In einer Diktatur ist dein Kopf nie frei

Sie zieht gerade um. Und freut sich schon auf das Neue, das verrät das Timbre ihrer Stimme. Ihre Stimme ist sopran. Sopran und sehr gelassen.

Wir haben uns in Wuppertal an der Bushaltestelle Werk Öhde getroffen, um nach Beyenburg zu laufen. Straße der Arbeit, lacht sie, hört sich irgendwie harmlos an, aber meistens ist Arbeit ja doch mit Ausbeutung verbunden.

Die Straße der Arbeit
von Wuppertal nach Beyenburg

Tausend Sachen hat sie in ihrem Leben gemacht, einen geradlinigen Lebenslauf habe ich nicht vorzuweisen, sagt sie, mit einem Hauch Ironie in der Stimme. Sie hat Linguistik studiert, ist nach Basel gezogen, ist nach Nürnberg gezogen, hat Kinder bekommen, ist Industriekauffrau geworden, hat im Büro gearbeitet. Dann in einem Lager. Genauer genommen im Duft-Lager, wir haben Parfüm verpackt. Ich habe es geliebt da. Wir waren wie eine Familie. Bis das Kreuzband riss. Eigentlich war es ein Arbeitsunfall, aber ich habe nicht registriert, dass da was kaputt ist und bin am nächsten Tag in Urlaub gefahren, da war das Knie schon angeschwollen. Tja, das wars dann mit dem Duftlager.

Und jetzt, ist alles wieder ok? Ja. Naja. 2015 kamen die Flüchtlinge und das Bamf suchte Übersetzer:innen. Die suchen Leute wie dich, hat eine Freundin gesagt.

Rahel übersetzt und dolmetscht aus dem Tigrinya. Und wieder zurück ins Tigrinya, das ist ihre Muttersprache. Eigentlich haben wir in Eritrea neun Sprachen: Tigrinya, Tigre, Afar, Saho, Kunama, Bedscha, Blin, Nara und Arabisch. Seit wir in einer Diktatur leben, lernen die Leute nur noch eine Sprache. Wenn du in einer Diktatur lebst, ist dein Kopf nie frei.

Du fühlst stärker mit

Wo hast du geparkt, kannst du dir das merken, bis wir wieder zurück sind, fragt sie mich. Das ist ein Wesenszug von ihr, sich für andere verantwortlich zu fühlen. Wir haben uns zwei Wochen zuvor im Zug kennengelernt, als sie einem älteren Ehepaar ihren Platz angeboten hat. Das Ehepaar setzte sich und sie stand da im Gang mit ihrem vollen Kaffeebecher in der Hand und der Zug schwankte. Setzen Sie sich doch neben mich, bat ich sie, ein bisschen beschämt, dass nicht ich meinen Platz abgegeben hatte.

Rahel hat weder Führerschein noch Auto. Obwohl ich mir in den letzten Jahren manchmal eins gewünscht hätte, vor allem, als ich in den Ankerzentren gearbeitet habe. In Zirndorf, das ist in Bayern. Da kommt man schlecht mit den Öffentlichen hin. S-Bahn, Bus, noch ein Bus. Sie hat dort für das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge gearbeitet, mit Menschen, die aus Eritrea geflüchtet sind. Anstrengend. Gerade wenn es deine eigene Muttersprache ist. Schwierig, dich abzugrenzen. Du fühlst stärker mit, aber du urteilst auch härter. Weil du ja alles selbst mitgemacht hast. Zum Beispiel, was Sprache angeht, ich kenne das von meinen Geschwistern und mir, dass man eine neue Sprache superschnell lernt. Und denke dann immer: Mein Gott, ist doch nicht so schwer! Aber ist eben nicht bei allen so. Vor allem dann nicht, wenn man abgeschottet in einem Lager wohnt.

Muss man aus dem richtigen Land kommen?

Wuppertal ist die Stadt mit den meisten Treppen in Deutschland, sagt Rahel. Und wenn man oben ist, wird man belohnt. Die Aussicht ist grandios. Dass es hier sowas überhaupt gibt, passt irgendwie gar nicht zu Wuppertal. Sie lacht. Wir biegen falsch ab und laufen zwei Kilometer durch den Wald, einmal den Berg hoch und nach einer Kehre wieder hinunter und sind froh, dass wir falsch abgebogen sind. Der Frühling hängt in den Ästen, die Sonne scheint, im T-Shirt laufen wir unter der A1 durch auf die andere Seite.

Was die Leute auf der Flucht erleben, ist grauenhaft. Wenn sie sieht, wie groß die Hilfsbereitschaft und wie klein die Hürden für Flüchtlinge sein können – wow! Toll. Aber auch schmerzhaft. Wie soll man das verstehen! Muss man aus dem richtigen Land kommen? Die Eritreer, für die sie gedolmetscht hat, kamen jedenfalls aus dem falschen Land. Am schlimmsten waren die Berichte von der Balkan-Route, aus Ungarn, Serbien, Kroatien, sagt sie, teilweise kaum zu ertragen. Brutale Gewalt, Vergewaltigungen, Schläge, Demütigungen, vor allem gegen Frauen. Wenn du das übersetzt, erlebst du alles selbst mit. Du übersetzt ja nicht nur, du musst mit den Menschen sprechen, ihnen zuhören, Fragen stellen, Worte finden für das, was sie erlebt haben. Man kann vieles nicht 1:1 übersetzen. Oft kam sie nach einem Arbeitstag nach Hause und konnte kaum ein Wort mehr mit ihren Kindern wechseln. Supervision? Gab es nicht. Ist denen doch egal, wie es uns geht, und die Ironie ist aus ihrer Stimme verschwunden.

Die Bank am Randes des Marscheider Waldes winkt uns heran. Wir essen unsere Brötchen, tauschen gekochte Eier und Süßigkeiten aus. Wir rauchen einen Joint. Es ist der Tag, an dem der Sahara-Sand die Sonne verdeckt und den Himmel orange färbt.

Mittlerweile arbeitet Rahel in Solingen und begleitet eritreische Familien. Hilf dir selbst, sonst hilft dir der Sozialarbeiter, sagt sie. Wir lachen. Aber sie meint es ernst: Manche, sagt sie, schaden den Leuten oft mehr als sie ihnen nützen. Vor allem dann, wenn die Lösungen ausschließlich am Schreibtisch erarbeitet werden. Auch außerhalb ihres Jobs ist sie ehrenamtlich im Einsatz; sie zeigt mir ihr Handy, es ist voller Whatsapp-Nachrichten von Leuten, die ihr Dokumente schicken, mit denen sie nicht klar kommen.

Wir überqueren die Wupper und winken einem Angler, der bis zur Hüfte im Wasser steht.

Eines Morgens war die Wupper blau

Mit ihren Eltern und sieben Geschwistern ist sie Anfang der 1980er Jahre nach Deutschland geflüchtet. Sie wohnten in Solingen, wo sie auch jetzt wieder lebt. Die Wupper, sagt sie, war der dreckigste Fluss in Europa. Eines Morgens sind wir aufgewacht und die Wupper war blau! Die Fische sind mit dem Körper nach oben auf der stinkenden Suppe getrieben. Da war mal wieder irgendein Gift von einer Fabrik in den Fluss abgeleitet worden.

Heute ist die Wupper nur blau, wenn die Sonne scheint, und die Fische schwimmen unter Wasser

Sie war 13, als sie flüchten mussten, in Eritrea tobte der Unabhängigkeitskrieg mit Äthiopien, dem großen Nachbarn. Erst 2018 endete dieser Krieg und der äthiopische Regierungschef erhielt den Friedensnobelpreis. Doch aus dem Frieden entstand in Eritrea keine Demokratie. Die Aggression richtet sich nun gegen Teile der eigenen Bevölkerung. Rahels Eltern, die zurückgegangen waren, mussten ein zweites Mal fliehen, sie leben jetzt in Kenia.

Wir haben keine Lust mehr auf den asphaltierten Weg und laufen querfeldein. Sie geht viel zu Fuß, ist die Anstiege gewöhnt, weniger von München, mehr von Solingen. Eigentlich lustig. Ach, schön ist es hier. Aber wohnen möchte man in solchen Vierteln lieber nicht. Sie braucht das Urbane, die Abwechslung, die kurzen Wege zu Freunden und Kneipen. Wuchtige Bäume liegen quer auf dem Waldboden und versperren uns den Weg und wir müssen uns durchs Dickicht schlagen.

Wir sind schon viel weiter als die geplanten elf Kilometer gelaufen. Weil wir immer wieder vom Weg abgekommen sind. Zurück nehmen wir den Bus. Der erste fährt uns vor der Nase davon. Zum Glück, denn es wäre der falsche gewesen. Der zweite kommt 10 Minuten später. An einer Haltestelle sehen wir das Schild KZ Kemna. Oh. Ich google, während Fahrgäste aus- und einsteigen. Von 1933 bis 1934 war hier, in einer ehemaligen Putzwollfabrik. ein Konzentrationslager für politische Gefangene. Sag ich doch, sagt Rahel, Straße der Arbeit, das klingt irgendwie harmlos.

Weiterführende Links zur Straße der Arbeit

Die Straße der Arbeit, Etappe I von Wuppertal nach Beyenburg
Übersichtskarte (Sauerländischer Gebirgsverein, Bergisches Land)

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Ob die Buche weiß, dass sie sterben wird?

Das helle Holz der Buche leuchtet im Morgennebel. Kaum Äste trägt der Baum. Die Buche ist trocken geworden, sagt Rolf. Die kann man nicht einfach so fällen, das wäre zu gefährlich. Da braucht es eine Spezialtechnik, für die wir ein Anschlagseil den Hang hinaufziehen müssen. Mit einer Winde ist es am Rücker befestigt.

Rolf schleppt die Motorsäge, ein weiteres Seil um den Hals hängend („hält zehn Tonnen aus“), ich ziehe das Anschlagseil nach oben. Das wiegt 100 Kilo, hat Rolf gesagt. Ich ziehe 100 Kilo den Berg hoch, denke ich. Je höher es geht und je mehr Äste und Gehölz sich im Seil verfangen, desto schwieriger wird es.

Ich ziehe keine 100 Kilo hoch, denke ich. Rolf hilft mir, und wie auf einem Schiff ziehen wir im Gleichzieh das Seil nach oben, Rolf ungefähr 90 Prozent, ich 7. Die restlichen 3 schaffen es allein. Es ist kalt im Wald, aber ich schwitze schon aus allen Poren. Ich werde den Text gleich heute schreiben müssen, morgen werde ich Muskelkater haben. Vielleicht werde ich mir nicht einmal mehr ein Brot schmieren können.

Rolf sägt eine kleine Furche in einen Baumstamm, damit das zweite Seil, das um den Stamm geschlungen wird, besseren Halt hat. Das Anschlagseil wird durch den Schäkel Richtung Buche gezogen. Meine Muskeln zittern schon bei dem Wort ziehen. Das Seil ist nicht lang genug. Eckhard, fahr näher ran, ruft Rolf nach unten. Eckhard, der den Rücker bedient, muss mit dem Fahrzeug ein Stück näher an den Hang. Er wird in den Graben fahren, denke ich.

Eckhard fährt nicht in den Graben. Das Seil reicht jetzt locker bis zur Buche. Rolf schlingt es um den Stamm und befestigt es mit der Kralle. Dann sägt er die Buche an.

Wind und Wetter ausgesetzt

Manchmal, sagt Rolf, schaue er sich zum Spaß die Stümpfe gefällter Bäume an, um festzustellen, ob der Kollege sein Handwerk beherrscht hat. Die Bruchkante muss auf der richtigen Seite und in einer bestimmten Höhe angesetzt sein, damit sie wie ein Scharnier funktioniert und der Baum in die richtige Richtung fällt.

Ich stelle mich ein paar Meter entfernt, um Fotos zu machen, zumindest behaupte ich das, in Wirklichkeit habe ich Angst, dass mir der Baum auf den Kopf fällt. Ich trage zwar einen Helm mit Gesichtschutz, aber der hilft natürlich nur gegen die kleinen Äste und Zweige. Rolf sägt von zwei Seiten tief ins Holz hinein. Ob die Buche weiß, dass sie gleich sterben wird? Noch bevor ich auf Video drücken kann, fällt sie knackend und krachend um. Mir wird kalt ums Herz. Und ich bin irgendwie froh, dass ich das Fallen nicht aufgenommen habe.

Rolf neigt nicht zur Sentimentalität, aber auch ihm macht das großflächige Bäumesterben zu schaffen. Am meisten ist die Fichte betroffen. Und durch das Fichtensterben verlieren auch die Laubbäume den Schutz des Waldes und sind plötzlich Wind und Wetter ausgesetzt. Sie sind dafür gar nicht ausgerüstet, ihr Wurzelwerk ist entsprechend ihrer früheren Position gewachsen. Die Buche stand früher am Rande des Fichtenwalds. Am Schluss stand sie da, wo nur noch Stümpfe stehen.

Die Fichte, sagt Rolf, ist unser Brotbaum und trinkt einen Schluck vom mitgebrachten Cappuccino. Wir stehen um den Unimog herum und essen Brote und Kekse, die wir auf der Ladefläche ausgebreitet haben. Rolfs Frau Heidi und der Hund Otto sind auch vorbeigekommen. Otto betrachtet mich misstrauisch, befindet aber nach einiger Zeit, dass ich in friedlicher Absicht gekommen bin. Vor der Flurbereinigung, sagt Rolf, hatten viele Waldbesitzer „hier ein Stück, da ein Stück, da war eine Bewirtschaftung gar nicht möglich.“ In den 1970er Jahren wurden die zerstückelten Nutzflächen zusammengeführt und neu verteilt.

Die Stunde der Fichte hatte geschlagen.

Und die der Monokultur. Sein Vater hat die Babyfichten, die sich auf den Wirtschaftswegen zwischen den einzelnen Parzellen breitmachten, ausgegraben und in sein Waldstück befördert. Später haben Rolf und sein Bruder sich um die Fichten gekümmert. Und nun ist innerhalb nur kurzer Zeit ein Großteil des Waldes zerstört, Folge der drei heißen Sommer, die die Bäume ausgetrocknet haben.

Die Luft war schwarz vor Buchdruckern

Ein gesunder Baum wehrt sich gegen Schädlinge, indem er sie in Harz ertränkt. Doch wenn der Baum nicht genügend Flüssigkeit hat, um Harz zu produzieren, ist er den Angreifern ausgeliefert. Ganz schwarz sei im Sommer manchmal die Luft vor lauter Buchdruckern. Buchdrucker sind Borkenkäfer, die es vor allem auf Fichten abgesehen haben.

Wir fahren mit dem Unimog auf die andere Seite des Kamms, dort, wo ein Kreissägenkünstler Skulpturen aus dem Holz gesägt hat, seltsame Fabelwesen, Schlangen, die aus dem Wald kriechen, verwitterte Phantasiegesichter, aber auch ein Doppeldecker und eine Dampflok. Wir schauen auf den kahlen Hang jenseits des Othetals, der wie ein Krater aussieht. Am westlichen Teil des Kraters wurde bereits aufgeforstet. Viele Waldbesitzer, sagt Rolf, setzen heute auf die Douglasie anstelle der Fichte. Sie ist etwas robuster. Aber man habe mit dieser Bewirtschaftung überhaupt keine Erfahrung, und außerdem, wenn die Preise der Douglasie in die Höhe steigen, nimmt man eben doch wieder mit der Fichte vorlieb.

Am besten, sagt Rolf, macht man jetzt einfach mal gar nichts. Er habe das bereits an einem anderen kleinen Waldstück ausprobiert. Die Natur erholt sich und es siedeln sich im Totholz Insektenarten und Pflanzen an, die vorher nicht da waren.

Fahrt mit dem gelben Unimog (Baujahr: 1971) durch das Othetal

Rolf ist nicht nur Waldbesitzer, sondern auch Schlosser und Schweißer. In jungen Jahren hat er Leistungssport betrieben. Gewichtheben. Das beruhigt mich. Man braucht offenbar jahrelanges Training, um noch mit 68 Jahren 100 Kilo Seil fast mühelos durch den Wald ziehen zu können, während mir nach zehn Minuten schon die Oberarme brennen. In Bergneustadt, sagt Rolf, habe er ein eigenes Fitnessstudio betrieben. Aber das ist lange her. Heute arbeitet er ab und zu noch für eine Sägemühle, für die er Pfosten für die Zäune baut und manchmal konstruiere er spezielle Arbeitsgeräte, je nachdem was gerade benötigt wird. Der Chef lässt mich machen, sagt Rolf und seine Augen strahlen, wenn er vom Arbeitsgeräte-Erfinden erzählt. Wie beim A-Team, denke ich und kann mir Rolf gut vorstellen, wie er aus Unimog, Rücker und Seilwinde zum Beispiel ein Borkenkäfer-Abwehrsystem baut.

Bevor du fährst, klingel noch kurz durch, hat Heidi gesagt. Und das mache ich auch. Über den Gartenzaun reicht sie mir sechs Eier. Die sind von den Hühnern, die sie im Garten hält. Die sind sowas von bio, sagt sie, die essen, was wir essen. Zwei weiße Eier, zwei braune Eier, und zwei sind grün. Ich staune. Die hast du doch angemalt, sage ich. Sie lacht. Nein, sagt sie, Aracauna-Hühner.

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Etappe IV von Gummersbach nach Eckenhagen – Versteckte Wege
Übersichtskarte (Sauerländischer Gebirgsverein, Bergisches Land)

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Von Menschen, die in Kapseln wohnen

Ich treffe sie an der Bushaltestelle der Linie 303.

Ich studiere die Aushänge, als wären sie in einer fremden Sprache verfasst. Fährt der Bus nach Gummersbach, frage ich, und sie sagt ja und dass der Bus normalerweise eine Schleife fahre, aber wegen einer Baustelle halte er vorübergehend nur hier. Deshalb die verwirrenden Aushänge. Ich sei also richtig.

Ich esse ein Kindercountry und weil sie so jung aussieht, biete ich ihr auch eins an, sie will nein sagen, sagt aber ja, bzw. etwas in ihr sagt ja. Wir schweigen ein bisschen. Dann ist es komisch zu schweigen, die Süßigkeiten verbinden uns und wir kommen ins Gespräch.

Sie staunt, dass man freiwillig 20 Kilometer durchs Gelände gehen kann.

Sie arbeitet im Rahmen eines Freiwilligen Sozialen Jahrs in der Pflege. Die Arbeit in der Klinik gefällt ihr. Sie sei nämlich sehr schüchtern und bei dieser Arbeit habe sie viel Kontakt zu anderen Menschen. Der Kontakt komme quasi von selbst mit der Arbeit. Außerdem mag sie die Geschichten, die die Patient:innen erzählen. Manche erzählen nichts, aber viele erzählen sehr viel. Und noch etwas: Es sei schön mitzuerleben, wenn Menschen gesund werden. 

Inklusive Pausen verbringt sie jeden Tag neun Stunden in der Klinik – pendeln nicht mitgerechnet. Deshalb kann sie sich mit mir auch nicht zu einem Spaziergang auf der Straße der Arbeit verabreden, sie hat einfach keine Zeit.

Erzählen Sie mir eine Geschichte

Wir sitzen im Bus und sehen aus dem Fenster und fahren auf der kurvenreichen Landstraße der Arbeit nach Hause. Sie will ihr Abitur nachholen und Kunstlehrerin werden. Sie kann nämlich sehr gut zeichnen. Sie verkaufe bereits einige ihrer Werke, kleine Zeichentrick-Serien und Mangas. Sie zeigt mir auf dem Handy eine Zeichnung, ein Junge mit einer Mütze und daneben ein japanisches Schriftzeichen. Sie schreibt auch Geschichten und manchmal zeichnet sie diese Geschichten.

Erzählen Sie mir eine Geschichte, sage ich.

Sie überlegt kurz und dann überlegt sie noch einmal länger. Vielleicht die hier, sagt sie. Sie handelt von Menschen, die in einer Kapsel leben. Sie denken, die Welt ist so, wie es in der Kapsel ist, und wissen nicht, dass es eine Kapsel ist, in der sie leben.

Wie das Höhlengleichnis, oder?, sage ich.

Kenne ich nicht.

Von Platon, sage ich. Sie zuckt mit den Schultern. Ich erzähle ihr das Höhlengleichnis und sie stimmt mir zu, dass es ähnlich ist. Nur die Schatten fehlen in ihrer Geschichte, stattdessen lernen ihre Menschen anhand von Erinnerungen und Erzählungen anderer, und ein paar Generationen später erkennen einige, dass es ein Leben außerhalb der Kapsel geben muss. Und machen sich auf den Weg nach draußen. 



Warum, frage ich, erkennen es die einen, und die anderen nicht?

Es hat, sagt sie, vielleicht mit den Monstern zu tun. Es sind natürlich gar keine echten, es sind künstliche Monster, sie wurden nämlich von Menschen geschaffen, aber nicht von denen, die in der Kapsel leben, sondern von Menschen, die außerhalb leben und alles kontrollieren.

Der Bus fährt seit 20 Minuten halsbrecherisch über die bergischen Dörfer, es gibt sehr viele Kreisverkehre und ich sitze gegen die Fahrtrichtung. Die Monster sitzen jetzt in meinem Magen und randalieren.

Warum haben die Menschen denn diese Monster geschaffen, frage ich.

Es ist, sagt sie, ein wissenschaftliches Experiment. Sie experimentieren mit den Menschen in den Kapseln, sie wollen wissen, wie Menschen sich verhalten, wenn man sie mit Monstern in eine Kapsel sperrt.

Sterben die Monster am Ende?

Der Bus fährt über einen Platz, links und rechts Polizei, wir schauen beide nach draußen, alles leuchtet blau.

Offenbar ist da etwas passiert, sage ich. Sterben die Monster am Ende?

Eigentlich nicht, sie sind ja künstlich, sagt sie und wir überlegen beide, ob etwas, das nur künstlich ist, sterben kann. Sie glaubt nein. Ich bin nicht sicher, ich bin nur sicher, dass ich darüber noch öfter nachdenken werde.

Das Ende der Geschichte, sagt sie, ist offen, das gefällt mir nicht so gut. Irgendwie ist die Geschichte noch nicht zu Ende.

Vielleicht, schlage ich vor, gibt es eine Fortsetzung, einen Teil II. Übrigens, wieso verlassen am Ende nicht alle Menschen die Kapsel?

Weil die meisten einfach nicht glauben, dass es ein Leben außerhalb gibt, sagt sie. Sie halten die anderen für Spinner, für Phantasten. Und die Monster halten sie für echt.

Und was unterscheidet die Phantasten von den anderen?

Die Hoffnung. Sie glauben an etwas und sie hoffen, dass es das, an was sie glauben, wirklich gibt.

Gefällt mir sehr gut, Ihre Geschichte, sage ich. Im zweiten Teil könnten die Phantasten sich ja auf die Suche machen nach dem, an das sie glauben. Ob es das wirklich gibt.

Ich muss jetzt aussteigen, sagt sie. Sie heiße Melina.

Melina steigt aus dem Bus, und ich setze mich in Fahrtrichtung. In meinem Magen ist es jetzt still. Vielleicht, denke ich, ist der Bus ja auch eine Kapsel. Und in zweihundert Jahren finden spätere Generationen Reste vom Asphalt und die Spuren der Linie 303, die ihre Schleifen fährt.

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Etappe IV von Gummersbach nach Eckenhagen – Versteckte Wege
Übersichtskarte (Sauerländischer Gebirgsverein, Bergisches Land)

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Der Typ

Du, ich bin einfach nur froh, wenn ich heute hier rausgeh. Ich komm hier jeden Tag mit guter Laune. Sagen alle: Sonnenschein. Und so will ich auch wieder gehen.
Aber der Typ? Der Typ?!
Ich versteh ja alles erstmal. Vielleicht Drogen. Oder Familie. Sicher hat der es auch nicht leicht. Das ist aber noch kein Grund.
Nein, Doris, nein. Du machst dir keine Vorstellungen. Der vergrault mir die Leute. Das ist mal das erste. Und das zweite ist: Der riecht. Das hab ich denen auch gesagt. Ich so zum Ordnungsamt: Ich kann da gar nicht rangehen! Wobei, erstmal war ja immer noch Polizei.
Ich erstmal die Polizei angerufen, aber die Polizei kommt nicht raus. Die kommt einfach nicht raus, Doris, die kann nur Knollen eintreiben, sonst nichts! Aber Knollen eintreiben, das können die. Du, ich muss mal auf die Uhr gucken. Hab noch Pause, aber nicht mehr lang.
Jedenfalls, ich also dann Ordnungsamt angerufen. Und die sind auch gekommen, sechzehn Minuten später. Da hast du nur gehört: Mit dem kann man nicht umgehen, woll? Ja, vielen Dank, das hab ich auch schon gemerkt.
Die haben den dann weggeschickt. Eine Stunde, dann stand der wieder da. Wieder Krawall gemacht, wieder die Leute angeschrien. Unmöglich, Doris, unmöglich! Der macht da eine Riesenwelle. Ich sag ja, der tut mir auch leid.
Aber was das soll? Der steht mir direkt am Eingang! Ich so: Ist der von der Konkurrenz? Jetzt hab ich noch fünf Minuten. Dann muss ich wieder rein. Weiß nicht, was ich heute noch machen soll. Doris, mir ist ganz schwindlig!
Aber ja.
Aber ja.
Gibt immer zwei Seiten, woll?
Aber wenn vor deinem Laden einer ausrastet, über Stunden, da kriegst du es einfach mit der Angst.
Wir jedenfalls: Nochmal das Ordnungsamt. Und da geht keiner ran. Und wir: Wieder angerufen. Bescheid gesagt, Viertelstunde, kommt keiner. Und natürlich kommt auch sonst keiner mehr. Würd mich da auch nicht in die Nähe trauen.
Hab gedacht, nicht, dass der mir noch, ich weiß nicht, Doris, was ist mit den Leuten? Also wieder beim Ordnungsamt geklingelt. Kommt keiner, woll?
Nein.
Ich schwöre.
Ich. Schwöre. Es. Dir.
Doris! Die haben gesagt: keiner frei.
Wir schreiben jetzt einen Brief.
Wir schreiben einen Brief, der geht direkt an den Bürgermeister. Die Brigitte, die kennt sich da aus. Der geht ins Rathaus, bis ganz nach oben, und dann sehen wir mal. Hat die Brigitte gesagt. Und ich sag: Mir reichts für heute. Ich geh da nicht wieder rein. Doris, ich war gestern beim Arzt. Du weißt nie, wie lang das Leben noch geht. Schau dir die Jessica an. Der Jessica, der haben sie es letzte Woche einfach ins Gesicht gesagt. Was meinst du, wie sich ein Mensch da fühlt? Was meinst du, was da los war.
Ich hab morgen erstmal Friseur. Das ist auch nötig. Und dann sehen wir weiter. Da war nur noch ein Termin freu. Aber der geht ja in einer Stunde durch bei mir. Und wenn ich Montag wieder in den Laden komm, und wenn dann da immer noch der Typ ist, und wenn der dann immer noch schreit, dann weiß ich auch nicht, woll?
Ich mach jetzt Schluss.
Aber schnell, sonst guckt noch mein Chef.

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Die Kneipe

Ulli, pass auf, es ist so. 2019. Schon 2019 hab ich da manchmal mutterseelenallein am Tresen gesessen. Da kann ich mein Bier auch zuhause trinken. Setz ich mich vor den Spiegel, dann ist mehr los. Und billiger ist das auch.

Also komm mir nicht mit Corona. Corona haben alle gehabt. Aber da war schon vorher niemand, Ulli. Keine Sau. Und deshalb sag ich, der Lothar macht nicht mehr lang. Der macht nicht mehr lang, und das ist gut so. Der hat fertig, der Lothar. Weißt du, wie alt der ist? 60, 61, sowas. Und wenn die vergessen haben, dem in die Rentenkasse zu zahlen, was sie sehr wahrscheinlich vergessen haben: ein ganz armes Schwein. 

Naja, so ist das. Früher haben wir alle gedacht: Hallo, wir sind die Könige! Das ist halt vorbei. Aber Stammgäste nimmst du nicht aus, Ulli, dabei bleibt es. Die Stammgäste sind dein Kapital. Das hat der Lothar nie verstanden. Da hast du einmal dein Portemonnaie vergesssen, einmal schwach auf der Tasche, da ging der Hahn zu. Und deshalb ist da keiner mehr hin, mein Lieber. Corona, von wegen. 

Jetzt hat er es noch mit einer neuen Kellnerin versucht. Meint die, sie wär bildhübsch, hat sie selbst gesagt. Ich hab die ignoriert, mein Gott, es gibt schönere. Ist nicht meine Welle, sag ich zu meiner Frau. Ich sag: Zahl du bei der, und dann gehen wir. Und das haben wir gemacht. Und sind dann runter zu der neuen. Die gefällt mir ja nicht. Gar nicht gefällt die mir, schon das Interieur. Aber die nehmen für frisch Gezapftes einen Euro. Null vier! 

Klar, Ulli, klar. Das ist der Einstiegspreis. Aber so hab ich das auch bei der Gans erlebt, die waren ewig auf eins fuffzig. Die hatten da immer ein Dreißig-Liter-Fass. Und in zwei Stunden haben die locker zwölf Fässer durch. Dann hatten die mal die Brauerei gewechselt. Das ging auf eins siebzig, aber das hielt sich auch lange. Und jetzt sind sie auf zwei. Aber was krieg ich sonst für zwei? Nichts, Ulli, nichts! Ich will nur mein Bier trinken, in Remscheid. 

Und der Lothar, der versteht es einfach nicht. Der lässt ihn verkommen, den schönen Laden. Wirst sehen, am Ende steht der da, mit seiner Zicke von Kellnerin, und zählt aber die Penunze. Das wär früher nicht passiert. Als noch der eine die Kneipe gemacht hat, der eine mit dem Bart. Der, wo immer selbst noch die Leiter hoch ist. Weil oben der Fusel steht. 

Weißte doch selber, wie der heißt! Der ist jetzt in Günzburg. Günzburg, Ulli! So sind halt die Zeiten. Ich warte einfach darauf, dass der Lothar die Miete nicht mehr zusammenkriegt. Das ist bald soweit, und dann: Bing! Wechselt die Truppe. 

Der ist ja gar nicht Hauptpächter. Der Hauptpächter sitzt auf Malle. Ewig schon. Weiß aber keiner genaues. Ich war neulich auch da. Malle, mein ich. Geht ja jetzt wieder. Und was soll ich sagen! Weißt du selbst, Ulli, weißt du selbst. Die haben Kneipen. Schweden! Finnen! Deutsche! Iren! Holländer! Alle in einem Laden. Und was du sonst noch denken kannst. Pool. Billard. Dart. Wahnsinn. Nur essen kannst du da nicht. aber da musst du dich halt entscheiden. Ob du essen willst oder trinken, Ulli. Im Leben. 

Na. Wir wollen mal sehen, wie lange der Lothar es noch macht. Leid tut er mir schon, das geb ich zu. Aber ich hab’s ihm immer gesagt. Jetzt ist es zu spät. Jetzt kommt erstmal der Weihnachtsmarkt, mein Lieber. Und Weihnachtsmarkt, das ist ein Gemetzel, das weißt du. Da kommt keiner gut raus. 

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Zwischenruf: Schnipsel IV

Als Regionenschreiber ist man ja oft auf der Jagd. Nach DEM Satz, der wirklich etwas von der Umgebung erzählt, DEM Moment, in dem Menschen etwas offenbaren. Die Jagd macht müde. Deshalb setzt man sich. Und wenn man dann sitzt, ereignen sich Satz oder Moment manchmal völlig unvermittelt. Viel öfter noch ereignet sich gar nichts. Und am häufigsten ein Weder-Noch, das erstaunlich dringend aufgeschrieben sein will. Verstreute Notizen.
(Anm.: Auch eine liebgewonnene Gewohnheit vom letzten Mal; Schnipsel I & Schnipsel II, Schnipsel III)

Remscheid, Alleestraße. Die Dame, die sich vom Stuhl hievt, den Tisch umkurvt, ihren Rollator stehenlässt, die rüstig zum Eingang des Backshops wackelt und durch die Tür ruft: „Hallo! Chef! Eine Bestellung!“
„Selbstbedienung!“, kommt es von drinnen.
Die Dame prustet: „Nö, dafür bin ich zu alt.“

Remscheid, Theodor-Heuss-Platz. „Spielt ihr hier richtig Basketball oder nur just for fun?“ Der Mann quatscht die zwei Jungs an, die auf den Korb am Remscheider Löwen werfen. Das heißt, sie haben geworfen – bis die noch winzige Tochter des Mannes im pinken Anorak den Ball geschnappt hat und hinweggewetzt ist. Sie spielten schon richtig, sagen die Jungs unwohl und blicken ihrem Ball hinterher, den das Mädchen nun Richtung Allee-Center trägt. Ihre Mutter läuft ihr hinterher und versucht die Kleine sanft zu überreden, das fremde Spielgerät wieder herzugeben. „Welche Position?“, fragt der Mann die Jungs fachmännisch, „Ah, Point Guard, verstehe“, sagt er, „Ist gut, wie ihr das spielt“, sagt er, „sehr, sehr gut.“ Die Jungs nicken zunehmend unwohl, der eine dreht sich zum wiederholten Mal nach ihrem Ball um, als ein Schrei ertönt, gleich darauf die Tochter auf dem Arm der Mutter zurückkommt, die Mutter ruft: „Jetzt ist Alarm!“ Die Jungs wollen wissen, wo ihr Ball geblieben ist. „Na, vielleicht macht ihr mal Schluss für heute“, sagt der Mann, räuspert sich und geht im Stechschritt davon.

Remscheid, Peterstraße. Eine junge Frau versucht, einen Pekinesen zu bändigen. Das Tier springt an ihr hoch, schüttelt den Pelz, schnappt übermütig nach Frauchens Händen. Zwei Passanten bleiben stehen und finden den Hund putzig und süß. Die Frau fährt entnervt herum: „Mich können‘se auch mal anfeuern, danke!“

Remscheid, Carl-Friedrich-Straße. Zwei Schüler grinsen über das ganze Gesicht und zeigen dabei hervorragend justierte Zahnspangen. Der eine hält ihnen ein Handy vor die Gesichter, sie hören einer Stimme zu, ihr Grinsen wird immer breiter dabei. Das silberne Blitzen des eingespeichelten Metalls, bis der andere, er hat einen kiffenden Teddybär auf dem Pullover, die Handystimme schließlich auflachend unterbricht: „Klar, wahrscheinlich. Dann bin ich jetzt plötzlich so einer, der mit einer Zwei nicht mehr zufrieden ist?“

Remscheid, Gewerbeschulstraße. Zwei Schülerinnen, dick geschminkt, noch dicker angezogen, schlurfen der überraschend prallen Sonne entgegen. Der einen verläuft der Mascara: „Sind wir in zehn Minuten am Rathaus oder was meinst du?“ Die andere zieht an ihrem Seidenschal: „Keine Ahnung, in dem Tempo bleiben wir hier.“

Remscheid, Hindenburgstraße. Der glatzköpfige Mann mit verkniffenen Augen, der an der Bushaltestelle lehnt. Er lässt Bus um Bus um Bus vorbeiziehen, ohne sich auch nur umzudrehen. Das weiße Shirt platzt ihm fast über dem Bauch, er hat es trotzdem in die Hose gesteckt, Tätowierungen quellen aus den Ärmeln und dem Halsausschnitt. Sein Gesicht ist rot, und als die Kellnerin des nahen Cafés aus der Tür kommt, durchzuckt es ihn plötzlich: „Ey, ey, ey!“ Er brüllt, er zeigt auf die Teller, er zeigt auf die Kinder, die die Teller bekommen, alle starren ihn an, er sagt leiser: „Lecker Waffeln.“

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