Man könnte sagen, die Wege sind gespurt

Ich fuhr durch Schnee- und Rapsfelder, durch militärisches Sperrgebiet und Autobahnunterführungen. 

Ich passierte die Wahlplakate von Florian, Christian, Stefan, Michael, Christina und noch einigen Michaels mehr. 

Ich duckte mich unter umgefallenen Baumstämmen, stand vor aufgerissenen, abgesenkten Straßen, kehrte um, suchte neue Wege, stand im Nichts, an roten Ampeln, vor geschlossenen Schranken. 

Ich hatte Rückenwind, Gegenwind, Seitenwind, Wind von schräg vorne, von schräg hinten, insgesamt viel Wind. 

Ich fuhr auf Bundesstraßen, Feld- und Radwegen, wich auf Gehwege aus und nutzte alte Bahntrassen.

Ich wurde geschnitten, angehupt und großzügig umfahren.

Ich machte Rast, aß Kuchen und Eis, füllte Trinkflaschen auf.

Ich sah Fertigungshallen und Logistikzentren, Zechentürme und Windräder, Kohlekraftwerke und Bauernhöfe, Pferdegestüte und Arbeitersiedlungen und Abräumhalden und Schützenhäuser. 

Ich hätte sehr viel Spargel und sehr viele Erdbeeren kaufen können. 

Ich überquerte Lippe, Ruhr, Funne und den Datteln-Hamm-Kanal. 

Ich fuhr an den Ufern von Möhne- und Sorpsesee, glitt über makellosen Asphalt. 

Und wurde auf Kraterstraßen heftig durchgerüttelt. 

Ich kam öfter vorbei als der Bus. 

Ich fror und schwitzte, 

ich wurde naß, 

ich hatte Krämpfe.

Mir taten die Füße weh, der Rücken auch. 

Ich hatte Pannen, wurde dreckig, ich putzte das Rad. 

Ich durchfuhr vier Monate lang den Hellweg.

Man könnte sagen, die Wege sind gespurt.

Folgt mir gerne nach, es ist sehr schön, und noch sind die Tage lang. 

Auf den richtigen Wind, glatte Straßen und gefüllte Trinkflaschen. 

Ich jedenfalls werde wiederkommen. 

Mehr von Dorian Steinhoff

mit j

Ich bin spät dran. Schnell jetzt, Druck aufs Pedal, Kopf runter, klein machen, noch ein guter Kilometer, immer leicht bergauf durch den Ort, links und rechts Geschäfte, glaube ich, ein paar Leute sind auch unterwegs, vielleicht zum Brötchenholen, vielleicht mit Glitzer an den Schuhen, blauen Strasssteinen auf den Fingernägeln und Jagdflinte über der Schulter, wer weiß das schon, ich kann es nicht sagen, an den Rändern zieht der Sonntagmorgen im Dorf nur vorbei, in dieser Haltung tauge ich nicht als Zeuge fürs literarische Detail, zu tief beuge ich mich über den Lenker, die Augen fix auf die nächsten Asphaltmeter vor mir gerichtet, Kanaldeckel, Bodenwelle, Schlagloch, umfahren, abfedern, ausweichen, ich nehme einem Auto die Vorfahrt, sorry, sorry per Handzeichen, in der Kurve durchziehen, weiter, weiter, schön auf dem Gas bleiben, atmen, Schultern runter, Hände locker auf den Hoods, rund treten, noch kleiner machen, der Fahrtwind sticht im Gesicht, es ist kalt, der frühe April hat nochmal Frost und Schnee gebracht, vor zwei Tagen wehten noch schwere, nasse Flocken schräg über Felder und leergefegte Supermarktparkplätze, während ich froh war, meine Wohnung nicht verlassen zu müssen. J hatte gesagt, er wolle an dem Tag vier bis fünf Stunden unterwegs sein. In den Beinen jetzt schon das vertraute Auflodern, und die Leistungsdaten auf dem Radcomputer sagen: ja, das darf schon ein bisschen weh tun. Schnell jetzt. Ich bin spät dran.

J sieht mich nicht gleich. Ich winke ihm zu, er rollt den kurzen Weg an den Tanksäulen vorbei, rüber zur Staubsaugerstation, wo ich stehe, mein Rad an die Außenwand der Waschanlage gelehnt. Ich nehme meine Sonnenbrille ab. Wir begrüßen uns und er entschuldigt sich dafür, dass er zu spät ist. Ich habe meine Windweste geöffnet und immer noch einen schweißnassen Rücken, und dass, obwohl es keine vier Grad warm ist. Kein Problem, sage ich, war selbst spät dran. 

Hab schon voll angefangen zu schwitzen, sagt er. 

Sollen wir noch kurz Wasser kaufen, frage ich. Ich zeige zum Tankstellenshop. 

Ach so, sagt er, nee, du kannst einfach eine von meinen Flaschen haben. 

Die Trinkflasche, die er mir reicht, ist zerschunden und zerkratzt, sieht aus, als wäre sie einen kilometerlangen, felsigen Abhang Tag für Tag, über wirklich lange Zeit, immer wieder herunter gerollt. Genau so muss eine Trinkflasche aussehen, denke ich und stecke sie in meinen Flaschenhalter. Und sorry nochmal, Ist mir noch nie passiert, dass ich meine Flaschen zu Hause vergesse, sage ich noch. Richtung Boden, mit dem Rücken zu ihm.

Wir fahren Lenker an Lenker über die B1, dieses schnurgerade Asphaltband. Als weit größerer Fahrer überragt J mich auf seinem Rad deutlich, hält die Windstöße der vorbeirauschenden Autos aus meinen Speichen. Hinter den Logistik- und Produktionshallen, die sich parallel zwischen Autobahn und Bundesstraße aneinanderreihen, ragen im Norden die Schlote der Kohleindustrie in den Himmel, während sich die Landschaft in südlicher Richtung sanft und geschwungen anhebt wie eine glattgezogene Herzfrequenzkurve. Nach kurzer Strecke biegen wir rechts ab, rein in die topographische Ankündigung des Sauerlands, und es geht das erste Mal ein Stückchen bergauf, ich gehe aus dem Sattel, meine Kette springt beim Schalten klackend über die Ritzel, es rollt richtig gut, wir haben die Schlote jetzt im Rücken, fahren auf Feldwegen vorbei an dem, was in ein paar Wochen schon sternengelb und maigrün auf Oberrohrlänge stehen wird, jetzt aber noch schneegefleckter Zeuge einer Verspätung ist.  

Ich freue mich über den Leichtgang meines neuen Rades und nehme einen ersten Schluck aus der Flasche, deren Trinköffnung auch schon so mitgenommen ist, dass das Wasser in verschiedenste Richtungen austritt und mir teilweise direkt wieder seitlich aus dem Mund läuft. Ich hoffe, du musst davon nicht kotzen, sagt J. Dem Wasser ist irgendwas beigemischt, auf einer Weinprobe würde man wohl von starker Mineralität sprechen. Geht voll klar, sage ich. Und: wer seine Flaschen vergisst, darf sich sowieso nicht beschweren.

Vor uns liegen Äste quer über dem Ruhrradweg, von der einen Seite rauscht der Verkehr der A445, von der anderen das Wasser und wir schieben unsere Räder durch die Uferböschung, vorbei an den Hindernissen. Das muss echt heftig gewesen sein, sage ich, und trete mir Laub und Erde aus den Cleats, bevor ich wieder aufs Rad steige und wir unsere Fahrt bis zum nächsten umgestürzten Baum fortsetzen. 

Warst du am Freitag bei dem Schneesturm eigentlich wirklich unterwegs? 

Ja, sagt er. 

Alter, ich hab an dem Tag keinen Fuß vor die Tür gesetzt. 

War auch ziemlich einsam. 

Wir bücken uns noch ein paar Mal unter feuchten Stämmen hindurch, bis wir Radweg und Ruhr wieder verlassen. Ich fahre auch jede Straße immer zu Ende, sagt J. Klar, antworte ich, man hat ja schließlich eine Strecke geplant. Wir lachen diesen Sätzen ein kleines bisschen hinterher, ein Kommentar in Lauten, der dem Gesagten neben Zustimmung vor allem hinzufügt, dass Umwege einen auch vor erhebliche Schwierigkeiten stellen können, vor allem in unbekannter Umgebung. In Frankreich stand ich einmal vor einer gesperrten Brücke, die nächste befand sich 30 Kilometer flussaufwärts.

Wofür trainierst du eigentlich gerade, frage ich, als wir uns die erste längere Steigung hocharbeiten und die Schneereste am Fahrbahnrand Höhenmeter für Höhenmeter größer werden. Das nächste Rennen ist die Tour of Turkey, das ist so ein Highlight, und dann läuft alles auf die Deutsche Meisterschaft im Zeitfahren raus, meine Spezialdisziplin. Und du, was hast du vor? 

Ötztaler, sage ich.

Ja, so siehst du auch aus, wie so ein Kletterer.

Auf der Abfahrt fahre ich hinter ihm her, versuche seine Linie zu halten, beobachte, wann und wie er bremst, die Kurven anfährt, einlenkt. An mehreren Stellen fließt Schmelzwasser quer über die Straße, das mir von Js Hinterreifen entgegenspritzt. Auf einem Flachstück lässt er sich einmal kurz hinter mich fallen, um im Windschatten zu telefonieren. Wieder neben mir sagt er, oh man, ich habe so eine Mailbox, seit über 10 Jahren die selbe Ansage, auf der klinge ich noch wie ein Kind, und manchmal rufen Leute an, nur um die zu hören, weil sie’s witzig finden.

Nach 90 Kilometern, einem ständigen Auf und Ab, vorbei an der krausen Wasseroberfläche des Sorpsesees, durch kahle Wälder, an Elektrozäunen entlang, die matschige Koppeln und zertretene Stallausläufe umstellen, halten wir in Fröndenberg für einen Coffee Stop. Die Fußgängerzone der Kleinstadt ist vollgepackt mit Leuten, irgendein Stadtfest ist im Gange, überall Buden, Stände, der Geruch von Frittiertem hängt neblig in der Luft. Als wir unsere Räder abstellen, die Radcomputer aus ihren Halterungen nehmen, spricht J ein älterer Herr an, sie scheinen sich zu kennen, wir grüßen knapp. Ich bekomme nur halb mit, worum es in ihrem Gespräch geht.

Es ist das erste Wochenende nach Ende der bundesweiten Maskenpflicht in allen Innenräumen, und ich betrete seit Monaten ein Café ohne Mund- Nasenschutz und fühle mich unsicher bis unwohl dabei. Wir beugen uns runter zur Kuchenauslage, in der Torten mit beachtlichem Sahne- und Butteranteil auf ihren Blechen Parade stehen. Wir bestellen Kaffee und Apfelstreusel, suchen uns einen Tisch, die Gardinen haben Spitze, an den Nebentischen, die pandemiegerecht weit auseinander stehen, sitzen Herren in karierten Hemden, weißen Haaren zusammen mit Frauen in bunten Blusen und Perlenohrringen. Das erste Mal sehen wir unsere Stirnen ohne Helm, dafür mit Haaren. Ein Moment fast wie FFP2-Maske abnehmen vor Leuten, die man zum ersten Mal trifft. Das war mein alter Trainer, sagt J, gleich startet so eine Modenschau, und der will, dass ich da auf der Bühne irgendwas sage.

Oh, mache ich.

Ach, der ist okay und fördert den Radsport in der Region echt und will dann eben seine Talente zeigen.

Mit eintretenden Leuten weht immer wieder die Straßenfestsituation ins Café. Die Pause tut gut, der Kaffee schmeckt, wir wischen ein bisschen auf unseren Handys rum, haben es nicht eilig mit dem Weiterfahren. Als wir vors Café treten, schaut J sich noch zwei Mal um, der ältere Herr von vorhin ist nicht zu sehen. Über den Platz schallt irgendein austauschbarer Popsong. Willst du den noch suchen, frage ich. Nee, lass fahren, sagt er.

Die letzte Steigung, dann blicken wir wieder über Höfe, Hallen, Autobahnen, Zechentürme, Kraftwerkschlote, der Hellweg in seiner eigentümlichen Mischung, in der die Zeichen ganz unterschiedlicher ökonomischer Epochen in die Gegend gewürfelt nebeneinander liegen. Wir sind gut schnell unterwegs. Der Kuchen treibt nochmal ordentlich jetzt, sagt J. Und ich stimme zu: ja, der Kaffee auch. Noch ein paar Kurven, die wir Lenker an Lenker, jeder auf seiner Linie ziehen, dann sagt J: ich fahre hier jetzt geradeaus. 

Mehr von Dorian Steinhoff

03/2022, zwei

Je älter ich werde, desto mehr Kosmetikprodukte reibe ich mir jeden Tag in die Poren. Äquivalent dazu vergrößerten sich über die Jahre die Transportfahrzeuge, die ich  für meine Umzüge mieten musste. Mein Kulturbeutel hingegen ist seit ungefähr 1000 Jahren derselbe geblieben. Ich glaube, ich habe gelernt, die Fläschchen und Tiegelchen immer besser ineinander zu schachteln. 

Gleich mehrere Erkenntnisse über mein Älterwerden lassen sich aus dieser Handvoll Sätzen herausfiltern: Meine Selbstpraxis wird sublimer. Ich bin in den letzten Jahren wohlhabender geworden (insofern man Wohlstand als persönliche Besitzmehrung beschreiben möchte). Und ich werde effektiver. 

Ich erinnere, wie ich für mein erstes Aufenthaltsstipendium packte. Meine gesamten Habseligkeiten, die ich für drei Monate brauchen sollte, passten in einen Reiserucksack und einen kleinen Kabinenkoffer. Dazu schickte ich mir selbst ein Paket mit Büchern an den Residenzort. Abgeschlossen war das Umtopfen. Mein WG-Zimmer konnte ich ohne Weiteres für drei Monate untervermieten, sparte während meiner Abwesenheit also noch einen großen Teil meiner Fixkosten ein. Topdeal, fand ich damals. 

Aus Reiserucksack, Kabinenkoffer und DHL-Paket ist diesen März, acht Jahre später, ein Carsharing-Kombi geworden. Aus dem WG-Zimmer eine komfortabel große Drei-Zimmer-Wohnung, die ich nicht mir nichts dir nichts untervermieten kann. Aus der materiellen Genügsamkeit von damals, nun ja, eine von Pandemie und Radsport doll verstärkte Ausdifferenzierung in so ziemlich allem, was mit, nennen wir es, häuslichen Tagesbedarfen zusammenhängt. 

Ernährung zum Beispiel. Während der letzten Monate ist Essen immer mehr zu einer Art Treibstoffaufnahme für mich geworden. Ich habe sehr viel Zeit damit verbracht, zu recherchieren, was mein Körper braucht, um bei vielen, vielen Stunden wöchentlichen Trainings auf dem Rad leistungsfähig zu sein, leistungsfähiger zu werden und sich so schnell wie möglich von den Anstrengungen zu erholen. 

Um das Ausmaß zu verdeutlichen, um zu zeigen, wie es in den Strandtaschen und Kartons aussieht, die ich in den Kombi-Kofferraum stelle, möchte ich hier einmal exemplarisch das Porridge-Rezept veröffentlichen, das fester Teil meiner Frühstücksroutine ist. Dieser Beitrag ist also sozusagen mein Debüt als Food-Blogger. Endlich, ich habe nichts anderes verdient. 

Pandemic Power Porridge, 1 Portion

Zutaten

  • 2 EL Haferkleie, mit Keim
  • 2 EL Amaranth, gepufft
  • 1 TL Leinsamen, geschrotet
  • 1 TL Flohsamenschalen
  • 1 TL Weizenkeime
  • 1 TL Hanfsamen
  • 200 ml Hafermilch
  • Kurkuma
  • Pfeffer
  • Muskatnuss
  • Kardamom
  • Zimt

Topping

  • Apfelmark
  • Walnüsse
  • Kakao Nibs
  • Obst nach Saison
  • Bei erhöhtem Energiebedarf: 1 EL Leinöl

Zubereitung

Hafermilch in einen Topf gießen, zusammen mit Getreide, Saaten und Gewürzen aufkochen, kurz quellen lassen, Maße in einen tiefen Teller geben, Topping zufügen. 

Enjoy. Feel the power. Feel the flow. 

Und ja, ich habe das alles mitgenommen, ohne einmal daran zu zweifeln, ganz im Gegenteil. Und ich habe die Nahrungsergänzungsmittel noch gar nicht aufgezählt. In der Lage zu sein, meine Routinen auch an fremdem Ort fortzuführen, ist Haltestange in der U-Bahn der Angst, die beim Gedanken an den Ortswechsel durch meine Darmröhren rumpelt. Die berühmte Linie U-Angst nach Sankt-Nimmerlein, in ihrem Innern riecht es nach Panikwölkchen und Bammelschweiß.  

Wenn das alles so schlimm für dich ist, warum zur Hölle hast du dich für dieses Stipendium beworben, warum hast du es angenommen, niemand zwingt dich — könnte man fragen, völlig zu recht, und während meine zusammengepackten häuslichen Bedarfe während der Fahrt hinten im Kombi vibrieren, frage ich mich im Grunde andauernd dasselbe. 

Die Antwort ist, ich habe nicht damit gerechnet, wusste schlicht nicht, dass meine während der Pandemie entwickelten Gewohnheiten eine derartige Gravitationskraft entfalten würden. Vielleicht bin ich auch einfach älter geworden, schwerer zu verpflanzen, und habe es bisher nicht gemerkt oder mir nicht eingestehen wollen. Der Schock, den der Kriegsausbruch ausgelöst hat, fügt sein Übriges hinzu. Es ist durchaus als Versuch der Selbstläuterung zu verstehen, dass ich meiner Veränderungsfurcht hier so viel Raum gebe, und ich schäme mich angemessen, das sei versichert. 

Nachdem ich das Auto ausgeladen habe, stelle ich in der Wohnung ein paar Möbel um, finde Orte für Kaffemühle und Olivenöl. Ich markiere mein Revier, bald wird es vermutlich nicht mehr fremd riechen, wenn ich zur Tür reinkomme, und dann kommt auch schon der Frühling. 150 Meter die Straße runter liegt ein Erdbeer- und Spargelbauer, es gibt einen Hofladen. Ein großer Edeka, DM, Apotheke, eine Eisdiele, alles da, keine 10 Minuten zu Fuß entfernt. Rennradfahren und Schreiben, als Beruf, was für ein Luxus, was für ein Glück.

Ich habe richtig Bock auf den ersten Porridge. 

Mit dem Cerankochfeld werde ich schon klarkommen. 

Mehr von Dorian Steinhoff

03/2022, eins

Es ist der sechste Tag des Krieges, und mein Stipendium beginnt. Hamm also. Die Stadt mit dem Koppelbahnhof, der Ort für hastige Zigarettenzüge, ein Bein im ICE, eins auf dem Bahnsteig. Unzählige Male saß ich in Zügen, die hier hielten. So weit so wenig originell meine Erstassoziationen. Erwähnenswert erscheint mir jedoch die Leere, die ich mit dem Blick aus dem Zugfenster verbinde. Da ist keine Erinnerung an eine Stadt vor oder hinter diesem Bahnhof. Ich meine, selbst wenn ich an Bielefeld denke, kann ich mir diesen Kinoklotz neben dem Erlebnisbad mit Außenrutsche vorstellen. Aber Hamm? Endlose Rangierweiten oder das diffuse Spiegelbild aus dem ICE-Innern auf den Fensterscheiben, dahinter die durchschnittliche Kombination aus Pflasterstein und Flachdach, Beleuchtung und Dunkelheit. Dann ist da aber auch noch eine schöne Schullesung mit anschließendem Workshop, den ich erinnere. Jawohl, jaja, da ist nämlich eine Stadt, zumindest existierte sie 2016, Schüler und Schülerinnen gibt es dort, Springbrunnen, vermutlich das ein oder andere Goldfischaquarium auch, das weiß ich wohl.

Sonst weiß ich wenig, bis gar nichts über diesen Ort. Und ich gestehe, ich habe mich nicht vorbereitet. Ich konnte nicht, ich wollte nicht, ich bin mir da nicht so sicher, ich weiß nur, und das war ein wirklich beherrschendes Gefühl in den Tagen vor diesem 1. März und auf dem ersten Weg nach Hamm: ich möchte gerade nirgendwo hin. Egal, ob Kleinstadt in Westfalen oder Montevideo oder gewohnte westdeutsche Urban Bubble, weder Fremde noch Ferne noch ein bekanntes „Draußen“ erscheinen mir in diesen Tagen erstrebenswerte Spektren für Erlebnisse. Ich möchte zu Hause sein, dort, wo ich die vergangenen zwei Krisenjahre einigermaßen unbeschadet überstanden habe. Lasst mich, ich sitze hier auf meinem Schaffell, weiß, wo die Lichtschalter im Dunkeln zu ertasten sind, und die einzigen Ausflüge unternehme ich, während ich auf meiner Yogamatte liege und an die Decke starre. Mehr ist nicht drin nach zwei Jahren Pandemie, mitten in der Omikron-Welle und ausgerufener Zeitenwende.

Mir fehlt ein Skillset für das Szenario „Russland droht mit Atomkrieg“. Ich habe viele und große Fragen, und wünsche mir Herfried Münkler wäre mein Opa. Die Sorte Opa, die ihren Enkeln ein Eis kauft, obwohl Mama das verboten hat, und einem dann die Welt neu aufschließt. Aber bei mir reicht es leider nicht zu mehr als dem Entschluss, meinen Instagram Wochenrückblick einzustellen, der mir in den vergangenen Monaten ein wenig Weltkontakt simulierte. Keine wohlstandsgenährte und noch so distinktionsgetriebene Kulturpraxis scheint mir gerade noch vorzeigbar, angemessen, eigentlich fühlt sich gar nichts mehr angemessen an. Schon gar nicht der Luxus eines Stipendiums, das mir die Möglichkeit gibt, mein passioniertes Hobby mit meinem beruflichen Schaffen zu verknüpfen. Und noch viel weniger die Tatsache, dass ich mich darüber beschwere, dafür aus meinem Schutzraum gezerrt zu werden. Skillset für Selbstmitleid — das habe ich. Gelernt, erprobt, perfektioniert. Und natürlich ändere ich damit gar nichts, stoppe keinen Panzer, rette niemanden aus einem brennenden Wohnhaus und puste auch keine Bombe supermanlike aus ihrer Flugbahn ins All. Bitte, danke, wo kann ich hier jetzt konsumieren?

Hamm also. Der Bahnhofsvorplatz erstrahlt in der üblichen westdeutschen Sparkassenästhetik. Hätte dieser Ort einen Gesichtsausdruck, ihm stünde eingeschrieben: Bitte gehen Sie weiter, hier gibt es nichts zu sehen, ich bin doch keine Lavalampa, Sie Hygge-Heini, trimmen Sie gefälligst die Rasenränder in Ihrem Vorgarten, wenn Sie sich wohlfühlen wollen, und bitte machen Sie mich für meine Kaugummiakne nicht verantwortlich, mein Erscheinen ist Opfer der Umstände. Ich ziehe den Reißverschluss meiner Jacke ganz nach oben, wickle den Schal neu um den Hals, ziehe meine Handschuhe an und steige aufs Fahrrad. Der erste März ist ein rauer und ungemütlich kalter Tag, der Wind hat Schneidetemperatur. Es ist die Zeit im deutschen Jahreszeitenkalender, zu der jede Zilie beim Einatmen der kühlen Luft aus Nordwesten nach Frühling japst.

 

Die Wohnung, die man mir zur Verfügung stellt, liegt nicht direkt in Hamm, sondern im Stadtteil Herringen, auf einem alten Hof. Die Inhaberfamilie vermietet dort mehrere Ferienwohnungen, und eine davon, laut Vermieterin, welche Ehre, die schönste, darf ich die nächsten vier Monate bewohnen. Vom Hauptbahnhof in Hamm sind es fünf Kilometer bis zum Refugium Kortenbruck, der Bus braucht planmäßig 18 Minuten für 11 Stationen. Laut Google-Maps führt der schnellste Weg die meiste Zeit geradeaus über die Wilhelmstraße, die später in die Dortmunder Straße mündet, große, zweispurige Asphaltbahnen mit viel Platz für breite Autos, die an einer erstaunlichen Anzahl von Tankstellen, Autohäusern und einer riesigen Autowaschanlage vorbeiführen. Dann biegt man nach Burger King und Subway links in den Zechenweg ein, passiert Moschee und Krematorium, und ist quasi da.

Aber zunächst gilt es diesen Bahnhofsvorplatz hinter sich zu lassen. Ich orientiere mich an den Gleisen und fahre langsam auf der Rechtsabbiegerspur auf eine rote Ampel zu. Zum Stehen gekommen ordne ich mich weiter rechts ein, stehe jetzt linksseitig auf der Busspur, um anfahrenden Autos Platz zum Überholen zu machen, als hinter mir ein Linienbus anrollt und der Busfahrer beginnt, mich unvermittelt, von hinten anzuschreien. Die Ampel ist rot, so viel verstehe ich, aber ihm passt nicht, dass ich auf der linken Seite seiner Spur vor ihm stehe, während er steht, während wir gemeinsam stehen müssen und darauf warten, dass die Ampel grün wird. Es ist doch rot, erwidere ich, und er schreit mich weiter an, ich solle weg von seiner Spur, das sei hier die Busspur, es versetzt ihn wirklich in große Aufregung, er streckt seinen Arm aus dem Fenster und fuchtelt ganz wild in der Luft herum. All mein geschilderter Widerwillen der letzten Tage schießt mir auf einmal wie ein Stoffwechselabfallprodukt in den Kopf. Drei Minuten da, und schon will ich hinter jedes Vorurteil über provinzielle Engstirnigkeit ein grünes Häkchen setzen.

Auf der Wilhelmstraße werde ich dann noch drei Mal von passierenden Autofahrern angehupt. Hupen, immer ein geeignetes Kommunikationsmittel, wenn man in einer tonnenschweren Stahlmaschine in 50 Zentimeter Entfernung an einem Radfahrer vorbeifährt, um mitzuteilen, eben jener Radfahrer habe auf dem baumwurzeldurchzogenen, vorfahrtsberaubten, glassplittergespickten, pflasterbesteinten, von unaufmerksamen Rechtsabbiegern mit dem Tode bedrohten Fahrradstreifen auf dem Gehweg zu fahren. Ich erschrecke jedes Mal fürchterlich, und rufe ihnen dann mein eingeübtes Mantra für diese Situation hinterher: Dann fahr doch auf der Autobahn, Arschloch! Man merkt, es geht richtig kuschelig los auf den Straßen Westfalens. 

Nach der Schlüsselübergabe und einem ersten Rundgang durch die Wohnung, sitze ich fünfzehn Minuten relativ regungslos auf dem Sofa und mache mich dann auf den Rückweg nach Köln. 

Hamm also.

Mehr von Dorian Steinhoff

My loneliness 2/ Kriemhild plant

So vor etwa tausend Jahren gab es hier das erste Gartenfest. Schon nach kurzer Zeit erfreute sich die Veranstaltung so großer Beliebtheit, dass ein Vorverkauf eingeführt wurde, den es bis heute gibt. Zum Konzept gehört es unbedingt, die Besucher mit einzubeziehen. So gibt es die Möglichkeit, vorab Musikwünsche per Mail (niflungenende@freenet.de) zu senden. Außerdem gibt es eine interaktive Gruppe bei Facebook unter dem Namen „Niflungenende@Friends“. Das Motto der DJ’s lautet: „Wir feiern eine Party- feiert mit uns!“, auf der Tanzfläche im Saal versuchen die DJ’s die verschiedenen Musikgeschmäcker zu treffen: Zudem ist es im Umkreis einzigartig, dass eine Frau am Mischpult steht und ihr eigenes musikalisches Flair einbringt. Um sicherzustellen, dass man als Gast Zutritt findet, empfiehlt es sich, den Vorverkauf zu nutzen, denn auch heutzutage ist die Party oft ausverkauft. Hierzu stehen die Verkaufsstellen des HellwegTicket Systems (hellwegticket.de) zur Verfügung.
Irgendwo muss man ja anfangen. Kriemhild ist langsam mit den Lockerungen auf den Geschmack gekommen. Zu den Dingen, die generell nicht in den digitalen Raum übertragbar sind, gehören a) ein Gruppengespräch führen, b) sich anfassen und c) seine Restfamilie niedermetzeln. Wie soll das gehen. Pixel brechen nicht so leicht wie Knochen. Kriemhild hat in die Echoräume leerer Videkonferenzräume hinein gerufen, bis etwas herausgeschallt ist, eine Dringlichkeit zum Beispiel und jetzt bereitet sie sich vor. Kriemhild mailt die Zugverbindungen an die Mörder, pardon, die Verwandschaft: liebe familie, zusteig worms hbf, umsteigen in mainz, frankfurt, köln und natürlich hamm, ist ein bisschen umständlich, aber dafür gibt es auf die verbindung noch den gruppensparpreis oben drauf, rückfahrt würde ich erst mal offen lassen und um abendgarderobe wird gebeten. xxxk Das steht in der Email, aber eigentlich schreibt sie natürlich eher: liebe familie, ich habe feuer in die welt geworfen, und siehe, ich bewahre es, bis es lodert. diese welt wird ausgelöscht, die stadt wird vergehen, und der himmel oberhalb von ihr wird vergehen. und die toten leben nicht, und die lebenden werden nicht sterben. sie kommen immer, immer, immer wieder zurück und um abendgarderobe wird gebeten. xxxk Kriemhild macht sich ein paar Gedanken über festliche und angemessene Kleidung, generell empfiehlt sich in unruhiger Zeit eine Übergangsjacke mehr als ein verwegen geblümtes Partykleid. Oder doch lieber die alte Rüstung? Als sie das letzte Mal nachgeschaut hat auf Spiegelonline, befand man sich doch wieder mal im Krieg. Doch ab wann ist eine Fehde schon wieder was anderes? Und welcher Krieg war das noch mal heute, der von den Geschlechtern, der der Dreißigjährigen oder doch der Dreißigjährige, was ist eigentlich diese Partyszene, die viel zu wenig Schaufenster einwirft, ist meine Schlacht eine gegen den Atem fremder Menschen, die für ein Land, das noch nie so war wie in den Büchern oder ist das hier der Krieg der alten müden weißen Körper gegen ihre Verblendung, ist das der Krieg vom Wald oder vom Wasser, der in der Zeitung keinen Platz hat, weil uns doch die Worte lange schon abhanden kamen, oder etwa nicht, „die machen nur noch in Zahlen da draußen, alles Krieg da überall“, hat die Frau mit den Gummihandschuhen vor ihr in der Schlange im Bioladen erzählt, die den Kampf um die Meinungsfreiheit mit Rhabarberstangen führt, zu 7,99 das Kilo. liebe familie, die partyspiele nach dem essen müssen leider entfallen, hygiene und so. keine orangen werden zwischen zwangsalkoholisierten körpern hin-und herbalanciert, motto: kein limbo im limbo. xxxk Kriemhild denkt, ne, lieber ohne Motto. Kein Limbo im Limbo klingt zu sehr nach Diskurspop und dann kommt der Gunter wieder nicht, aber sie denkt noch eine Weile darüber nach, dass „dance like nobody is watching“ plötzlich nicht mehr nur der lebensbejahende Imperativ auf den Frühstücksbrettchen und Wandtattoos in den wiedereröffneten Schreibwarenläden ist, sondern Arbeitstitel ihrer Feier, der nächsten Treffen, ihrer Zukunft und gleichzeitig präzise Beschreibung all ihrer Nächte im April, Mai, Juni. Außerdem hat Kriemhild keine Orangen mehr bekommen, weder für den Tanz noch für die Cocktails und auch sonst überhaupt kein Obst. Im Stolper-Supermarkt, halb hyperventilierend unter ihrer schlecht sitzenden Maske läuft sie gegen einen Turm preisreduzierter holländischer Blaubeeren, der in sich zusammen stürzt. Sie verlässt den Ort des Geschehens so schnell sie kann. Vielleicht war die Kollision aber auch nur ihrer Eifersucht diesen reisenden Beeren gegenüber geschuldet. Verdammtes Obst. Obst, das Grenzen überschreiten darf. Obst, das die Welt und das Meer und Häfen sieht. Obst, das vermutlich von mehr Händen berührt wurde als sie in diesem Frühjahr. liebe familie, besser kein motto. come as you are. ***k Kriemhild plant das Abendessen wie einen Feldzug, gegen die, die ihr alles genommen haben. Die Fleischlieferungen aus Coesfeld, Moers und Gütersloh sollten rechtzeitig eintreffen, angerichtet an Salaten aus Hainbuchenblättern, Stieleichenmus, mit Maiglöckchen zum Sattessen. Bullenauge, Pumpernickel, Möppkenbrot. Alles da. Salz zum Würzen, Salz zum Einlegen, Salz um ungewollte Ehemänner langsam um die Ecke zu bringen, Salz um es in Wunden zu streuen, Salz um die zu erwartenden Kadaver zu konservieren. Die Maikäfer, die sie vorigen Monat von ihrem Socken, aus ihrem Schoß gepflückt hat, vielleicht kandiert als Nachtisch. Mit Löwenzahnsirup aus den letzten Apriltagen. Hauptsache irgendwas hält vorerst noch Leib und Seele zusammen, als ob die beiden nicht eigentlich voneinander getrennt gehören, wie die Spreu vom Weizen, der Verstand von der Kränkung, wie Züge am Bahnhof von Hamm.
adults appear at the end of April or in May and live for about five to seven weeks
Kriemhild googelt sich eine Liste zusammen mit Gesprächsthemen, die noch schlechter verdaulich sind als das Essen auf dem eingedeckten Tisch. Hexen- und Tierprozesse findet sie immer noch extrem unterhaltsam. Aber wer hat heute noch was gegen Frauen oder hängt Maikäfer auf, wegen Feld- und Hausflurschäden. Wer verurteilt den Maulwurf dazu bei lebendigem Leibe begraben zu sein, weil er einer Vergewaltigung beigewohnt hat, die blinde Sau mit den viel zu schwachen Ärmchen. Warum eigentlich nicht. Und warum nicht auch Häuser, Straßen, Städte bestrafen, für all das, was sie mit angesehen haben, Kasernen, Bahnhöfe, Lidlparkplätze, Schottergärten, Zonenrandbesiedlungen. Irgendwo muss man ja anfangen. Kriemhild ist mittlerweile von der ganzen Planung so porös geworden wie die Vorstädte, in denen sich Hitze zwischen den Hausständen staut. Nie war sie mehr bei sich und weniger zu Hause als an all den Orten, an denen sie hinter Gardinen betrachtet im Vorübergehen ist, alle Wurzeln längst gekappt und gekärchert und mit Kieseln aufgefüllt. Nie hatte sie mehr hellsichtige Klarheit als im Schienenersatzverkehr, auf Kopfsteinpflaster auf Sauerstoffentzug. „Jetzt sehen wir selbst schon aus wie syphiltische Frühromantiker mit unserem absichtslosen Lidschatten aus drei Nächten ohne Schlaf und waren doch mal die, die nach den Sternen segeln wollten. Aber wer nach einmal sieben oder zweimal dreizehn Jahren immer noch am Hafen steht und auf ein Schiff wartet und ein Zeichen, nur ein einziges, bitte, der muss sich eingestehen dass die Reisebegleitung nicht mehr kommen wird und nur noch neue Katastrophen angespült werden.“ Es kommt keiner mehr. Alle weg. Verschwunden. Der einzige, der auch in dieser Nacht wieder vorbei schaut, ist Siegfried, der Schatten ihrer ersten schlecht getimten großen Liebe, der sie besuchen kommt, um sich und sie daran zu erinnern, dass Schwäche ihre Zierde ist und nicht der Kruppstahl ihrer deutschen Schwermetall-DNA, die auf den Flüssen nicht sinken kann. Der sie daran erinnert, dass es die rostigen Stellen ihrer Rüstung sind, die aus anderthalb bis zwei Metern Abstand ein bisschen wie Bronze aussehen. Dass all die Löcher. Lücken und schartigen Ränder ihrer undurchdringlichen Verteidigungswand dringend benötigt werden, damit ein Wind gehen kann über den daumenbreiten Raum zwischen Haut und Metall, zur Abkühlung vielleicht und um zur Abwechslung auch mal was zu fühlen. „Huch“, denkt Kriemhild und „wie ist denn dieser Knabe so unerwartet in meinen Schoß gefallen“ und „Come in she said I give you a shelter from the storm“ flüstert sie Siegfried ins Ohr, so wie früher, als sie mit ihm in einem anderen Garten lange vor dieser Zeit über den Mulch torkelte. Kriemhild ist sich dann beim Aufwachen nicht sicher, ob das wirklich Siegfried war oder doch der Elefant oder doch eher ein Vogel, ein Greif, ein Spatz, eine Schwalbe, wer kann schon wissen, was das war, was da während der Nacht unter ihrem Rippenbogen seine Heimat gefunden und ihn ausgeweitet hat, das wächst ja noch, das Ding, hat keine erkennbare Form, nur Ränder, Ecken, Kanten, weil das immer die ersten sind, die an die Oberfläche schießen im Gewächshaus ihrer Traurigkeit. Kriemhild macht das Bett und versucht, Siegfrieds Geruch in den Laken zu finden, diese Spur aus abgelagertem Testosteron, aus Oregano und schlechtem Gewissen. Sie findet nichts. Kriemhild kocht sich einen Kaffee und hört dabei im Radio einer 92jährigen WDR5-Hörerin zu, die für das Leben mit Risiko anstatt Sterben mit Einsamkeit plädiert. „Auch gut“, denkt sie und geht noch mal die Checkliste durch: Location aussuchen und ggf. buchen Gästeliste erstellen und Einladungen verschicken Datum und Uhrzeit festlegen Budget kalkulieren Eventuell Motto für die Party auswählen Partyspiele / Unterhaltungsprogramm überlegen Essen planen und vorbereiten Playlist erstellen bzw. Band oder DJ aussuchen Dekorieren „Playlist kann ich morgen auch noch machen“, denkt sie. Weil Kriemhild ist immer noch eine Sternschnuppe, die nicht verglüht. Die sich mit drei anstatt zwei Fingern bekreuzigt. „Werdet Vorübergehende“, sagt sie laut und dann bestellt sie eine Luftballonpumpe im Internet. Irgendwo muss man ja anfangen.

Mehr von Annika Stadler

My loneliness 1/ Kriemhild wartet

Das kann einer sehen von denen, die nach Soest kommen
die ungeheuerlichen Dinge, die da geschahen, den Garten,
der Niflungengarten genannt wird und den Schlangenturm
und den Weg
und manche andere merkwürdige Dinge, die da geschahen

 

Kriemhild wartet.

Auf das Ende, auf die Familie, aber erstmal vor allem auf schlechteres Wetter. Nicht nur wegen der Hitze, die sie gerade in allem lähmt, nein, sondern weil wenn die Familie anreist und das große letzte Fest stattfindet, dann muss nasses Wetter sein, so sagt es die Prophezeiung.

Kriemhild wartet. Sie vertraut auf das, was ihr die Geister nachts durch die Tapete über die künftigen Gemetzel zuflüstern. Ihr nächtliches Lauschen und die Fähigkeit, Träume deuten zu können, haben ihr doch immer nur Gutes gebracht, oder nicht? Der Falkentraum, natürlich, das war was anderes. Das hätte anders funktionieren müssen. Der Traum vom schönen, starken, wilden Falken, den sie tags von ihrem Balkon am Rhein aus in den Lüften betrachtete und der sich nachts an ihre Seite legte, in das geheime Nest zwischen Rücken und Federkissen, um im Morgen zu verschwinden ohne Spur. Das war eine ganz andere Traumnummer, ganz anders Kaliber. Aber dann hat er sich zerfleischen lassen, der junge Falke und ich habs ja noch gesagt, denkt sie und wenn er doch nur ein Mal zugehört hätte und aber aber aber und danach fiel sie erstmal in eine gewisse traumlose Dunkelheit, weil dann war erst mal richtig schlimm, so wie in richtig dunkel und so gut lief es im Großen und Ganzen die letzten 26 Jahre nicht und jetzt sitzt sie hier, eingezwängt zwischen Fachwerkhäusern, die sich an keine Distanzregeln halten, versteckt sich auf der Terrasse ihres Hauses, um von dort aus dem Sermon der ebenso einsamen Trinker zu lauschen, die sich wie jeden Abend in den Rest der Sonne setzen, um die Käppchen vom Underberg zu drehen, ein Fläschchen nach dem anderen. Echte westfälische Fleißarbeit.

Kriemhild wartet und zählt die Glockenschläge eins zwei drei vier fünf sechs sieben acht und fragt sich, warum ist es so viel leichter, eine unschuldige Leber zu bestrafen, als sich die eigenen Erinnerungen zu verzeihen. Die Bauarbeiter nebenan schauen nicht zu ihr herüber. Aber sie trinken auch noch einen, gegen den Durst, gegen die Verzweiflung, gegen die Stille und schalten das Radio an:

and I must confess I still believe/ still believe

Kriemhild gesteht gar nichts und glaubt an nichts und sie wartet und muss doch noch was tun, da ist immer diese Unruhe, die ihr das Warten so schwer macht, immer noch nach all den Jahren und deshalb harkt sie das Laub auf der Wiese zusammen und beschließt, ein Feuer zu machen, mit einem alten Kinderlied auf den Lippen in schlechter Übersetzung:

My dear, who lights the ash-tree should know
What to get involved in and not complain too much
You must be prepared to make a sacrifice
Your heart your tongue your heart
On the tongue and the sinews of your hand
(du musst bereit sein ein opfer zu bringen
dein herz deine zunge dein herz
auf der zunge und die sehnen deiner hand)

Kriemhild steht am Feuer und hält ihr eigenes Herz fest, sie hat es in ihrer Handfläche zusammen gepresst, eine schwitzige Faust aus Salbeiblüten, Erde und toten Spinnen, plus ein paar Tabakreste an dem nutzlosen Organ, von dem sie nicht weiß, wofür das noch zu gebrauchen ist. Das bisschen Fleisch, die paar Proteine. Was soll das alles. Ihr Herz spricht lange nicht mehr zu ihr, aber wenn man seinen Daumen hineinbohrt, dann erklingt ein langer hoher Ton, ein Pfeifen oder ein, was, ein ein ein asthmatisches Luftholen nach einem Treppenlauf oder doch ein letztes Lebenszeichen, nein nein nein, bitte nicht nein hör auf nein.

Kriemhild wartet und trifft eine Entscheidung und sie opfert ihr Herz dem vor sich hin sterbenden Holunder, der aller Hoffnungslosigkeit zum Trotz nicht gefällt werden darf. Ihre Zunge und ihre Hände braucht sie noch, später beim Familienfest werden sie bestimmt noch etwas Arbeit zu tun haben.

Kriemhild geht zurück ins Haus, kratzt den letzten Dreck unter den Fingernägeln hervor, wäscht sich die Hände und singt dabei zweimal HIT ME BABY ONE MORE TIME. Sie steht vor dem Spiegel, wundert sich über dieses Gesicht und fährt mit dem Zeigefinger über die frische Narbe an ihrer Brust.

Kriemhild übt ihr bestes falsches Lächeln, bis es so gut sitzt wie bei der Hure aus Worms, die sich früher beim gemütlichen glutenfreien Familienfrühstück immer über sie beugte, um den giftigen Atem aus Zweifel, Scham und Selbstkritik ihren Nacken entlang zu hauchen, die sie immer betrachtete im Schlaf, aus dem Vorhang, aus dem dichten schwarzen Bienenschwarm an Eifersucht heraus, einem Schwarm der sein Zuhause nicht mehr finden konnte oder es verloren hat vor langer Zeit und jetzt herum irrt zwischen A 1, A 2, A 44 und den Güterbahnhofsgleisen. Manchmal ist Kriemhild an Abenden wie diesen so verirrt wie die letzten lebensmüden Bienen, die auf der Suche nach dem rapsgoldenen Schuss des allerbesten Glyphosphatheroin auf den nächsten Feldbrand warten, oder wollen sie dort nur ein wenig rasten oder wollen sie sich dem allen endgültig entziehen oder warten sie auch auf irgendwas, auf Rache vielleicht oder warten sie auf ihren Imker, den mit den warmen harten Händen und den Armen lang genug, sie auch aus der Distanz heraus sicher zu halten.

Kriemhild würde auch mal gerne wieder gehalten werden, jetzt zum Beispiel oder generell auch, wenn sie im Regen auf den Stufen zu fallen droht, aber da ist keiner, hallo, hallo, ist da wer, wo ist dieser verdammte Hofstaat, wenn man ihn mal braucht, keiner da, nur wenn Geschenke verteilt werden oder Gebäck, dann drängeln sie sich vor, als gäbe es einen Friseurtermin umsonst oder einen Gutschein auf Schnitzel und für gegen Leibeigenschaft.

Kriemhild denkt: Es regnet ja gar nicht, ich falle ja gar nicht und vielleicht sterben die Bienen auch gar nicht und fallen um wie die Bäume im Wald, vielleicht haben die einfach bloß keinen Bock mehr und vielleicht ist das auch alles nur ein schlechter Traum, haha. Als ob.

Kriemhild leiht sich einen Rasenmäher bei den Nachbarn, um den Randstreifen des Hellweg frei zu machen von Unkraut. Wenn die Familie zu Fuß zu Besuch kommt, dann soll sie nicht stolpern vor ihrer Zeit.

Kriemhild mäht sich die Ausfallstraße entlang, darin ist sie sehr gründlich, eine gerade kilometerlange Schneise aus totem Gras, das hinter ihr aufgeregt summend am Asphaltrand zurück bleibt, sie sammelt sich und dann sammelt sie ein paar Blumen und sie schaut von der Brücke aus den Autos zu, wie die sich auch einen Scheiß darum kümmern, wie das mit der Welt weitergehen könnte. Das beruhigt sie eigentlich meistens.

Leer lassen, wenn das Bild nur als dekoratives Elemnt dient

Kriemhild zählt ein paar rote Autos und keine Reisebusse und ein paar SUVs, in denen aufgedrehte Kindergartenkinder den ganzen Tag über herum gefahren werden, weil ihre Mütter nicht mehr wissen wohin mit dem Balg.

Kriemhild kauft sich im Sonnenuntergang ein Eis an der Tankstelle, sie zahlt bargeldlos und auf dem Weg zurück in ihren Garten tropft ihr das Eis die Finger, Hände, Unterarme entlang auf den Boden. Sie hinterlässt eine Spur aus entrahmter Milch, Zucker, Pflanzenfett, Molkenerzeugnis, Sonnenblumenöl, Glukosesirup, Frucht- und Gemüsekonzentraten, Emulgatoren, Verdickungsmitteln, natürlichem Aroma und Invertzuckersirup auf dem Weg, das macht es den Vögeln und den Gästen später leichter ihr zu folgen.

Sie wartet.
Sie wartet.

Mehr von Annika Stadler