von Fremde und Fachwerk

Sommer 2017 in Westfalen, Donnerstag Vormittag. Wind, graue Wolken, vereinzelte Tropfen.

Der Weg aus dem Bahnhof in Lippstadt führt mich in. Wie könnte das genannt werden. Ein Block, ein großes Haus. Darin: Ketten von Großmärkten für Mode oder Elektronik. Und im Zentrum: Leere. Der Eingangsbereich eine große leere Halle, nur an den Seiten die Zugänge zum Konsum. Ein leeres Zentrum. Das wünsche ich mir häufiger.
Aus der Leere geht es in Aufzüge, wohin auch immer sie führen, so groß wie in Großmärkten. In Wolkenkratzern. In Schlachthöfen.

Die, wie ich finde, hellste, sauberste, größte Bahnunterführung Deutschlands führt zu Fachwerk und schnell in das, was das Zentrum Lippstadts sein muss. Rathaus, Stadtmuseum, Kirche. Vorbereitungen auf ein Rathaus-Festival, dominiert von Bierständen. Wie könnte es anders sein. Warstein nicht weit.
Weiterhin Fachwerk und ein Eindruck: Wie schön diese Stadt. Ein nächster Eindruck: Wie absurd. Fachwerkhäuser voll von Plastik, von Elektronik aus Fernost, von Unnützem. Auf einem Querbalken die Betitelung des Hauses: Event-Lounge. Davor Luftballons in unterschiedlichen Formen und Designs. Vom Wind malträtiert, ein Event für sich. Oben ein Bierkrug, darunter zwei Prinzessinen in Pink. Daneben die Deutschlandflagge. Dann das deutsche Polizeiauto. Welch ein Fünfsatz. Sommer 2017 in Westfalen. Bald sind Wahlen.

Event-Lounge Lippstadt. ©mj

Unweit des Stadtkerns der Park, wunderschön. Ich denke an Auen anderer Großstädte. An die Isar. Paddelnde Familien, alle in einem Boot, ein großes Treibenlassen. Das Ankommen steht nicht im Vordergrund.
Irgendwo im Park ein Fahrrad, das leicht schräg am Wegrand steht. Die Besitzerin lächelt, sich entschuldigend für diese Unsitte.

Der Weg führt erst durch Industrie, die Stadt bereichernd, dann durch gebauten Wohlstand. Häuser, die einander ausstechen wollen. Keine Unsitten, Ordnung, wohin das Auge reicht, muss sein. Dazwischen eine kurze Ahnung von Unordnung: Menschen, denen ich einen anderen kulturellen Herkunft unterstelle. Menschen, denen ich einen erschwerten Zugang zu Bildung und Wohlstand unterstelle: Amt für Soziales. Ausländeramt. Passiert hier Nachbarschaftshilfe? Wer ist wessen Nachbar, wer hat wen als Nachbarn? Blasse Erinnerungen an einen Menschen, der einen Spieler der DFB-Auswahl nicht als Nachbarn wünscht.

Zurück im Treiben der Stadt. Ein sich verstärkender Eindruck: Lokales und globales vermischt. Wie überall. Aber: hier fällt das nicht-lokale immer noch auf. Zwischen Fachwerk und in Fernost Produziertem ein Spalt. Ein Riss. Eine Distanz der Befremdung. Es schnappt nicht ein. So meine Wahrnehmung.

Der Espresso bei Kathrin hilft mit diesen Wahrnehmungen. Um mich herum, mal wieder? Na? Klar, Menschen, die sich kennen, die Donnerstag Vormittags gemeinsam Kaffee trinken. Braun gebrannt. Eine fluktuierende Masse. Kommt einer, gehen zwei, kommen zwei, geht keiner. Usw.
Im Urlaub? In der Mittagspause? Zurück aus Portugal. Oder Spanien, Italien, Griechenland. Zurück aus Nachbarländern.
„Petrah, du auch hiah?“ „Jah siecha Frank!“
Sprache, die vereint. Einigkeit in der Nachbarschaft. „Ja, isso!“
Aber auch Fürsorge. „Pass auff dich auff, nä“ „Ja, mach ich.“

Auf dem Nachbartisch die beliebteste Zeitung des Landes. Irgendwo wird ein Fußballer für so viel Geld gehandelt, dass Marktwirtschaften schnappatmen würden. Einfach weitermachende Autohersteller, wie auch immer. Software ist die Lösung. Soft ist weich, weich ist einfach. Wenig Widerstand. Wenig durchschaubar. Fehler macht keiner. Fehler machen sie alle. Ein leeres Zentrum.

Der Blick zurück in die Passanten. Auf dem Shirt einer jungen Frau ein mir bislang unbekannter Lösungsansatz.
Think glocal, act local.

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Von gelebter Nachbarschaft

Zu Gast in der Kulturregion Hellweg. Gefühlt ein Gast. Oder Fremder. Oder Eindringling. Oder Beobachter. Oder Besucher. Oder Beschreiber. Oder. Der Blick auf Fremdes spiegelt die eigene Fremde. Blick auf Unbekanntes macht das eigens Bekannte unbekannt.
Mein Zugang zur Region, zum Thema, sind Menschen, die Nachbarschaft neu organisieren. Eine Suche im Fass ohne Boden. Zahllose Einleitungen. In Gesprächen erfahre ich große Offenheit. In diesen Momenten bin ich dankbarer Gast.

Eine Seniorin, ehemalige Förderschulrektorin, initiiert ein Mehrgenerationenwohnen. Elf Wohneinheiten unter einem Dach. Junge Familien helfen Senior*innen, profitieren von Erfahrungen der Mittvierziger, deren Kinder gerade ausgezogen sind. Und umgekehrt, in allen denkbaren Konstellationen. Unter dem Dach des Hauses ist der Lebensmittelpunkt, hier wird Dorf simuliert. Oder Großfamilie. Man lebt gemeinsam. Miteinander und füreinander.

Der Rektor einer Hauptschule. Sein Engagement, seine Offenheit haben der Schule neues Profil verschafft. Vor der Schließung bewahrt. Ein Resultat: Schüler*innen, die das Bergmannslied lernen. Schüler*innen, die zuhause feststellen, dass auch in ihrem Wohnzimmer Partikel dieser Vergangenheit noch auf dem Sofa sitzen, in den Regalen stehen. Das Bergmannslied ist noch bekannt, öffnet verschlossene Stollen der Erinnerung, treibt Tränen in die Augen. Ein anderes Resultat: Schüler*innen, die einen Geschichtspfad bauen. Geschichte erfahrbar machen, Geschichte lebendig halten. Verpflichtung nicht nur Ämtern und Schüler*innen gegenüber, sondern auch dem Ort, der Region. Der Nachbarschaft. Lokaler Tradition und Geschichte, alten Werten.

Weniger Gemeinschaft hingegen im Zentrum. Haben Zentrum und Großstadt Fluktuation gemeinsam, Anonymität? ‚Verwässert‘ das Zentrum? Das Zentrum einer Stadt war einmal die Kirche, der Marktplatz.
Ein Mehrgenerationenhaus im Zentrum Hamms. Es versucht sich darin, Zentrum im Zentrum zu sein. Anlaufstelle für alle. Babytreff, Frühlingsfest, Stricktreff, Tanzstunde. Taschengeldbörse, Smartphonekurs. Angebote für neue Beziehungen. Angebote für Raum. Sich und auch Unbekanntem zu begegnen. Nachbarschaft braucht Begegnung braucht Raum. Ein Gut, das immer knapper wird. Hier wird es angeboten.

Direkt neben der Zentralen Unterbringungseinrichtung, voll von wartenden Menschen, mit langer Reise hinter, langer Reise vor sich, ein erstmal unauffälliges Haus. Im Schatten der Sommerhitze sitzen Senior*innen. Ein wöchentlicher Kaffeetreff. Im ersten Stock ein großer Gemeinschaftsraum. Die Küche wie aus dem Katalog, nur größer. Eine Tafel für vierzig, fünfzig Menschen, blitzsauber. Ein ganz normales Seniorenheim. Jede Bewohnerin, jeder Bewohner mit eigener Wohnung. Sie haben viel Leben hinter sich. In diesem Haus finden sie neue Gemeinschaften und verknüpfen ihre vielen Leben.

Noch nicht ganz viel Leben, aber eine lange Reise hinter sich haben sieben junge Männer. Nach Deutschland gekommen in den vergangenen zwei Jahren, geflohen. Vor Krieg, zum Beispiel, vor Verfolgung und anderem. Geflohene. Minderjährig und alleine, viele Landesgrenzen überquert. Oder das Mittelmeer. Ein Jugendhilfeträger bringt sieben minderjährige, unbegleitete Geflüchtete in einem Seniorenheim unter. Doch kein ganz normales Seniorenheim. Zwei Generationen und viele Kulturen treffen im Kleinen aufeinander.
Ich denke an mögliche Konflikte. An Missverständnisse, an Vorurteile, an Befremden. Differenzen in Alter, in Sozialisierung, in kulturellem Hintergrund. Sicher ist auch das ein Teil der Wahrheit, doch ich erlebe vor allem: Gemeinschaft. Empathie. Solidarität. Heranwachsende, die von Senior*innen bei der Hand genommen werden. Im Gegenzug: Senior*innen, denen die Tasche getragen oder der Einkauf erledigt wird. Im Kühlschrank Kartoffelsalat, den die Seniorin aus dem Nachbarzimmer den Heranwachsenden für den Hunger am späten Abend zubereitet hat. ‚Nicht, dass da einer hungrig schlafen gehen muss.‘

Die Eltern der sieben leben anderswo, weit weg. Manche der sieben sprechen regelmäßig mit der Heimat. Manche überhaupt nicht. Eine kommunikative, eine emotionale Stille. Die Senior*innen sind neue Großeltern. Und Mitbewohner*innen. Sozialpädagog*innen in mobiler Betreuung erfüllen andere, noch diversere Rollen. Manchmal auch solche einer Familie. Dem Sprichwort, es brauche ein Dorf, um ein Kind zu erziehen, wird in diesem Haus auf neue Weise Rechnung getragen.

Die Frage nach Heimat liegt wieder auf dem Tisch. Hart, kantig, schwer, abstrakt, ungreifbar. Heute unbekannt, morgen Nachbar, das ist möglich. Heute Nachbar, morgen Freund. Oder Familie. Oder Feind. Das ist auch möglich. Menschen, die sich als Ur-Westfalen betiteln. Oder echte Deutsche. Überzeugte Europäer. Global citizens. Nicht allzu relevant in der realen Begegnung.

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Von Pflichten und Prioritäten

Gut zwei Wochen im Hellweg. Ich glaube, Temperament und Geist dieser Region ansatzweise erahnen zu können. Menschen, denen ich bisher begegne, sind vor allem eins: Heimatverbunden. So höre ich, zum Beispiel: Hamm mag für Außenstehende kein Traum sein. Für gebürtige Hammer aber gibt es keine bessere Stadt auf dieser Welt.
Ich frage mich, ob diese Heimatverbundenheit ein Alleinstellungsmerkmal der Region ist. Oder aber: Beißen sich die Konzepte von Heimatverbundenheit und Großstadt? Sind urbane Zentren zu sehr einer Fluktuation ausgesetzt? Sind Interessen und Möglichkeit zu divers, um sie nachbarschaftlich zu konzentrieren? Nur von Berliner*innen kenne ich eine solche Verbundenheit. Kaum wagen sie sich aus ihrer Stadt heraus. An den Wannsee vielleicht. Oder die Ostsee.

In einem Gespräch höre ich die entscheidende Gegenfrage: Was ist Heimat für dich? Ich denke an wichtige Orte meiner Kindheit, an abwechslungsreiche Sommer, an familiär-besinnliche Weihnachten, an wichtige Tage und Ereignisse der vergangenen 30 Jahre. An Menschen, die nicht mehr leben. Ich frage mich, warum ich erst an einen See in Bayern denke, und nicht an das Haus im Rheinland, in dem ich aufgewachsen bin. Ich denke auch an Orte, die mir zur Heimat wurden. Durch Freunde. Durch prägende Zeiten. Deutsch spricht man dort kaum. Zweite und dritte und xte Heimaten. Home is where your heart is.

Im Hellweg wird diese Frage wohl oft schneller beantwortet. Vermute ich. Hier ist man geboren, aufgewachsen, hier kennt man sich. Hier gehört man hin. Zum Schützenverein. Zur Feuerwehr. Zum Heimatverein. Zum Knappenverein. Home is where you were born.

In einer wunderschönen Landschaft. Mit Kanälen und Halden. Durchbrochen von Kraft- und Bergwerken, von Windrädern und Industrieanlagen. Eine natürlich-mechanische Romanze.

Ausblick Kissinger Höhe, Hamm-Herringen – ©mj

Ich lerne, welche Relevanz Nachbarschaft hier hat. Prioritäten sind traditionell klar verteilt: Im katholischen Teil der Region: 1. Kirche, 2. Hof, 3. Nachbarschaft. Im protestantischen Teil: 1. Nachbarschaft, 2. Hof, 3. Verwandschaft.
Prioritäten und Pflichten sind gleichgesetzt. Christenpflicht, Menschenpflicht, Nachbarspflicht. Wenn mir das Salz ausgeht, frage ich den Nachbar um Hilfe. Wenn der Nachbar Geburtstag hat, kann der Sohn nicht heiraten. Sind Menschen neu in der Nachbarschaft, müssen sie sich integrieren. Und sich beweisen. Solidarität, Gemeinschaft, Integration.

Sogar im Supermarkt, eine große Kette, kennt man sich. Senioren essen gemeinsam zu Mittag. Wahlweise Frikadellen oder Wurst mit Kartoffelsalat. Beim Ärger über die Vorkommnisse in Hamburg ist man sich einig. ‚Das ist nicht unser Deutschland.‘ Heißt auch: Das ist nicht mehr Heimat, das sind nicht mehr meine Nachbarn. Nachbarschaft als Einbahnstraße.
In Regensburg wurden junge Menschen jahrelang missbraucht. In einem Nachbarland wird die Gewaltenteilung abgeschafft. Ein einjähriger Ausnahmezustand legitimiert Willkür am Mittelmeer. Ein Friedensnobelpreisträger stirbt, Anteilnahme wird zensiert. Einbahnstraßen. Nachbarschaft wird zerstört. Und Heimat. Unter anderem.

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Von Mosaiksteinen in einem Kaleidoskop

Samstag. Ich lerne kennen, wo ich bin. Wo ich die nächsten Wochen sein werde.
Hamm Marktplatz. Ein Espresso in der Sonne öffnet meine Augen, es ist heiß. Es ist voll. Um mich herum geschäftige Menschen. Es gibt Bratwurst, Pellkartoffel, Gemüsespieße. Man isst, man lacht gemeinsam, man schnackt. Oder klönt? Oder quatscht? Wie sagt man hier? Man kennt sich, wieder einmal. Wieder diese Ahnung: Menschen um mich, die wissen wo sie hingehören.
Zwei sich sehr gegensätzliche Parteien machen Werbung. Wahlkampf. Im Juli. Gut, dass man in Deutschland wählen kann. Im September dann. Auf den Faltblättern Schlagworte: „Für Alle.“ „Für Heimat.“ „Für unsere Familien.“ „Für Gerechtigkeit.“ Und konkret?
Die lokale Zeitung berichtet von Abiturjahrgängen. Prächtige Fotos im vielleicht ersten Abendkleid, ersten Anzug. Alle namentlich erwähnt. Mit Stolz wird der Nachwuchs präsentiert, stolz zeigt sich der Nachwuchs. Gebildet. Vorbereitet. Auf das, was da draußen auf ihn wartet. Auf Überraschungen und Entscheidungen. Auf Widersprüchlichkeiten. Auf große Schlagzeilen, jenseits des Lokalteils:
Gewalt und Machtdemonstrationen in Hamburg. Menschen, die Orte zerstören. Menschen, die ignorieren. Menschen, die andere Menschen degradieren. Ein lautes Wochenende. War das der Startschuss für den Wahlkampf? Ein schmerzhafter Startschuss. Untermalt von Beethovens Neunter. Ode an die Freude. Deutschland im Juli. Freude auf September?

Auf dem Fahrrad versuche ich mir die Stadt zu erschließen, die Region. Ich möchte wissen, was Nachbarschaft in der und für die Kulturregion Hellweg bedeutet. Was bedeutet hier Heimat? Familie, Traditionen? Gerechtigkeit? Werte? Identität? Zugehörigkeit?
Nachbarschaft ist abhängig von Orten und von Gemeinschaften. Gehören dazu auch Zäune? Klar definierte Grenzen und Rituale? Was gehört nicht dazu?
Rechts eine alte Kaserne, sehr belebt. Kein Militär, dafür Kinder auf Fahrrädern. Mit Fußbällen bewaffnet. Viele Menschen in kleinen Gruppen, neue Nachbarschaften auf engstem Raum. Menschen, die eine lange Reise hinter und eine lange Reise vor sich haben. Ungewisse Zukunft, auch über September hinaus. Die Frage nach Zugehörigkeit wird hier anders beantwortet. Vermute ich.

Samstag Nachmittag. Ich sitze auf der Terrasse einer Hammer Ureinwohnerin und höre Geschichten aus einem besonderen Leben. Ich bin beeindruckt. Von Motivation, Ausdauer und Kraft, für Nachbarschaft, für Freunde und Fremde, für Benachteiligte einzutreten. Für Gesellschaft. Für ein Miteinander. Für Orte. Beeindruckt davon, 38 Jahre Nachbarschaft hinter sich zu lassen, um eine neue zu gründen. „Nimm es in die Hand, sei offen, sei hartnäckig.“ Anfang nächsten Jahres ist der Umzug.
In dem Mehrgenerationenhaus wird es elf Wohnungen geben. Für Menschen älteren, mittleren und jüngeren Alters. Das, was einmal der Dorfplatz war, ist hier ein Gemeinschaftsraum. So wird das Haus zum Dorf. Das Dorf zum Haus. Man kümmert sich umeinander. Man lernt voneinander. Man hört einander zu. Die umliegenden Bewohner – in der Nachbarschaft – sind skeptisch, sie leben alle in ihren eigenen Häusern, mit eigenen Gärten. Eingezäunt und begrenzt.

Samstag Abend. Der Marktplatz in Ahlen ist voll. Stadtfest, Bier, Wein, Fressbuden. Ein Gewitter aus Trinksprüchen, guter Laune, Alkohol und Zigaretten, Wiedersehen nach langer Zeit, die Unmöglichkeit, sich in der Menge zu finden. Bekannte Rockmusik, gecovert, von der Westküste. Ganze Familien sind vertreten, mit bis zu vier Generationen. Über den Köpfen hängen Dekorationen, die ich lange nicht erkenne. Bunte Luftmatratzen in Form von Flip-Flops. Ist mir unbekannt, wofür Ahlen bekannt sein könnte? Ahlen, Partnerstadt von Rio de Janeiro? Stadt der schönen Füße? Sandstrand, Karibik, Caipirinhas? Körperkult? An den Füßen jedoch keine Flip-Flop-Mehrheit.

Samstag Nacht. In meinen Ohren hallt es nach. Vor meinen Augen Bilder von großen und kleinen Bauklötzen, Mosaiksteinen, Zement, Sand. Das alles hier. Da, wo ich gerade bin. Die ständige Neuanordnung, ein Kaleidoskop.

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Von Fremde und Neugier

Freitag Nachmittag, ich mache mich auf den Weg in den Hellweg. Ehrlich gesagt, auch mir war bis vor kurzem der Baumarkt bekannter als die Kulturregion.

Ich stehe im überfüllten Regionalexpress von Düsseldorf nach Hamm, wir kreuzen das Ruhrgebiet, ich erkenne den Dialekt, die direkte Redensweise. Halt in Duisburg. In Essen. Bochum. Dortmund. Klischees im Kopf. Currywurst, Pommes Schranke, Fußball, Stahl, Pott, ich komm aus dir.

Im Fenster wird es grüner. Der Zug leerer. An der Bahnstrecke ist die Grenze zwischen Ruhrgebiet und Hellweg genau auszumachen: Graffitis im Ruhrgebiet, blanke Mauern im Hellweg. Dann Felder, Wiesen, Kühe. Schornsteine. Fördertürme. Backsteinhäuser. Ein riesiger Rangierbahnhof, ein Meer aus Birken. Dazwischen Container aus China. Abgestellt. Vielleicht vergessen. Oder Ausrangiert. Im Wartezustand. Stille Beobachter aus der Ferne, voller Erinnerungen aus Fernost.

Was machen Container aus China in Hamm? Ich sympathisiere mit diesen Fremden, letzte Woche war ich selbst noch in Fernost. Ich erinnere mich an mehrstöckige Highways, an gigantische Reklamewände, an Spielhöllen. An eine Grenze, unüberwindbar, die aus einem Land zwei macht. An Manga, K-Pop und Karaoke. An Menschen, die nicht wissen, wo sie hingehören, aber weiterlaufen.

Am Bahnhof Hamm-Heessen ist es wunderbar ruhig. Wer wohnt hier? Weiß jemand von ihnen, was diese Container aus China hier machen?
Freitag Abend im Biergarten Kötter, man kennt sich. Menschen, die schon immer hier wohnen. Menschen, die vielleicht auch mal nach Fernost reisen wollten, aber. Es gibt immer ein Aber. Sie wohnen hier, sind Ureinwohner. Menschen die wissen, wo sie hingehören. Man kennt sich. Lange und gut. Schützenverein, Junggesellenverein, Fraktion, freiwillige Feuerwehr. Nachbarschaft.
Ich kenne diese Formen von organisierter Gemeinschaft nicht. Ich wollte das auch kennenlernen, aber. Da, wo ich wohne, kenne ich meine Nachbarn nicht. Ich würde gern mit ihnen im Biergarten sitzen. Aber!

Freitag Nacht. Da, wo ich schlafe, ist es still. Die Stille ist mir fremd. Fremde. Stille. Dunkelheit. Im Wartezustand im Hellweg. In der Kulturregion. Schwer beladen mit Erinnerungen. Und Fragen. Und Neugier.

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