und wünscht uns ein schönes Wochenende. Wir wünschen zurück.

Findest du, dass es überhaupt Führung und Leitung geben muss?, frage ich Thyra, während ich meine Jacke anziehe, die Sonne ist weg und Wolken türmen sich auf.

Das ist eine gute Frage. Ich glaube, gesellschaftlich stehen wir an dem Punkt, dass wir schon noch jemand brauchen, der den Hut aufhat. Aber das heißt ja nicht, dass es nicht vielleicht auch eine Entwicklung geben könnte, die das eines Tages überflüssig macht. Wenn man die Historie anschaut, könnte das schon eine logische Weiterentwicklung sein.

Zurück in Cromford essen wir im Museumscafé einen unfassbar guten Käsekuchen, der noch ganz warm ist.
Du musst dir unbedingt das Museum anschauen und das Herrenhaus, sagt Thyra.
Zu jeder vollen Stunde wird das Mühlenrad in Bewegung gesetzt und man kann den berühmten Waterframes zuschauen, wie sie ihre Arbeit tun.
Und das mache ich auch.

Weiterführende Links zur Straße der Arbeit

Rundwanderung von Ratingen Cromford zum Blauen See
Übersichtskarte (Sauerländischer Gebirgsverein, Bergisches Land)

Mehr von Ulrike Anna Bleier

Die Tafeln finde ich schrecklich

Trotz Wind kannst du mich hören, ist das erste, was Thomas in mein Mikro spricht. Es ist selten, dass der erste gesprochene Satz auch der Satz ist, mit dem der Text beginnen wird. Aber das wusste ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht.

Wir sind hier übrigens im Deilbachtal, sagt Thomas. Er kennt das Deilbachtal sein Leben lang, weil seine Eltern hier als frisch Verliebte schon spazieren gegangen sind, eine dieser Geschichten, mit denen man als Kind aufwächst. Thomas stammt aus Ronsdorf, ich sage Ro:nsdorf, Rоnnsdorf heißt es, mit kurzem o, sagt Thomas, aber er sagte es nicht so patzig, wie der Satz vermuten lässt. Er sagt es so freundlich-sachlich, als würde er sich selbst verbessern. Heißt es eigentlich auch Remscheid-Honnsberg, frage ich, aber da, erklärt Thomas, sagt man komischerweise Ho:nsberg.

Wir laufen jetzt ins Ruhrgebiet, aber du wirst es nicht merken.

Hier war einmal die Deilbacher Mühle. Thomas deutet auf ein verfallenes Grundstück, das Reste eines Gebäudes erkennen lässt. Das hat dann ein Investor gekauft und schwupp, ist es abgebrannt. Es war wirklich ein sehr schönes Lokal und hier hinten, man sieht das heute nicht mehr, war ein kleiner Teich mit Bötchen drauf, da sind wir mit meinen Eltern öfter am Wochenende gewesen. Was der Käufer offenbar nicht wusste: dass das hier Landschaftsschutzgebiet ist. Was bedeutet, man darf zwar Bestehendes erhalten, darf aber nicht neu bauen. Seitdem steht Thomas‘ Kindheitserinnerung als trauriges Gerippe in der Landschaft.

Wir kommen am wunderbar gelegenen Hotel Pax vorbei, in dem vor allem Monteure untergebracht sind. Da könnte auch ein schönes Hotel stehen, aber wir sind uns einig, dass man sich auch für die Monteure freuen kann, dass die mal schön untergebracht sind, hier im idyllischen Deilbachtal. Jetzt wird es gleich ein bisschen unbequem, sagt Thomas, aber er meint nicht unser Gespräch, sondern dass wir einen zugewachsenen Trampelpfad entlang laufen müssen.

Wir sind jetzt in Westfalen und sprechen über den gesellschaftskritischen Aspekt der Sozialpädagogik. Thomas hat mir geschrieben, dass er bei einem kirchlichen Wohlfahrtsverband im Kreis Mettmann arbeitet, für Menschen in vielerlei Krisensituationen.

Nur Klempner sein reicht nicht, sagt er. Wir müssen schon auch an den Bedingungen etwas verändern, zugunsten unserer Leute. Die selbst keine laute Stimme haben. Die brauchen uns, damit sie gehört werden. Muss man nicht, frage ich, vielleicht auch dafür sorgen, dass sie. Mit ihrer eigenen Stimme gehört werden.

Wir sprechen etwas abgehakt, weil wir einen steil nach oben verlaufenden Pfad hochwandern. Die Gegend heißt nicht umsonst Elfringhausener Schweiz.

Oder das, sagt Thomas. Das ist. Die Königsklasse. Darum geht’s auch. Aber es gibt dennoch viele, die. Unsere Stimme als Unterstützung brauchen. Man muss, sagt Thomas, aber immer auch das eigene. Tun überprüfen, damit man. Nicht zu paternalistisch wird. Das ist die große Gefahr. Dass wir unserem Helfersyndrom erliegen. Ständiges Thema in unserer Arbeit: Machst du’s für dich oder. Machst du’s für die Leute? Ohne Reflexion kannst du diese Arbeit nicht machen.

Da oben das Haus, sagt Thomas und wir bleiben stehen, das ist ein legendäres WG-Haus, da gibt es viele Geschichten. Ein großer Hund läuft hin und her und bellt aufgeregt, als er uns sieht, als würde er alle Geschichten über dieses Haus auf einmal ausplaudern wollen.

Was sind denn so die gängigen Motive, um Sozialarbeiter:in zu werden?
Ich will Menschen helfen, ich will, dass es den Menschen besser geht, altruistische Motive. Alles ehrenwert, um diesen Beruf anzufangen, und trotzdem muss man irgendwann überlegen, warum man etwas macht, und warum man etwas anderes nicht macht, und diese Motive immer wieder überprüfen.

Warum teilen wir unsere Gewinne nicht?

Beim Abhören der Aufnahmen kommt mir der Gedanke, wie seltsam es doch eigentlich ist, dass nur in den helfenden Berufen selbstreflexives Handeln gefragt ist. Wäre es nicht gut, wenn auch Menschen, die in der Wirtschaft, Politik oder Verwaltung arbeiten, zur Selbstreflexion angeleitet würden? Ich stelle mir vor, wie der Vorstand der Deutschen Bank, der Lufthansa oder von Amazon einmal im Monat ihre Motive überprüfen würden: Warum zahlen wir unseren Mitarbeitern so wenig, dafür unseren Aktionären so viel? Warum teilen wir unsere Gewinne nicht, fordern aber für unsere Verluste staatliche Unterstützung? Was ist in unserem Leben falsch gelaufen, dass wir uns nur für unseren eigenen Profit interessieren? Was macht es mit uns, wenn wir keine Steuern zahlen, aber von den Steuern anderer profitieren?

Aber natürlich hat Thomas Recht, wenn er sagt, dass es wichtig ist, die Hilfesuchenden in ihrer Autarkie zu unterstützen und mit ihnen zu erarbeiten, was sie selbst wollen. Helfen, um eigene Bedürfnisse zu befriedigen, könnte dem im Weg stehen.

Lebenserwartung Obdachloser ist 30 Jahre kürzer

Ich habe, sagt Thomas, großen Ärger bekommen, weil ich die Tafeln ganz schrecklich finde. Diese Almosengaben, das finde ich so entwürdigend. Und wenn sich die Pelzmäntelchen dahinstellen und abgelaufene Joghurts verteilen. Das bringt mich in Rage. Damit habe er sich im Kreis Mettmann nicht nur Freunde gemacht, meint Thomas. Glücklicherweise vertritt aber sein Spitzenverband dieselbe Auffassung. Die Grundsicherungssätze müssen so sein, dass man davon leben kann, und wenn das so wäre, bräuchte in Deutschland niemand Almosen. Ich finde, wir sind ein sozialer Rechtsstaat, und wenn wir das sind, müssen wir auch Butter bei die Fische tun, sagt Thomas und der Kies unter unseren Füßen knirscht, wir laufen jetzt auf einem breiten, flachen Weg.

Es wird Unterschiede immer geben, aber mit aktuell 150 Euro im Monat für Lebensmittel und nicht-alkoholische Getränke, und allein das ist schon ein Hammer – und man hört jetzt deutlich die Verärgerung in Thomas‘ freundlicher Stimme – da kannst du ja mal versuchen, klar zu kommen, insbesondere, wenn du Alleinlebender bist. Das ist deutlich teurer, als für eine Gruppe einzukaufen. Und wenn du dann nicht Haushalt gelernt hast und nicht kochen kannst und dir immer das Fertigzeuch kaufen musst, ne, muss ich glaub ich gar nicht ausführen. Ich finde es unwürdig, dass wir uns in dieser Sache auf die Tafeln verlassen.

Irgendwo knallt es

Die Lebenserwartung von Wohnungslosen, sagt Thomas, ist im Schnitt 30 Jahre kürzer. Viele sehen aus wie 75 und sind noch keine 50. Das liegt natürlich auch an den Begleiterscheinungen wie psychische Erkrankungen, Alkoholismus und all die schönen Dinge, die man bekommt, wenn man auf der Straße lebt. Und oft ist es natürlich auch andersrum, das ist ja auch zum Beispiel das bekannte Drama der Veteranen in den USA, wo Kriegstraumata nicht selten zu Obdachlosigkeit führen.

Da, wo das Windrad ist, da gehen wir hin, sagt Thomas. Wir schauen in die Landschaft und finden sie schön. Irgendwo knallt es. Weil jetzt der Knall gerade ist, mein Vater ist 93, sagt Thomas, ab und zu hole ich ihn ab, dann fahren wir schon mal hierher und erzählen uns immer die gleichen alten Geschichten und eine Geschichte geht so: In den letzten Kriegstagen lagen da die Amerikaner und da die Deutschen oder andersrum und haben sich hier nochmal bekriegt. Da sind so einige Höfe in die Luft gegangen, weil die Dummies vom Dach aus die Amerikaner beschossen haben und die haben einfach den Panzer draufgehalten haben und dann war der Hof weg.

Das kann man sich gar nicht vorstellen, wenn man eine so friedliche Gegend sieht, dass hier mal ein Krieg getobt hat.

Wir gehen hier um die Ecke, sagt Thomas, weil da vorne kommen wir gleich wieder runter und ich finde es immer doof, einen Weg zweimal zu gehen. Geht mir genauso, sage ich. Wir keuchen wieder ganz schön, offenbar geht es wieder bergauf. Ich bin studierter Sozialpädagoge, sagt Thomas, bin aber schon seit vielen Jahren äh also, ich bin Funktionär. Er lacht, und tatsächlich klingt er ein bisschen verschämt. So ein Begriff, vor dem ich mich früher geekelt hätte, fügt er zur Erklärung hinzu. Aber ich bin schon seit 25 Jahren in der Geschäftsleitung des Kreiscaritasverbandes, das heißt, ich bin nicht der Geschäftsführer, der ist noch eins drüber, aber eben in einem Gremium, das heißt Geschäftsleitung. Mein Bereich ist Integration und Rehabilitation; Integration, das sind alle Dienste, die mit Zuwanderern zu tun haben oder mit Flüchtlingen, zum Beispiel geht es da um Integrationshilfe und -beratung, wenn man bürokratische Probleme hat; und Integrationsagentur bedeutet, dass wir Anti-Rassismus-Projekte machen, Demokratieförderprojekte, im weitesten Sinne Bildungsarbeit.

Unten saßen die Junkies, und oben saßen wir

Und Rehabilitation, also Wiedereingliederung, da komme ich eigentlich her, weil ich Leiter der Suchtberatungsstelle war, damals ein 2-Mann-Betrieb, und einer davon war ich. Als ich da anfing, war das Büro im zweiten Stock direkt am Jubiläumsplatz und es passierte den ganzen Tag: nichts. Ganze 40 Kontakte im Monat, und das bei zwei Sozialarbeiter-Stellen. Unten saßen die Junkies, und oben saßen wir und schauten aus dem Fenster. Wir sind Caritas, was ist das denn für eine Haltung?, dachte er sich. Das war gar nicht so unüblich zu dieser Zeit, dass eine Beratungsstelle so hochschwellig auf Termin arbeitet. War halt so. Ich habe dann mit den Leuten Kontakt aufgenommen, mich um Streetwork gekümmert und das Angebot nach und nach ausgebaut, Suchtprävention in den Schulen, Elternabende, einen alten Postbulli für den Streetworker gekauft, da konnten die Leute, wenns regnet, reingehen, Mittwochs gabs Suppe, und nach und nach ist da ein lebendiger Ort draus geworden.

Mein erster Arbeitstag war, als ich da ankam und nichts zu tun hatte, und das hatte mit Arbeit ja gar nichts zu tun.

Noch keinen einzigen Bollerwagen gesehen, komisch, ist doch Vatertag heute, meint Thomas. Vielleicht schaffen die es nicht bis hier hoch, glaube ich. Wir machen eine kleine Pause, Thomas hat nichts zu trinken mit, er hat sich voll auf den Berger Hof verlassen. Aber heute ist es ziemlich heiß und wir haben noch eine halbe Stunde dorthin und so teilen wir das Wasser solidarisch.

Mögen die Leute Supervision?

Wir sprechen über Supervision, die in der Regel einmal im Monat stattfindet oder bei schlimmen Ereignissen, da erhöht man schon mal die Frequenz. Mögen die Leute Supervision?, frage ich. Die meisten schon, sagt Thomas. Sie empfinden das als Entlastung. Aber es gibt auch immer welche, die das ablehnen, die den Eindruck haben, man will ihnen zu persönlich aufs Fell rücken, weil, sagt Thomas, das hat schon etwas mit der Persönlichkeit zu tun, da zeigt man schon was von sich. Und dann gibt es die, die sich regelrecht entblößen, das ist dann auch anstrengend für die anderen.

Gibt es in der Pflege auch Supervision? Nein, sagt Thomas. Warum eigentlich nicht?, frage ich, pflegen stelle ich mir auch als sehr belastend vor. Es gäbe auf jeden Fall gute Gründe, das zu machen, meint Thomas. Aber warum es das nicht gibt oder ob es das nicht vielleicht doch in bestimmten Situationen gibt, kann ich dir gar nicht genau sagen. In meinem ersten Beruf war ich selbst Pfleger, in der Psychiatrie, und da gab es Supervision tatsächlich. Es war allerdings die bestgehasste Stunde. Da kam so ein Supervisor, ein renommierter Analytiker, den hatte der Chefarzt besorgt, und der setzte sich hin, sagte kein Wort, eineinhalb Stunden lang war Dampf in der Hütte, keiner wusste, was das sollte. Wir hatten immer das Gefühl, der sollte uns aushorchen.

Thomas zeigt auf die andere Seite, das da drüben ist übrigens Gelsenkirchen, die Schalke-Arena. Ich bin erstaunt, so nah an der Zivilisation sind wir hier, oder was man darunter versteht. Denn auf unserer Seite weiden Pferde und Schafe und sogar Esel, die ich sehr liebe, und zu meiner Belustigung höre ich mich selbst in den Aufnahmen wiehern, als wir an den Tieren vorbeigehen, und Thomas lacht höflich.

Ach, mein jüngstes Baby, das muss ich dir noch erzählen, sagt Thomas. Ich habe nämlich meine Diplomarbeit über Vergewaltiger geschrieben, also nicht über die Opfer, sondern über die Täter. Seit einigen Jahren machen wir nun Täterarbeit, mit rasant steigenden Zahlen. Ein Angebot für Täter von häuslicher Gewalt, das sind in der Regel Männer, aber auch 10-15 Prozent Frauen, Leute also, die sich nicht im Griff haben und ihre Partner:innen verprügeln. Zu uns kommen eher die leichteren Fälle, wobei mir schon schlecht wird, wenn ich höre, was die gemacht haben, das möchten wir alle nicht erleben.

Täterarbeit ist der beste Opferschutz

Was ich so spannend an dieser Arbeit finde, ist, dass wir so viele Selbstmelder haben. 30 bis 40 Prozent melden sich selbst, es gibt da zwar sicher auch einen extrinsischen Druck, zum Beispiel, dass das Jugendamt sagt, du darfst deine Kinder nicht mehr sehen. Aber immerhin: Sie kommen freiwillig zu uns. Es ist ja nicht einfach, darüber zu sprechen, was man gemacht hat, sich dem Schrecken zu stellen. Die sind ja nicht als Monster auf die Welt gekommen, aber haben sich wie Monster verhalten, das muss man schon so sagen. Wir haben mehr Nachfrage, als wir bewältigen können.

Viele sagen, ich bin mir selbst nicht geheuer, die sagen zum Beispiel, ich liebe meine Frau, ich liebe sie wirklich, sie soll bloß nicht mehr so oder so sein. Thomas lacht ein Lachen, in dem tönt das ganze Wissen über die Absurdität der menschlichen Gefühle. Also, wenns gut läuft, stellen die Leute sich dieser Auseinandersetzung, aber, sagt Thomas, das muss man auch sagen, es gibt immer auch welche, die abbrechen und sagen, das habe ich mir aber ganz anders vorgestellt. Die Leute kommen übrigens aus allen Schichten, wir haben Polizisten gehabt, Rechtsanwälte, auch einen Chefarzt. Die sitzen dann alle in einer Gruppe. Wir machen nur Gruppenarbeit; wenn du in so einer Runde sitzt, dann hast du zehn Spiegel. Die sagen dann, jaja, das kenn ich auch, das ist doch Bullshit, du redest dich doch nur raus.

Täterarbeit, sagt Thomas, ist der beste Opferschutz.

Wir sind nun am Berger Hof angelangt, und hätten wir nicht gerade die Schalke-Arena gesehen, würde ich mich in Oberbayern wähnen oder in Südtirol. Es ist schon Nachmittag, deshalb essen wir was Warmes, nämlich Frikadellen, und ich lade Thomas ein, du machst schließlich bei meinem Projekt mit, sage ich. Thomas lacht und sagt, gut, dann nehme ich das an.

Bonustrack: Versuch, ein Huhn zu fotografieren

Weiterführende Links zur Straße der Arbeit

Wanderung von Velbert-Langenberg durchs Deilbachtal
Übersichtskarte (Sauerländischer Gebirgsverein, Bergisches Land)

Mehr von Ulrike Anna Bleier

Das Ganze in der Welt Unterschiedliche

Treffpunkt ist der Busbahnhof in Hückeswagen. Rudi und der WDR sind schon da. Rudi bekommt ein Mikro von mir, das ich an seinem Hemdkragen befestige, und ich bekomme ein Mikro von Daniela, die für die Lokalzeit Bergisches Land einen Beitrag über die Straße der Arbeit macht. Zu dritt ziehen wir los Richtung Wupper.

Rudi ist ein Fan von Gernstl unterwegs und auch vom Gipfeltreffen, das sind Formate des Bayerischen Rundfunks, in denen übers Leben geredet wird. Über das Leben im Leben und die Orte im Leben und die Krisen im Leben. Der DJ Ötzi zum Beispiel, sagt Rudi, war ein ungewolltes Kind aus einem One-Night-Stand. Er war sogar mal obdachlos. Aber er hat was draus macht, das finde ich stark. Auch Rudi hat eine Zeitlang in Bayern gelebt, im Allgäu.

Als ich später die Aufnahmen abhöre, sagt Rudi beiläufig, jetzt müssen wir durch die Wupper, und ich weiß nicht mehr, was er damit gemeint haben könnte. Jedenfalls sind wir nicht durch die Wupper gegangen.

Aufnäher mit der Schere aufschneiden

Ich bin nicht mehr der Arbeiter, der ich einmal war, sagt Rudi. Ich komme aus einer Arbeiterfamilie, wo Schicht gearbeitet wurde, von beiden Elternteilen. Wir waren vier Kinder. Wenn meine Kumpels am Wochenende ins Schwimmbad gingen, musste ich regelmäßig bei der Heimarbeit helfen. Heimarbeit, das bedeutet nicht, das Geschirr in die Spüle zu stellen oder den Rasen zu mähen – das bedeutet, Kugelschreiber zusammenzubauen oder Schrauben abzuzählen und in Tüten zu packen. In Rudis Fall hieß Heimarbeit, für ein Textilunternehmen Aufnäher mit der Schere auszuschneiden. Meine Mutter war recht streng und schon damals bin ich in bestimmte Vorstellungen gepresst worden, zum Beispiel durfte ich – trotz Empfehlung – nicht das zehnte Schuljahr machen, sondern musste in die Lehre gehen. Bei einem Raumausstatter sollte ich eine kaufmännische Ausbildung absolvieren, allerdings hat dort das Handwerkliche überwogen, erzählt Rudi. Statt Betriebswirtschaft und Buchhaltung zu lernen, musste er mit zu den Kunden und später auch tageweise auf Montage fahren.

Verantwortung zu tragen, das stand in seinem Leben immer im Vordergrund. Es fehlte aber in allem die Leidenschaft. Ich wurde immer in Stress gebracht, sagt Rudi. Auch die letzten 30 Jahre als Fußbodenleger, da war ich nur unterwegs, viel auf Montage, viele Stunden auf der Autobahn, und es wurde immer mit dem spitzen Bleistift abgerechnet. Weil wir im Akkord waren, sind irgendwann auch die Gelenke in Mitleidenschaft gezogen worden, so dass ich lange von Schmerztabletten gelebt habe. Er hat Fußböden verlegt, PVC, Teppichböden und so weiter, das geht auf die Knie. Operationen und viele Krankzeiten folgten.

Montage und Akkordarbeit, sage ich, das ist aber eine krasse Kombination.
Ja, krass, oder?, sagt Rudi, er sagt es wie jemand, der von einer gelungenen Flucht erzählt, der sich gerade noch in Sicherheit gebracht hat.

Die Zeit, die er auf der Autobahn verbracht hat, wurde nicht als Arbeitszeit verrechnet. Das ist es ja, sagt Rudi, das Ganze in der Welt Unterschiedliche. Über diesen Ausdruck denke ich noch lange nach. Es schließt so viel mit ein: die Ungleichheit, den Zufall, die Willkür, mit der Privilegien verteilt werden. Aber es schwingt auch die Hoffnung mit, irgendwo in dieser Unterschiedlichkeit doch noch seinen Platz zu finden.

Haus an der Bevertalsperre

Du hast übrigens deinen Schuh offen, sagt Rudi. Auf den Aufnahmen gibt es seltsamerweise keine Anhaltspunkte dafür, dass ich den Schuh wieder zubinde, ich höre meine Stimme sagen, ich hatte heute morgen keine Zeit mehr, sie richtig zu schnüren.

Innerhalb der Familie hat ihn vor allem die Rolle als Ernährer unter Druck gesetzt. Man war immer kaputt, immer fertig, da blieb nicht viel Luft, um freundlich und nett zu sein. Als die Kinder aus dem Gröbsten raus waren, hat er darüber nachgedacht, kürzer zu treten.

Keiner weiß mehr weiter

Ich bin dann irgendwann aus dem Handwerklichen rausgegangen und wollte meine Erfahrungen in die Bauleitung einbringen. Doch in der Position zwischen Geschäftsführung, Architekt und den Handwerkern, die man anleiten muss, da bin ich dann irgendwann zusammengebrochen, und hatte viele Auszeiten.

Auch mit seiner neuen Partnerin und in der Patchworkfamilie blieb alles beim Alten. Du verbindest mit Arbeit sehr stark auch eine soziale Rolle, oder?, frage ich, und Rudi sagt, ja. Die aber meines Erachtens zulasten der Arbeitnehmer geht, zu ihrer Unzufriedenheit, was sich dann auch zuhause widerspiegelt, in Frust. Wenn du dann nach einem Arbeitstag mit viel Lärm und Hektik auf der Baustelle nach Hause kommst, ist es auch zu Hause laut, heutzutage hat jeder eine Musikanlage und einen Fernseher und es dröhnt und schallt. Das zu kombinieren mit Ich-will-jetzt-mal-abschalten, mich auf morgen konzentrieren, das hat mich in Phasen gebracht, die nahe am Burnout waren, natürlich auch in Zusammenhang mit den Belastungen, die es in meiner Kindheit gab, sagt Rudi.

Beim Abhören der Aufnahme muss ich plötzlich an Rolf Dieter Brinkmann denken, an sein Buch Keiner weiß mehr, das mein Hirn immer ergänzt mit weiter. Keiner weiß mehr weiter. Auch wenn es da die Frau ist, die das Geld brachte, die für ihn unerfüllbare Rolle des Familienvaters klebt bei Brinkmann an jedem einzelnen Buchstaben wie ein böser Spuk*. Von so einem Unbehagen erzählt auch Rudi jetzt, mit der reflektierten Klarheit dessen, der ausgestiegen ist.

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*Der böse Spuk, der ein Leben lang an meinen Fersen klebt nannte der Kulturwissenschaftler Mark Fisher seine Depression, die er stets in einem politischen Kontext der vom Kapitalismus erzeugten gespenstischen Lebenssituation betrachtete.

Weniger Konsum, weniger Arbeit

So hat Rudi sich mir nämlich auf Facebook vorgestellt: als Aussteiger. In einem Artikel der Westdeutschen Zeitung über Die Straße der Arbeit – die paradoxerweise in der Rubrik „Freizeit“ erschien – stand, dass ich mich auch für die Arbeit interessiere, die nicht ausgeübt wird. Und für die Menschen, die diese Arbeit nicht ausüben. Für Leute wie Rudi.

Was könnte man denn ändern, damit Eltern nicht so belastet werden? Das ist ein schwieriges Thema, sagt Rudi. Ich weiß es nicht, im Nachhinein kann ich eh nichts mehr ändern. Es geht halt immer mehr in den Tunnel hinein, dass Arbeitnehmer ausgenutzt werden, sagt Rudi, dem am Ende nur noch blieb, eine Auszeit zu nehmen. Und in dieser Auszeit hat er im Allgäu gearbeitet, bei der Lebenshilfe im Kleinwalsertal. Zumindest wollte er an einem Ort sein, an dem es schön ist, mit dem er positive Erlebnisse wie Urlaub, in der Natur sein verband. Er hat dort in einer Holzwerkstatt behinderte Menschen betreut. Da hat er zum ersten Mal gemerkt, wie zufrieden Arbeit machen kann. Mit Menschen, die einem das Glück zurückbringen, durch ein Lachen zum Beispiel, sagt Rudi. Und als meine Batterien wieder aufgeladen waren, war auch klar:

Ich will in dieses alte System nicht mehr rein.

Wir haben alles gehabt, Urlaub, Auto, dies und das; seit 2015 aber, seit meiner Rückkehr, lebe ich wie ein Student und gehe einem Job nach, der mir Zufriedenheit bringt. Das heißt: Ich gebe das Tempo vor, ich gebe die Ziele vor, ich bin zwar als One-Man-Power auf mich allein gestellt, da ich aber nicht mehr diese materiellen Ansprüche habe, muss ich auch nicht mehr so viel Leistung bringen.

Wie man so ein Modell auf die Arbeitsgesellschaft umsetzen könnte, da ist er überfragt. Unternehmen müssen schließlich wirtschaftlich denken, müssen Einnahmen haben, nur diese Einnahmen, sagt Rudi, die gehen, so sind meine Erfahrungen, zu Lasten der Arbeitnehmer. Als Gegenleistung kann sich jeder eine Freude machen, indem er in einen Kik reingeht oder in einen anderen Billigladen und sich an materiellen Dingen befriedigt. Da müsste es, so Rudi, mal einen Schritt zurück gehen, und er würde sich gerade von der grünen Politik wünschen, diese Thematik anzugehen. Demokratie kann ja nicht nur darin bestehen, dass jeder jederzeit irgendwas konsumieren kann. Da werden Jobs angenommen, für die Leute 200 Kilometer am Tag auf der Autobahn unterwegs sind – für einen Minijob. Und dafür stehen sie dann in Neuss, Düsseldorf oder Wuppertal stundenlang im Stau. Für 450 Euro! Da muss mal was im Arbeitsleben passieren!, findet Rudi.

Zwei Handwerker

Weniger Konsum, Arbeitstempo selbst bestimmen, Ziele selbst definieren – das könnte man doch durchaus auch gesamtgesellschaftlich ausdiskutieren. Weniger Kaufangebote, dafür mehr Mitbestimmung im Arbeitsleben.

Schutzengel liefen top in der Corona-Zeit

Rudi ist davon überzeugt, dass wir viele Dinge gar nicht vermissen würde. Außerdem würden wir das globale Müllproblem lösen. Vielleicht passiert das ja, irgendwann. Vielleicht auch nicht, zumindest ist unser jetziges System keins, in dem ein Alternativmodell vorstellbar ist.

Für sich selbst hat Rudi einen Weg gefunden. Man muss in sich selbst verliebt sein, findet er. Er lebt jetzt von seiner Holzkunst, die er auf dem Markt in Schwelm verkauft. Was stellst du da her, frage ich, und Daniela, die uns die ganze Zeit von Weitem gefilmt hat, ist auch neugierig geworden. Ich fertige in meinem Atelier Holzdekore, sagt Rudi. Die fertige ich aus Massivholz oder was ich halt so bekomme oder im Wald finde. Einfach geschnitten, geschliffen, bearbeitet mit dem Werkzeug, das ich zur Verfügung habe. Was zum Beispiel top lief in den Corona-Monaten, sind Schutzengel. Es gibt Leute, die sagen, es gibt sie, und es gibt Leute, die sagen, es gibt sie nicht. Auf jeden Fall ist ein Markt dafür da.

Seine Urlaube verbringt Rudi in der Bretagne auf dem Fernwanderweg. Dafür braucht er nicht mehr als 150 Euro die Woche für Mitfahrgelegenheit und Verpflegung. Geschlafen wird im Zelt. Auto hat er nicht mehr, aber man kommt auch so von Wuppertal nach Schwelm. Er ist Teil einer privaten Carsharing-Gruppe, das geht letztlich aber auch nur, wenn nicht jeder einen straffen Zeitplan erfüllen muss.

Auf den letzten Kilometern nach Wipperfürth denken wir darüber nach, wie stark ungesunde Arbeitsstrukturen auch unsere privaten Beziehungen beeinflussen. Die Unzufriedenheit bringst du nach Hause mit, sagt Rudi. Bei ihm war es so, dass für seine beiden langjährigen Beziehungen wenig Raum blieb, und dass es auch für ihn selbst wenig Freiraum in den Beziehungen gab. Denn das hängt ja irgendwie zusammen: nur wer selbst genügend Freiraum in seinem Leben hat, ist auch in der Lage, anderen Freiraum zuzugestehen. Und war nicht Raumausstatter Rudis Lehrberuf nach der Schule?

Auf der Straße der Arbeit von Hückeswagen nach Wipperfürth

Da! Da vorne, ein Hase, sagt Rudi. Und wirklich, ein großer grauer Hase hoppelt uns entgegen und als er uns bemerkt, springt er ins Feld und ist weg. Kurz darauf sehen wir einen Fuchs. Krass. Nein, es ist kein Fuchs, es noch ein Hase. Vielleicht ein Familienmitglied? Wusstest du, sagt Rudi, dass Rehe bellen. Rehe bellen, echt? Ja, wenn sie Angst haben. Als ich diese Stelle später in den Aufnahmen abhöre, bin ich etwas skeptisch, so dass ich Rehe bellen google. Tatsächlich: Rehe können bellen. Man nennt das in der Jagdsprache schrecken. Sie tun das, um ihr Territorium akustisch abzugrenzen oder um Artgenossen vor Gefahr zu warnen. Und ganz besonders fasziniert mich ihre Taktik, im Chor zu bellen, um ein angreifendes Raubtier zu verwirren.

Pünktlich zu unserer Ankunft in Wipperfürth zieht sich der Himmel zu und es fängt an zu regnen. Wir haben jetzt Lust auf ein Eis, finden eine Eisdiele und bestellen uns einen Walnuss- und einen Erdbeerbecher. Ich lade Rudi ein und Rudi schenkt mir ein Holzdekor: einen Handschmeichler in Form eines kleinen Kreuzes.

Weiterführende Links zur Straße der Arbeit

Die Straße der Arbeit III von Hückeswagen nach Wipperfürth
Übersichtskarte (Sauerländischer Gebirgsverein, Bergisches Land)

Mehr von Ulrike Anna Bleier

Plan B (Teil II)

Ah, diese Aussicht, sagt Tina und ich höre beim Abhören der Aufnahmen, wie sie in großen Schlücken Wasser aus ihrer mitgebrachten Flasche trinkt. Wir schauen auf die Wupper und sprechen über einen Begriff, der seit der Coronazeit in aller Munde ist: Systemrelevanz. Tina ist, wie bereits in Teil I erwähnt, nicht nur Literaturwissenschaftlerin, sondern auch Leiterin der Zentralen Studienberatung an der Uni Wuppertal. Wir sind für alle Fragen rund ums Studium da, sagt Tina, vor allem dann, wenn’s schwierig wird.

Die Arbeit als Studienberaterin ist eine pädagogische Arbeit, denn es geht darum, junge Menschen von einem Bildungsabschnitt in den nächsten zu begleiten. Die Beratung richtet sich an Studierende, aber auch an Schülerinnen und Schüler. Gerade im ersten Prozess mit den Schüler:innen geht es immer auch ein bisschen um Selbsterfahrung, darum, wie man mit Selbstzweifeln umgeht oder auch der Klassiker: Ich kann alles ein bisschen, aber nichts so richtig. Wir werden ja hineingeworfen, in die Freiheit der Berufswahl, zu Engels‘ Zeiten war das noch anders, da wurde man in sein Milieu hineingeboren. Heute ist dagegen vermeintlich alles in unserer eigenen Verantwortung, wir stecken in keinem Wertekorsett mehr.

Industriemuseum Wülfingfabrik

Passend zum Thema bleiben wir nun stehen und diskutieren, wie wir gehen müssen und wo wir stehen. Zuerst hat die eine recht, dann die andere, dann gehen wir in die eine Richtung und dann doch in die andere. Dann kehren wir um. Wir sind über die Nase gelaufen, höre ich Tina in meinen Aufnahmen sagen, was für ein Satz, denke ich.

Biographiearbeit und Arbeitsbiographien

In der Corona-Zeit ist die psychologische Beratung, die auch zur Studienberatung gehört, sehr in den Fokus gerückt, wir haben zusätzliche Stunden angeboten und den Service aufgestockt. Was heißt es, wenn ich mich einer Gesellschaft nicht zugehörig fühle? Arbeit ist ja nur eine Facette im Leben. Wir sprechen mit den Studierenden auch über deren Lebenskontext. Ich nenne das Biographiearbeit, sagt Tina, und ich sage, lustig, bei der Straße der Arbeit geht’s um die Arbeitsbiographie. Das ist jetzt das Komplementär dazu.

Wie läuft denn so eine Studienberatung ab? Es geht vor allem um Reflexionsprozesse: Was habe ich als Kind werden wollen, was macht mir Freude, gibt es Vorbilder? Aber auch: Was gibt es für Hinderungsgründe, zum Beispiel im Ausland oder was mit Tieren, da heißt es dann Ach nö, dafür muss ich ja Medizin studieren. Oder lange ins Ausland ausgehen, das kann ich nicht. Manchmal reicht es aber auch vom Numerus Clausus her nicht oder es gibt sonstige Ausschlussgründe, die gegen ein bestimmtes Studienfach sprechen. Und dann schauen wir nach Alternativen. Es ist ja eh ganz gut im Leben, einen Plan B zu haben.

Wir sind beide der Meinung nach, dass der Plan B eines der wichtigsten Dinge überhaupt im Leben ist. Wer einen Plan B hat, kann mit Plan A scheitern und das absolut Ok finden.

Vielen sei das nicht wirklich klar, sagt Tina, sie glauben, es müsse alles immer perfekt sein, perfekter Urlaub, perfekter Körper, perfektes Studium, perfekte Familie. Und vergessen dabei, dass zum Leben eben auch ganz viele bescheuerte Tage dazu gehören, und ich sage, besteht nicht das ganze Leben vor allem aus denen?

Heilungsprozesse durch die Literatur

Vor ein paar Jahren hat Tina eine Zusatzausbildung im Bereich Integrativer Therapie mit Schwerpunkt Poesie- und Bibliotherapie absolviert, am Fritz-Perls-Institut, hier in Hückeswagen, direkt an der Bevertalsperre. Was ist das denn, frage ich. Etwas ganz Tolles, sagt Tina, da geht es um die Heilkraft der Sprache, des Lesens und des Schreibens, aber auch der anderen Künste. Das Lesen und Hören von literarischen Texten einsetzen in pädagogische Entwicklungsprozesse. Oder auch in Rekonvaleszenzprozesse. Ich habe schon in der Germanistik bemerkt, dass Literatur über die reine Ästhetik der Sprache hinausgeht. Es hat ein viel größeres Potenzial, um in andere Welten, Zeiten, an anderen Orten einzutauchen. Das gilt sowohl fürs Rezipieren als auch fürs Schreiben.

Der Weg, auf den wir nun einbiegen, ist alles andere als perfekt. Wäre dieser Wald ein Zeitabschnitt, wäre er einer der bescheuerten Tage. Umgefallene Bäume, über die wir steigen oder unter denen wir herkraxeln müssen, Gestrüpp, Wurzeln, kleine Äste, die sich in die Haut bohren. Mein Oberschenkel blutet. Auf den Aufnahmen sage ich tapfer, lass uns noch ein paar Meter versuchen. Tina ist skeptisch, möglicherweise denkt sie schon an den Plan B. Der würde lauten: umkehren. Ich aber kehre ungern um, denn wer A sagt, muss auch B sagen, jaja, ich weiß, dass das falsch ist, aber was heißt schon wissen. Nach weiteren zehn Minuten Kraxelei lasse ich mich dann doch überzeugen. Beim Weg zurück sehe ich, wie sich ein dünnes, schwarzes Kabel über eine gefallene Buche schlängelt. Lustig, denke ich. Sieht aus, wie das von meinem Aufnahmegerät.

Wo Riesen Mikado spielen

Es ist nicht nur das Kabel, es hängt sogar noch das Aufnahmegerät dran, das auf der anderen Seite der Buche pendelt. Pendelfriedrich lässt grüßen. Das Mikro und mit ihm der Rest muss sich von Tinas Kragen gelöst haben, als sie an einem Ast hängen geblieben ist. Zum Glück sind wir umgekehrt, sage ich. Und denke, vielleicht muss man erst scheitern, um etwas wiederzufinden, von dem man gar nicht wusste, dass man es verloren hat.

Manchmal muss man auch erst scheitern, um danach den einfacheren Weg zu sehen. Zu sehen, dass auch auf der Straße der Arbeit ein Plan B existiert. In unserem Fall beginnt Plan B etwa 20 Meter vor den ersten Baumleichen. Er führt uns steil, aber elegant durch den Wald, vorbei an dem Chaos aus Stämmen und Sträuchern, die von oben aussehen, als hätten gelangweilte Riesen Mikado gespielt. Und hinter jeder Lücke glitzert die Wupper auf ihrem Weg nach – ja wohin eigentlich? Nach Leverkusen, sagt Tina, dort mündet die Wupper in den Rhein.

Hier lesen Sie Teil eins der Wanderung mit Christine Hummel

Weiterführende Links zur Straße der Arbeit

Die Straße der Arbeit II von Radevormwald nach Hückeswagen
Übersichtskarte (Sauerländischer Gebirgsverein, Bergisches Land)

Mehr von Ulrike Anna Bleier

Am schwärzesten Fluss der Welt

Wir sitzen – zusammen mit Else Lasker-Schüler und Friedrich Engels –, auf einer Brotzeitbank an der Wuppertalsperre. Der Fotograf der Bergischen Morgenpost möchte, dass wir uns umdrehen und lächeln, er macht Witze, aber wir lächeln nicht, weil wir die Witze nicht verstehen, dann lächeln wir doch noch und er drückt im richtigen Moment ab.

Auf der Straße der Arbeit ziehen wir alleine weiter. Wir, das sind Dr. Christine Hummel und ich. Kannst Tina sagen, sagt sie, und es ist ganz leicht mit Tina und mir, als würden wir uns schon ewig kennen.

Der schmale Fluss ergießt bald rasch, bald stockend seine purpurnen Wogen zwischen rauchigen Fabrikgebäuden und garnbedeckten Bleichen hindurch.

Friedrich Engels, Briefe aus dem Wuppertal

Wir haben etwas gemeinsam, stellen wir fest: Wir gehen eine Strecke ab. Ich die Straße der Arbeit, und Tina die Wupper, den Fluss der Arbeit. Den Begriff hat Else Lasker-Schüler geprägt, die wahrscheinlich ihr Herz ins Fließen brachte, als sie ihr Schauspiel Die Wupper schrieb. So formuliert es Tina in einem Aufsatz über die Dichterin, die in Wuppertal geboren und aufgewachsen ist und in Jerusalem starb. Tina ist Literaturwissenschaftlerin und schreibt selbst literarische Texte. Außerdem hat sie eine Zusatzausbildung im Bereich Poesie- und Bibliotherapie und leitet die Zentrale Studienberatung an der Uni Wuppertal.

Schiefer

Mit anderen Künstler:innen hat sie 2022 ein Stück über die Parallelen von Friedrich Engels und Heinrich Heine inszeniert, eine „feuilletonistische Hommage“ haben sie es genannt. Man kann Engels‘ Briefe aus dem Wuppertal, in denen es um die Arbeitsbedingungen hier im Bergischen geht, ganz wunderbar verzahnen mit Heines Text über die Schlesischen Weber, erzählt Tina. Teilweise waren die kaum auseinander zu halten.

Guck mal, sie zeigt auf einen Felsen, da ist Schiefer. Ist auch in der Wupper, deshalb ist die an vielen Stellen so grau. Mit diesem Schiefergestein sind die charakteristischen Häuser im Bergischen Land verkleidet.

Die Weber, das sind die, die noch zuhause arbeiten, aber unter dem Lohndumping ihrer Auftraggeber leiden, die Arbeiter aus dem Wuppertal sind die, die bereits in die Fabriken gehen. Die Weber verkaufen ihre Stoffe nicht mehr selbst, sondern müssen sich den Monopolisten beugen, die die Preise bestimmen. Man könnte das als Subunternehmertum bezeichnen. Eine Art Ich-AG-Modell würde man heute dazu sagen. Hört sich nach Selbstbestimmung an, ist aber auch Ausbeutung.

Lange Anna, Pendelfriedrich und die Sonntags

Wir laufen den Fluss der Arbeit entlang, dem man heute seine Geschichte nicht mehr anmerkt, es ist erst Mitte Mai, aber gefühlt schon Mitte Juli, das Gras steht hoch, die Insekten schwirren.

Es gibt wenig expressionistische Texte, die ein so eminent sozialkritisches Potenzial haben wie Die Wupper. Die Sprache, der Slang!, ruft Tina begeistert in den Wald. Und die Figuren! Es gibt zum Beispiel einen Exhibitionisten, dem hängt immer was aus der Hose. Kuddelfritz oder Beutelfriedrich oder so. Wie hieß der nochmal. Zum Glück hat Tina auch ihren Aufsatz von 2009 dabei, da muss der Name ja drin stehen. Auf den Aufnahmen höre ich, wie unsere Schritte sich verlangsamen, dann Pause. Knistern. Pendelfriedrich heißt er, sagt Tina. Überhaupt die Namen. Die lange Anna. Amadeus mit dem gläsernen Herzen. Das sind die Leute von der Straße. Und dann gibt es die Industriellenfamilie. Die heißen Sonntag – sie leben auf der Sonnenseite. Und bei Gerhart Hauptmann heißen die Dreißiger. Wieso Dreißiger? Vielleicht, weil die Arbeiter immer das dreißigste Teil von ihrem Arbeitslohn abgeben mussten?, überlegen wir. Aber später schreibt mir Tina, ne, damit hatte das nichts damit zu tun.

Die Begriffe Arbeitgeber und Arbeitnehmer sind eigentlich diametral entgegengesetzt, diese Überlegung stammt von Engels, sagt Tina. Denn der Arbeiter gibt ja etwas her, nämlich seine Arbeitskraft, und der Arbeitgeber nimmt etwas, nämlich die Arbeit. Wir sprechen über den pietistischen Hintergrund der Frühindustriellen, die von sich selbst das Bild hatten, der Region und den Menschen etwas abzugeben vom eigenen Wohlstand. Sie betrachteten sich entsprechend als Wohltäter, nicht als Ausbeuter. Aus einem solch widersprüchlichen Elternhaus stammte auch der junge Engels und entwickelte aus solchen Eindrücken seine Philosophie – was ihn in späteren Jahren allerdings nicht daran hinderte, die elterliche Fabrik in Manchester zu leiten und am selben Ausbeutungssystem zu partizipieren, das er anprangerte.

Eine böse Arbeitermär

Ein Kapitel für sich sind Engels und die Frauen. In England war er mit Mary Burns, einer Irin, liiert, und nach ihrem Tod mit ihrer jüngeren Schwester Lizzy Burns – fast so, als seien die beiden Frauen austauschbar. Auf die Frage, was er nicht mag, antwortete Engels einmal: unordentliche Frauen. Dass er andererseits der erste war, der das Verhältnis von Mann und Frau als Ursprung der ausbeuterischen Menschheitsbeziehungen definierte, passt paradoxerweise sehr gut dazu. Ausbeutung, sagen wir, ermöglicht eben auch die Kritik an der Ausbeutung. Im Gebüsch raschelt es, vielleicht eine Maus oder ein Feldhase, vielleicht aber auch Slavoj Zizek, der gerade ein Hegelgebet spricht.

Als eine böse Arbeitermär hat Else Lasker-Schüler ihr Theaterstück Die Wupper bezeichnet. Im Gegensatz zum großen Bruder Rhein, der von Hölderlin besungen, mit der Romantik und dem Rheingold und so angenehmen Dingen wie Weinanbau assoziiert wird, ist es um das Ansehen der Wupper schlechter bestellt. Sie sei vor allem durch Industrieprozesse gekennzeichnet, sagt Tina. An der Wupper-Quelle in Wipperfürth war sie selbst noch nicht, das steht aber noch an. Sie will nämlich den gesamten Fluss abwandern und erschreiben, will dort Eindrücke sammeln und diese sowohl literarisch als auch literaturwissenschaftlich verarbeiten.

Am schwärzesten Fluss der Welt, der Wupper, lernt man erkennen, welche Menschen leuchten. Der Himmel fällt herab von Schieferklippen. Immer gähnet schläfriger Tag sein Regenlied.

(Else Lasker-Schüler, Die Wupper)

Zum Beispiel hat sie sich in Radevormwald von der ehemaligen Wülfing-Tuchfabrik inspirieren lassen. Da war so ein großes blaues Schild, hast du das auch gesehen? (Ich habe es natürlich nicht gesehen.) Man konnte darauf die ganze Stadt sehen, die um die Fabrik herum gebaut war, erzählt sie, das Mädchenwohnheim, die Metzgerei, allerlei Geschäfte. Die Menschen haben in der Tuchfabrik gearbeitet und ihr dort verdientes Geld gleich wieder in den Wülfing-Geschäften ausgegeben. Ich stelle mir das so vor wie Toyota-City, sagt Tina. Wie funktioniert denn Toyota-City? Da gibt es Toyota-Kaufhäuser und Toyota-Fitnesstudios und Toyota-Restaurants und alles Geld bleibt im System. Guck mal die dicke Kuh und der schwarze Rabe, sagt sie und deutet auf die Wiese, an der wir vorbeigehen. Wir schauen der dicken Kuh und dem schwarzen Raben zu, die uns mit Nichtbeachtung strafen. Und welche Form werden deine Wupper-Texte haben?, frage ich. Weiß ich noch nicht genau, lautet die Antwort. Ich denke über Haikus nach.

Das Industriemuseum in der ehemaligen Tuchfabrik Wülfing wurde von ehemaligen Mitarbeitern gegründet. Eines der schönsten Museen, die ich jemals besucht habe.

Schon einmal hat Tina literarische Texte zur Wupper zusammengetragen und zum Jubiläum der Uni Wuppertal herausgegeben. Damals wurde die Uni 30, jetzt wird sie 50. Die Zeitschrift ist leider vergriffen. Sie hat damals auf bestehende Texte zum Arbeiterfluss zurückgegriffen: Nietzsche hat sich in einem Brief geäußert, Kant hat sich geäußert über die Städte an der Wupper, auch Ortheil kommt vor. Oft sind es nur ein paar Zeilen, was sich aber durchzieht sind: Schiefer, Fabrikgebäude, Werkstätten. Und die Kluft reiche Fabrikbesitzer, arme Leute.

Beim Abhören der Texte höre ich ab hier: Vögelzwitschern und Schweigen. Und ich erinnere mich, dass wir an einer Stelle vom Weg abkamen und über umgefallene Bäume steigen mussten.

Wie ich diese Geschichte nun beenden soll, weiß ich noch nicht. Was vielleicht daran liegen mag, dass sie nicht zu Ende ist. Teil 2 handelt deshalb von Plan B, von dem Tina sagt, jede und jeder sollte ihn haben.

Lesen Sie hier Teil 2 (Plan B) der Geschichte.

Weiterführende Infos über die Straße der Arbeit

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