Verschwinden

“Si te esfuerzas puedes desaparecer,
si te esfuerzas puedes desaparecer…”

(„Wenn du dich anstrengst, kannst du verschwinden”)

Los Planetas “Desaparecer”

Zu verschwinden, keine Spuren zu hinterlassen, nur ein paar Erinnerungen und die eine oder andere Anekdote, aber sonst nichts, das kann nicht einfach sein. Denn wir sprechen hier nicht davon, wie ein Zauberer mithilfe einer Ablenkung oder einer optischen Täuschung hinter einem glänzenden Umhang oder in einer Rauchwolke zu verschwinden. Es geht hier um richtiges Verschwinden, sodass einen niemand mehr finden kann. Bei so kryptischen und spärlichen Hinweisen verirrt sich jeder Suchende auf halbem Weg oder gibt bei der ersten Kreuzung auf und muss der Tatsache ins Auge sehen, dass er vielleicht den falschen Weg eingeschlagen hat und für immer verloren sein könnte.

Sofern es nicht gewaltsam passiert, erfordert das Verschwinden eine Absicht, einen Wunsch. Nehmen wir an, dass Manuel absichtlich verschwunden ist und nie gefunden werden wollte, einfach abhandenkommen wollte, um zu fliehen, zu entkommen, frei zu sein. Eine Entscheidung zwischen leicht und schwer, bei der er sich – ohne zu zögern – für Ersteres entschieden hat. Um das zu erreichen, hat er alle Verbindungen abgebrochen, alle Spuren verwischt, bei seiner Flucht alle Brücken hinter sich gesprengt, die zwischen ihm und der Erinnerung lagen, zwischen ihm und der Vergangenheit.

Ein anderer Weg, derart perfekt zu verschwinden, ist durch Nachlässigkeit, Desinteresse oder fehlende Ziele, die einen allmählich vor der Welt verstecken, wie ein zunächst malerischer Nebel, der am Ende zu einem Schiffbruch führt. Damit Nachlässigkeit zu so einem perfekten Verschwinden führen kann, braucht es ein paar höchst unwahrscheinliche Zufälle und Synchronismen, wie ein durch blinden Zufall perfekt ausgeheckter Plan, der wie die Faust aufs Auge passt. Aber ob er freiwillig oder aus Nachlässigkeit verschwunden ist, bringt uns hier auch nicht weiter. Wer war Manuel, wo war er und warum hat er sich für den leichten Weg entschieden?

Ich weiß nicht, wie man jemanden sucht, ich habe es noch nie getan, höchstens mal einen Freund oder Bekannten in den sozialen Netzwerken, aber in der analogen Welt habe ich damit keine Erfahrung. Ich denke, es zeigt klar und deutlich, dass das Internet meine Generation jeder praktischen Fähigkeit beraubt hat, wir können weder Vorhänge aufhängen noch jemanden abseits des Internets aufspüren … Aber angesichts einer möglichen Katastrophe bleibt mir nichts anderes übrig, als zu googeln: „Was tun im Falle einer Katastrophe“; es auf WhatsApp zu teilen und zu hoffen, dass das Internet nicht zusammenbricht oder mir die mobilen Daten nicht ausgehen.

Aus Instinkt und aus den Filmen, die ich gesehen habe, weiß ich, wie man bei der Suche nach jemandem vorgeht. Wenn dies ein Western wäre, würde ich stundenlang dahinreiten und jeden, der meinen Weg kreuzt, fragen: „Kennen Sie Manuel Campón Bautista? Manolo? Ein Spanier, nicht besonders groß, mit andalusischem Akzent?“ Sie würden alle Nein sagen und ihres Weges gehen, ganz die Schweigepflicht befolgend, die in dieser Gegend gilt. Man weiß nie, ob man nicht der Nächste sein könnte, nach dem gesucht wird. Einige werden sich fragen, warum ich nach ihm suche, ob es ein Kopfgeld gibt, ob ich irgendeine Spur habe. Das sind die Schlimmsten, Suchende wie ich. Nehmt euch vor ihnen ihn Acht. Alle paar Kilometer käme ich in irgendeinem kleinen Dorf vorbei: Alpen, Flüren, Loikum… Dort würde ich einen dunklen Saloon betreten und dieselben Fragen stellen. Sie würden zu ein paar Missverständnissen mit den Stammkunden führen. Fremde sind nicht besonders beliebt, vor allem nicht jene, die Fragen stellen. Nach der Beilegung unserer Differenzen mit der Faust oder schlimmstenfalls durch das Zücken des Revolvers, würde ich wieder mein Pferd satteln und meinen Weg fortsetzen, während die Sonne sich am Horizont versteckt.

Hamminkeln, Cielo, Himmel
Hamminkeln

Bevor ich meine Sporen anlege und mein Pferd sattle, tue ich, was man bei jeder Ermittlung als Erstes tut: Ich sammle alle Information über die Person, die gefunden werden soll. Also beginne ich am besten ganz am Anfang.

Manuel wurde am 15. März 1931 in Utrera geboren, einer Stadt in der Provinz Sevilla, die unter anderem als eine der Wiegen des Flamenco bekannt ist. Seine Eltern waren José, Vorarbeiter auf einer Farm, und Dolores, die zu Hause eine Bäckerei hatte und nach der meine Mutter benannt ist. Als junger Mann war mein Urgroßvater José auch in der Königlichen Garde von Alfonso dem XIII., einem König, dessen Herrschaft wie die aller guten Bourbonen von Mogeleien und Schandtaten geprägt war, bis er 1931 beim Ausruf der Zweiten Republik ins Exil gehen musste. Wie meine Großmutter erzählte, hatte ihr Vater es so weit gebracht, weil er groß, blond und gut aussehend war, und sie betonte, dass diese Eigenschaften im Andalusien der 1920er-Jahre etwas ganz Besonderes waren.

Guardia Real Alfonso XIII
Königlichen Garde von Alfonso dem XIII.

Wann immer mir jemand in der Familie diese Geschichte erzählt, wird zum Beweis auf ein Foto meines Urgroßvaters in der Uniform der Königlichen Garde verwiesen. Sogar ich kann dieses Bild bis ins kleinste Detail beschreiben: Josés stolze Körperhaltung in der Uniform, das Unbehagen vor der Kamera, die Knöpfe und Schulterpolster, die Position der Hände, wohin sein Blick gerichtet ist … Aber ehrlich gesagt weiß ich gar nicht, ob ich dieses Foto jemals gesehen habe oder es mir, basierend auf den Erzählungen darüber, nur so vorstelle. Egal wie angestrengt ich danach gesucht habe, ich konnte es nicht wiederfinden. Also stelle ich mir gerne vor, dass dieses Bild ein Familienschatz ist, den wir miteinander teilen, irgendwo zwischen Traum und Einbildung, durch Beschreibungen in unser Unterbewusstsein eingraviert, in einem kollektiven Delirium, wie man es sonst nur von Marienerscheinungen kennt.

Manuel war das dritte von vier Kindern und der einzige Junge, nach Juana, der Ältesten, Tochter aus einer vorherigen Ehe, die meinen Urgroßvater zum Witwer gemacht hat, Luisa, und meiner Großmutter María de la Paz, die zwei Jahre jünger war als er. Über Manuels Leben in Utrera weiß ich nicht viel, weder über seine Kindheit noch die Jugendjahre noch ob er studiert hat oder einen bestimmten Beruf ausgeübt hat. Es gibt kaum Zeitzeugen und die, die noch da sind, haben eine lückenhafte Erinnerung. Da ich mich auf sonst nichts stützen kann, nutze ich die Gelegenheit und erzähle erst mal, dass mein Großonkel zwar Manuel hieß, sein ganzes Leben aber Manolito genannt wurde, eine Verniedlichung von Manolo, was sich von Manuel ableitet. Für einen Moment fühle ich mich wie in diesen russischen Romanen des 19. Jahrhunderts, wo ein und dieselbe Figur so viele Namen und Spitznamen hat, dass wir am Ende denken, es handle sich um viele verschiedene Personen.

Manuel und María de la Paz

Uns fehlt weiterhin jede Spur, bis wir den Wendepunkt erreichen, den jede gute Geschichte braucht. In den 1960er-Jahren beschließt Manuel, sich wie so viele andere Gastarbeiter auf ein Abenteuer in Deutschland einzulassen. Der genaue Zeitpunkt lässt sich schwer sagen, sowohl meine Tante als auch meine Mutter sind sich einig, dass sie noch sehr jung waren. Meine Mutter erinnert sich besonders an das erste Geschenk, das ihnen ihr Onkel Manolito aus Deutschland mitgebracht hat: ein Set Mickey-Mouse-Tassen, für die sie die ganze Nachbarschaft beneidet hat. Meine Mutter wurde 1960 geboren, also können wir davon ausgehen, dass Manuel irgendwann zwischen 1966 und 1968 weggegangen ist. Doch von diesem Zeitpunkt an beginnen die Unbekannten, die unklaren Daten und das Abenteuer am Niederrhein.

Im Laufe der vergangenen Wochen habe ich meine Familie nach Erinnerungen und Anekdoten gefragt, nach allem, was sie über meinen Großonkel wissen, aber die Antworten waren kurz, wenn überhaupt welche kamen. Meine Mutter erzählt mir, dass er ein freundlicher, höflicher und aufmerksamer Mann war, dass er bei jedem Besuch in Sevilla Geschenke mitgebracht hat, hochwertige Dinge, die damals in Spanien schwer zu bekommen waren. Auch, dass er gerne Anzüge getragen hat, gute Anzüge, diese dicken Tweed-Anzüge, die unverkennbar an vergangene Zeiten erinnern, wäre da nicht die Tatsache, dass die Mode wie die Tragödie zyklisch ist und solche Anzüge mittlerweile bei Hipstern wieder modern sind.

Wie war er so? Was weißt du noch über ihn? Ich frage immer wieder, aber diejenigen, die ihn am besten kannten, sind leider schon tot und diejenigen, die ihn kannten und mir von ihm erzählen können, erinnern sich nur oberflächlich, wie an einen Film, den sie vor langer Zeit gesehen haben, an dessen Handlung sie sich kaum erinnern und dessen Hauptdarsteller sie durcheinanderbringen. Eine Glasfabrik, eine gescheiterte Ehe, er spielte Akkordeon in einer Band, ein Konzert in Russland… Das sind die wenigen Hinweise, die ich habe, zusammen mit ein paar Fotos, die das Ergebnis harter archäologischer Arbeit in den Familienalben meiner Tanten sind. Ich werde weiterhin meine Verwandten befragen, denn ein Teil des Gedächtnisses arbeitet assoziativ. Wenn ich also hier etwas über Manuel finde, wird es dort weitere Erinnerungen wecken, und so kann ich dann durch ein Hin und Zurück mit den Nachforschungen weitermachen.

So verlockend es ist, will ich im Gegensatz zu meinem Großonkel nicht verschwinden, ich will nicht den leichten Weg wählen, will nicht von meiner Familie vergessen oder aus den Augen verloren werden. Ich will zum Beispiel nicht, dass meine Nichten mich nach ein paar Jahren nicht mehr wiedererkennen und ich in ihren Augen ein Fremder werde, so wie Manuel es für meine Mutter und ihre Schwestern geworden ist. Vielleicht ist es das, worum es in dieser Geschichte geht: so etwas zu verhindern, eine Familiengeschichte aufzubauen, Hinweise, Erinnerungen und Geschichten zu sammeln. Brotkrümel zu streuen, damit jemand, der – so wie ich auf dieser Suche – den Weg nicht weiß, auch wieder zurückfindet.

Ich sattle mein Pferd und lenke es dahin, wo gerade die Sonne untergeht. Laut John Ford ist das Wichtigste in einem Western, die Horizontlinie genau festzulegen, mal etwas höher oder tiefer, je nach dem, was die Geschichte und die Figuren verlangen, aber niemals in der Mitte. Davon hängt ab, ob die Geschichte gut ist oder nicht. Hier am Niederrhein gibt es keine Probleme mit dem Horizont. Wohin man auch schaut, sieht man ihn schon ohne viel Mühe: weit und unerreichbar; er fordert mich heraus, ihm zu folgen. Es bleibt abzuwarten, wie meine und Manuels Geschichte weitergeht, aber für mich ist klar, dass die Horizontlinie niemals in der Mitte liegen wird.

Sonnenuntergang am Niederrhein

Im Spanischen wird das Wort horizonte synonym für Limit und Grenze verwendet, auch in Bezug auf Perspektiven und die Zukunft.

Texto en español: https://stadt-land-text.de/2022/04/03/desaparecer/

Mehr von Álvaro Parrilla Álvarez

El Castillo

„Además, olvida usted, señor Otis, que el precio que pagó incluía
tanto el castillo como el fantasma…“

Oscar Wilde, El Fantasma de Canterville

¿No te da miedo estar solo en el castillo? ¿De noche? ¿Y los fantasmas? Esas preguntas, acompañadas con algún gesto de estupor o de escalofrío repentino, han sido lo que más he oído desde que llegué a la residencia, como una broma recurrente que no termina de hacer gracia y que me provoca desconcierto y duda.

Y la respuesta es sí, sí me da miedo. Nunca fui el niño más valiente, siempre algo temeroso de la oscuridad y las sombras y con una imaginación desbordante que intuía monstruos y fantasmas en cada rincón oscuro o en cada ruido nocturno. Y si esto me pasaba en pequeños apartamentos con poco espacio para presencias paranormales, imagínense ahora en este enorme castillo… Aun así intento no pensar demasiado en ello, ya que creo que la presencia de fantasmas es consustancial al castillo, parte de su esencia, como el naufragio a los barcos o el incendio al bosque. Además, si lo pienso, soy yo el intruso que está ocupando un espacio que no le pertenece, el nuevo en el edificio. Así que solo puedo intentar ser un buen vecino, respetar las costumbres de los inquilinos más antiguos y tratar como propias las zonas comunes para tener una buena convivencia con ellos: separar bien la basura, no escuchar música a volumen muy alto y no usar el taladro los domingos. Si estas simples normas de convivencia se aplicasen a la política internacional quizá sería todo más fácil…

Aunque si tuviera que elegir qué es lo que más miedo me da del castillo, no sería la presencia de fantasmas, sino un árbol que hay en el jardín que parece sacado de un manual de horror gótico, el sueño húmedo de Lovecraft. Si supiera de árboles diría que es un sauce llorón, por sus largas ramas como brazos fibrosos que se estiran para alcanzar desesperadamente el suelo, pero no tengo ni idea de árboles. Solo sé que ese es el típico árbol que en una noche cerrada de tormenta, entre el resplandor de los rayos, golpea tu ventana con las ramas hasta romperla e intenta atraparte con una fuerza descomunal. Mi esperanza con este estático enemigo es que florezca en primavera y cambie su aspecto a algo más amable, como les pasa a todos esos calvos que van de vacaciones a Turquía en busca de una segunda oportunidad capilar. Aunque hasta que eso ocurra lo tendré vigilado.

Árbol tenebroso

Y tras este ejercicio básico de nombrar mis miedos para superarlos, psicología de salón o primer día en el curso básico de coaching, puedo explicar porque vivo en un castillo, en concreto en el de Ringenberg, construido en 1229, casi 800 años de historia, casi tanto como la vida laboral de algunos presentadores de televisión. Y será así durante los próximos cuatro meses, los que dura mi residencia de escritura y los que va a durar el proyecto que me ha traído hasta aquí: La búsqueda del rastro de mi tío abuelo Manuel, que vivió en la región durante más de treinta años y del que ni yo ni mi familia conocemos o recordamos apenas nada, ya que fue alejándose de nosotros hasta convertirse en un total desconocido. Pero es pronto para eso, antes debo hablar del elefante en la habitación y así zanjar de una vez el tema: Vivo en un castillo.

Castillo Ringenberg

La obtención de una plaza en la residencia de escritura stadt-land-text fue una gran noticia, pero pronto quedó eclipsada por el hecho de que tendría lugar en el castillo de Ringenberg. Las pasadas navidades, en cuanto le conté a mi familia, mi madre insistió en que le mostrara cualquier imagen que hubiera de la fortaleza, como para confirmar la existencia del edificio y que no se trataba de otro de mis cuentos. En consecuencia vimos todos los videos en Youtube sobre el castillo, incluso aquellos hechos con el Moviemaker y que son sucesiones de fotos, más o menos enfocadas, con música techno de fondo, en un ejercicio de posmodernidad que ya quisieran muchos artistas contemporáneos.

Para nuestra sorpresa, al buscar Schloss Ringenberg, los videos con más visitas son recopilaciones de ataques de cisnes a los visitantes del jardín que rodea al edificio y que está separado de éste por un foso. En varios de los vídeos la gente huye despavorida del ataque y en otros hacen frente a las bestias de largo cuello blanco como si de una peli de terror de serie b se tratara: Los cisnes asesinos del castillo de Ringenberg, una mezcla entre un slasher y una película de caballeros medievales.

De momento no hay rastro de los cisnes, que emigraron al empezar el invierno a zonas más cálidas del sur de España o el norte de África, pero que según dicen deben estar a punto de volver. Como me comentó Claudia, la directora del castillo: “Que casualidad que ellos también vengan del sur como tú”. Me gusta el símil, pero creo que esos cisnes tienen más que ver con un jubilado alemán, que se marcha al sur en invierno en busca de climas más benignos, que conmigo. Aunque no me desagrada la idea de poder compartir algo de tiempo con esos cisnes sureños y quejarnos de los días nublados de Alemania y de lo difícil que es hablar el idioma.

En el corto espacio de tiempo que llevo aquí, varios amigos me han preguntado cómo estaba y, sobre todo, cómo era la vida en el castillo. Lo que me ofrecía una oportunidad de oro para bromear: “La vida feudal es más dura de lo que esperaba”, “Esta tarde me bato en duelo para defender mi honor” o “No puedo hablar ahora mismo porque tengo que ajusticiar a un plebeyo que ha cazado un venado en mis dominios”… Aunque la realidad de estos días ha sido otra: me he reconciliado con el silencio, solo roto por el continuo canto de los pájaros y por el sonido de las veletas que coronan el castillo. Un afilado chirrido por momentos molesto, pero al que estoy aprendiendo a escuchar como si fuera el latido metálico del edificio, el único elemento que se atreve a discutir su carácter de inalterable postal, que le aporta movimiento y hace sentir que el castillo sigue vivo.

Soy consciente que para muchos no es especial o relevante el hecho de vivir en un castillo, hoy día parece mucho más complicado encontrar un piso de 80 m² en el centro de cualquier ciudad que vivir en una fortaleza de más de 800 años. O aquellos que se casaron en tal o cual castillo, los más atrevidos y ajenos al buen gusto en bodas temáticas del Señor de los Anillos o de Juego de Tronos, no verán nada extraordinario en mi situación. Algún día algún antropólogo dedicará el tiempo suficiente a explicar por qué la gente se casa en castillos, supongo que serán las mismas ganas de ostentación de poder y riqueza que ya tuvieron los señores que edificaron estos enormes edificios, y menos la parte de hacerlo en un sitio seguro a prueba de asedios.

Castillo Ringenberg

La misma ostentación que estoy haciendo en este texto, quien esté libre de pecado que tire la primera piedra. Cuya máxima expresión es la presencia de mi nombre en el timbre del castillo, aunque no de la forma correcta: “Álvaro Álvarez”. Herr Álvarez, Herr Álvaro, Herr Parrilla, Herr Parrilla Álvarez… Son algunas de las combinaciones que he visto con mi nombre desde que estoy aquí, como si fuera un juego donde se premiase a la más original. Pero mi nombre es más sencillo que todo eso: En España tenemos dos apellidos, el primero viene del padre y el segundo de la madre. En mi caso Parrilla (padre) Álvarez (madre) y mi nombre es Álvaro. Sé que el parecido entre mi nombre Álvaro y mi segundo apellido Álvarez no ayuda a solucionar la confusión, y que mi familia, previendo mi futuro en Alemania, podrían haber simplificado mi nombre. Pero creo que ningún padre espera que su hijo termine emigrando.

Tal como hizo mi tío abuelo, cincuenta años antes que yo, al llegar a Niederrhein, Bajo Rin, en un contexto diferente, más difícil y aislado. Y sí en apenas una semana he visto como mi ritmo, mi cotidianidad e incluso mi mirada han cambiado entre estos horizontes abiertos, campos de cultivo que transitan del verde al amarillo y que no parecen tener fin, suspendidos en un tiempo sin estaciones. ¿Cómo esto afectó a la vida de Manuel? ¿Fue este tiempo suspendido lo que lo retuvo aquí o hubo algo más? Y si fue algo más, ¿seré capaz de encontrarlo? Desde mi nueva fortaleza estoy dispuesto a descubrirlo, pero tendrá que ser en un próximo texto. Es tarde y debo apagar la luz para no molestar a los fantasmas del castillo. Hay que ser un buen vecino.

En español “Fortaleza” es sinónimo de castillo y también significa fuerza y vigor.

Text auf Deutsch: https://stadt-land-text.de/2022/03/25/das-schloss/

Mehr von Álvaro Parrilla Álvarez

Das Schloss

„Außerdem vergessen Sie ganz, Mr. Otis, dass Sie zu dem Schloss
das Gespenst mit dazugekauft haben…“

Oscar Wilde, Das Gespenst von Canterville

Hast du nicht Angst so allein im Schloss? Nachts? Und die Gespenster? Diese Fragen, begleitet von einem Ausdruck der Bestürzung oder plötzlichem Schauder, höre ich seit Beginn meiner Residenz ständig, wie ein immer wiederkehrender Witz, der nie aufhört, lustig zu sein, in mir aber Unsicherheit und Zweifel sät.

Und die Antwort lautet ja, ja, ich habe Angst. Ich habe nie zu den mutigsten Kindern gehört, hatte immer schon ein wenig Angst vor der Dunkelheit und den Schatten, und ich hatte eine ausgeprägte Fantasie, die in jeder finsteren Ecke und bei jedem Geräusch in der Nacht sofort Monster und Gespenster vermutete. Und wenn das schon in kleinen Wohnungen mit wenig Platz für überirdische Wesen so war, wie soll es dann erst in diesem riesigen Schloss sein … Trotzdem versuche ich, nicht zu viel darüber nachzudenken, denn ich habe das Gefühl, dass Gespenster Teil des Wesens eines Schlosses sind, dazugehören, wie der Schiffbruch zum Schiff und der Brand zum Wald. Außerdem, wenn ich es mir recht überlege, bin ich ja hier der Eindringling, der einen Raum besetzt, der ihm nicht gehört, der Neue im Haus. Ich kann nur versuchen, ein guter Nachbar zu sein, die Gepflogenheiten der Mieter, die schon vor mir da waren, zu respektieren, und mich in den Gemeinschaftsräumen wie zuhause zu fühlen, um ein gutes Zusammenleben zu ermöglichen: Also trenne ich ordentlich den Müll, drehe die Musik nicht zu laut auf und packe sonntags nicht den Bohrer aus. Wenn diese einfachen Regeln für ein friedliches Miteinander auch in der internationalen Politik gelten würden, wäre alles vielleicht einfacher …

Aber wenn ich mich entscheiden müsste, was mir im Schloss am meisten Angst macht, wäre es nicht etwa die Gegenwart von Gespenstern, sondern ein Baum im Garten, der aussieht, als wäre er direkt aus einem Handbuch für Schauerromane gesprungen, wie ein feuchter Traum Lovecrafts. Wenn ich etwas über Bäume wüsste, würde ich sagen, es handelt sich um eine Trauerweide, weil sie so lange Äste hat, die wie faserige Arme verzweifelt versuchen, den Boden zu erreichen, aber ich habe keine Ahnung von Bäumen. Ich weiß nur, dass es genau diese Bäume sind, die in stürmischen Nächten im Schein eines Blitzes mit ihren Ästen gegen dein Fenster schlagen, bis es zerbricht, und dann mit einer ungeheuren Wucht hinter dir herjagen. Ich hoffe, dass dieser statische Feind im Frühling aufblüht und sein Gesicht etwas freundlicher wird, so wie bei Männern mit Glatze, wenn sie hoffen, ihren Haaren im Türkeiurlaub eine zweite Chance geben zu können. Aber bis dahin behalte ich die Sache besser noch im Auge.

Dunkler Baum

Und nach dieser einfachen Übung, meine Ängste zu benennen, um sie zu überwinden, einer Art Wohnzimmertherapie oder wie der erste Tag im Grundkurs eines Motivationscoachings, kann ich auch erzählen, warum ich in einem Schloss wohne, genauer gesagt im Schloss Ringenberg, erbaut 1229, also mit fast 800-jähriger Geschichte, fast so lang wie die Karriere mancher Fernsehmoderatoren. Hier werde ich die nächsten vier Monate leben, für die Dauer meiner Schreibresidenz und des Projekts, das mich hierhergebracht hat: Ich begebe mich auf die Spuren meines Großonkels Manuel, der mehr als dreißig Jahre lang in dieser Region gelebt hat und von dem weder ich noch meine Familie viel wissen, geschweige denn Erinnerungen an ihn haben, da er sich von uns entfernt hat und mit der Zeit zu einem völlig Fremden wurde. Aber dazu später mehr, erst muss ich über den Elefanten im Raum sprechen und die Sache ein für alle Mal klären: Ich lebe in einem Schloss.

Schloss Ringenberg

Die Freude über die Zusage der Schreibresidenz stadt.land.text war groß, wurde aber bald von der Tatsache überschattet, dass diese auf Schloss Ringenberg stattfinden sollte. Vergangene Weihnachten habe ich meiner Familie davon erzählt, und da wollte meine Mutter alle Bilder des Schlosses sehen, die es zu finden gab, um sicherzugehen, dass das Gebäude tatsächlich existierte und es sich nicht um eine meiner vielen Geschichten handelte. Daraufhin haben wir uns alle Videos über das Schloss Ringenberg angesehen, die wir auf YouTube finden konnten, sogar die mit dem MovieMaker zusammengebastelten, Aneinanderreihungen von Fotos, mehr oder weniger scharf, mit Techno-Musik im Hintergrund – postmoderne Werke, an denen sich schon viele zeitgenössische Künstler versucht haben.

Zu unserer Überraschung sind die Videos mit den meisten Aufrufen Kompilationen von Schwanenangriffen auf Besucher des Gartens, der das Schloss umgibt und von diesem durch einen Wassergraben getrennt ist. Einige der Videos zeigen Menschen auf der Flucht vor den Schwänen, in anderen stehen sie den Biestern mit den langen, weißen Hälsen gegenüber wie in einem zweitklassigen Horrorfilm, Die Killerschwäne von Schloss Ringenberg, eine Mischung aus Slasher und mittelalterlichem Ritterfilm.

Aber von den Schwänen, die zu Beginn des Winters in wärmere Gegenden in Südspanien oder Nordafrika gezogen sind, fehlt momentan jede Spur, anscheinend sollen sie aber bald wiederkommen. Claudia, die Geschäftsführerin des Schlosses, meinte zu mir: „Was für ein Zufall, die kommen aus dem Süden, genau wie du.“ Der Vergleich gefällt mir, auch wenn ich das Gefühl habe, dass die Schwäne eher was von einem deutschen Rentner haben, der im Winter auf der Suche nach milderen Gefilden in den Süden zieht. Aber ich mag die Vorstellung, mit den Schwänen aus dem Süden etwas Zeit zu verbringen, wir können uns zusammen über die trüben Tage in Deutschland und die schwere Sprache beschweren.

In der kurzen Zeit, die ich schon hier bin, haben mehrere Freunde nachgefragt, wie es mir geht und vor allem, wie das Leben auf dem Schloss so ist. Für mich eine hervorragende Gelegenheit, um ein paar Scherze zu machen: „Das Adelsleben ist härter als erwartet“, „Heute Nachmittag steht noch ein Duell an, um meine Ehre zu verteidigen“ oder „Ich kann gerade nicht sprechen, ich muss einen Bürger hinrichten, der in meinem Herrschaftsgebiet ein Reh erlegt hat“ … Aber die Realität war diese Tage eine andere, ich habe mich mit der Stille versöhnt, die nur durch das ständige Vogelgezwitscher und das Geräusch der Wetterfahnen auf den Spitzen der Türme unterbrochen wird. Ein lautes Quietschen, das manchmal nervt, aber ich lerne, es als den metallischen Herzschlag des Gebäudes wahrzunehmen, das einzige Element, das es wagt, sein Dasein einer unveränderlichen Postkarte zu hinterfragen, ihm Bewegung verleiht und einem das Gefühl gibt, dass das Schloss noch lebt.

Mir ist klar, dass es für viele nichts Besonderes oder Bemerkenswertes ist, in einem Schloss zu leben, heutzutage scheint es schwieriger zu sein, eine 80 m² große Wohnung im Zentrum einer beliebigen Stadt zu finden, als in einem über 800 Jahre alten Schloss zu leben. Und so Leute, die in diesem oder jenem Schloss geheiratet haben, die verwegensten und geschmacklosesten Hochzeiten mit Mottos wie Herr der Ringe oder Game of Thrones, werden an meiner Situation auch nichts Außergewöhnliches sehen. Irgendwann wird irgendein Anthropologe sich die nötige Zeit nehmen, um zu erklären, warum Leute in Schlössern heiraten. Ich vermute, dahinter steckt derselbe Drang nach Zurschaustellung von Reichtum und Macht, den schon die Menschen hatten, die diese gewaltigen Bauwerke errichtet haben. Vermutlich eher als der Wunsch, an einem sicheren, vor Belagerungen geschützten Ort zu heiraten.

Schloss Ringenberg

Doch genau dieser Zurschaustellung mache ich mich mit diesem Text ja auch schuldig: Wer ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein. Der beste Ausdruck dafür ist, dass mein Name an der Klingel des Schlosses steht, wenn auch nicht ganz richtig: „Álvaro Álvarez“. Herr Álvarez, Herr Álvaro, Herr Parrilla, Herr Parrilla Álvarez … einige der Varianten, die mir hier schon begegnet sind, als wäre es ein Spiel, bei dem man für die originellste Version einen Preis bekommt. Aber mein Name ist gar nicht so kompliziert: In Spanien haben wir zwei Nachnamen, der erste kommt vom Vater, der zweite von der Mutter, in meinem Fall Parrilla (Vater) Álvarez (Mutter). Und mein Vorname ist Álvaro. Ich weiß, dass die Ähnlichkeit von meinem Vornamen zu dem zweiten Nachnamen die Sache nicht einfacher macht, und meine Familie hätte in Voraussicht meiner Zukunft in Deutschland den Namen etwas einfacher machen können. Aber welche Eltern erwarten schon, dass ihr Kind einmal auswandert?

So wie es auch mein Großonkel fünfzig Jahre vor mir getan hat, als er an den Niederrhein kam, in einem anderen, schwierigeren und isolierteren Zusammenhang. Ich habe schon in der ersten Woche gesehen, wie mein Rhythmus, mein Alltag, ja sogar mein Blick sich hier verändert haben, umgeben von den offenen Horizonten, den Getreidefeldern, die von Grün zu Gelb wechseln und kein Ende zu haben scheinen, in der Schwebe in einer Zeit ohne Jahreszeiten. Wie hat sich das wohl auf Manuels Leben ausgewirkt? War es dieser Stillstand der Zeit, der ihn hier gehalten hat, oder war da noch was anderes? Und wenn es noch was anderes war, werde ich es finden können? Von meiner neuen Festung aus bin ich bereit, es herauszufinden, aber das muss in einem der nächsten Texte sein. Es ist schon spät und ich muss das Licht ausmachen, um die Gespenster im Schloss nicht zu stören. Ich will ja schließlich ein guter Nachbar sein.

Im Spanischen wird das Wort „Fortaleza“ synonym für Schloss verwendet und bedeutet auch „Stärke“ und „Kraft“.

Texto en español: https://stadt-land-text.de/2022/03/25/el-castillo/

Mehr von Álvaro Parrilla Álvarez

das haldern pop und die langeweile

man würde nicht direkt einen „mehrdimensionalen musik-organismus“ hinter dem unauffälligen klinker der haldern pop bar vermuten. „Wir sind ein Ort, mit uns kann man rechnen/ oder auch nicht, aber solange es Lieder gibt, wollen wir weiter zuhören und nichts verpassen, aber weiterhin gerne den Bus“, schreibt stefan reichmann am 15. april in  sein mittlerweile auch als printmagazin verfügbares online-tagebuch, das „das Vakuum“ vom 17. märz bis zum 23. juni mittels kurzer und mittellanger text + bild-einträge zu füllen versuchte. das häufigste motiv: die bushaltestelle „als synonym für ‚regionale‘ geduld.“

wenn man es nicht besser wüsste, würde man also einfach durch den knapp 6000-einwohner-ort hindurchfahren, das hellbraune gebäude in der lindenstraße 1B nicht weiter beachten. dabei gibt es hier alles, was sich im weitesten sinne als funktionssäulen der pop- und festivalkultur begreifen lässt: neben der im 60er-jahre-style belassenen bar mit kleiner bühne gibt es den raum des ehemaligen wirts, in dem jetzt der plattenladen untergebracht ist. Im oberen geschoss befindet sich neben einer künstlerwohnung das büro des labels samt booking und vertrieb, das lager und eine terrasse, auf der stefan reichmann sitzt und raucht. 1984 seien sie als 14 messdiener vor die tore des dorfes gezogen, um laut und unruhig zu sein. seit 37 jahren sei es daher mehr oder weniger ein hamsterrad gewesen; wenn das eine festival vorbei war, ging das nächste los, erzählt er in sätzen, die ähnlich wie seine tagebucheinträge manchmal wahrhaftig und manchmal fast weihevoll klingen. laut und unruhig ist es dieses jahr nicht. das programm für die 37. ausgabe war fertig und alle hätten sich darauf gefreut, sagt reichmann. lily moore, sudan archives oder BADBADNOTGOOD sind nur ein paar der künstler*innen, die zugesagt hatten.

aber auch wenn haldern eine live-marke sei, die nun fast gänzlich lahm liegt, komme die pause dem festivalbetrieb nicht nur ungelegen. man könne reflektieren, wo man vielleicht zu groß, zu üppig geworden wäre, so reichmann. neben dem „Haldern“ veranstalten sie tourneen und ein weiteres festival in kaltern, südtirol. obwohl die besucherzahl des open air festivals stetig gestiegen und die nachfrage längst da ist, schließen sie kategorisch aus, mehr als 7000 tickets zu verkaufen. 2009 wurde die bar zurück ins leben gerufen, die seit 1999 geschlossen war, sie beließen sie weitgehend so, wie sie vorher ausgesehen hatte. die idee war eine off-day-location für tourende bands und künstler*innen. denn haldern, sagt reichmann, das sei nicht nur irgendein dorf auf dem land, es liege genauso auf der achse zwischen paris und berlin bzw. hamburg, zwischen amsterdam und  münchen. das ganze funktioniert, faber hat hier eins seiner ersten konzerte gespielt, george ezra ist schon aufgetreten. mittlerweile hat die bar unter normalen umständen von donnerstag bis samstag geöffnet, manchmal auch sonntags. es kommen leute aus dem dorf aber auch von weiter weg. erst letztes wochenende seien zwei junge frauen hier gewesen, um ihr privates haldern zu zelebrieren. sie hätten nicht wahrhaben wollen, dass es dieses jahr nicht stattfindet.

als jüngstes von neun katholisch erzogenen kindern ist der heutige künstlerische leiter des festivals hier geblieben,  auf dem land. „aus der langeweile erwächst einiges“, sagt reichmann. obwohl er den vergleich von stadt und dorf unproduktiv findet – schließlich befruchte man sich doch gegenseitig – könne die ruhe auf dem land in einer situation wie dieser helfen. man hätte gelernt, geduld zu haben. reichmann sieht das dorf als resonanzraum im sinne des soziologen hartmut rosa: statt sich ständig in modernen imperativen der steigerung und beschleunigung zu messen; statt alles und jeden als verfügbares objekt oder material zu sehen, sei das hier ein ort für beziehungen, eben für resonanz. die partizipation der einwohner*innen am festivalgeschehen sei hoch, aber wenn im juli ein schützenfest anstände, würde man davor keine werbung für das festival machen. dann wären eben erst die plakate für das schützenfest an der reihe. man müsse sich öffnen und gleichzeitig verstehen, wo man steht, müsse koexistieren mit den dorfangelegenheiten.

„Be true – not better!“, das ist der leitspruch des festivals. von der terrasse aus hangelt sich eine lichterkette hinunter in den innenhof. hier hätte eigentlich ein biergarten entstehen sollen, aber leute beschwerten sich. die lautstärke. wenn er hier täglich rasenmähen würde, gäbe es wahrscheinlich nichts einzuwenden, sagt reichmann und lacht. so bleibt der innenhof leer. neben dem tagebuch hat das team eine eigene online-radiosendung „Liedgut“  ins leben gerufen, außerdem gibt es am 7. und 8. august – dem ursprünglichen zeitraum des festivals – konzerte in haldern und dingle (irland), die per livestream zusammengeschaltet werden. Black Country, New Road und die Berliner stargaze, Peter Broderick und Lisa Hannigan spielen an verschiedenen orten, aber doch zusammen. irgendetwas müsse stattfinden, nur eben anders. „Was bleibt ist die Meinung, der Durst und die Neugier. Willkommen im Dorf.“  so steht es auf der letzten seite des tagebuchs.

 

Mehr von Carla Kaspari

honigstraße

ich stehe also in rheurdt schaephuysen und habe die handbremse angezogen. während der knapp einstündigen autofahrt ist ein paar mal die frage aufgekommen, ob sich der weg lohnt. alles ist in die erste dickwattige schwüle des jahres gehüllt. außerdem ist feiertag. der nachmittag wirkt ein wenig beleidigt darüber, seine einladung zur trägheit abzulehnen und ihn stattdessen mit aktivität zu füllen. nach einer strecke, die über den rhein, unspektakuläre landstraßen aber immerhin durch die alpen führt; mir den blick auf einige röhrend überholende heckscheiben mit tribal-aufklebern, erdbeerfelder und weiße waden in karierten dreiviertelhosen gewährt hat; mich mehrmals daran erinnert, dass er jetzt wohl da ist, der sommer 2020, erreiche ich eine steile einfahrt. es ist die auffälligste unebenheit, die aggressivste steigung, die mir in der region bisher begegnet ist.

jan kommt sie herunter und öffnet mir, er lebt hier mit niels. beide tragen kleidung, die worte wie „werkeln“ und „es gibt immer was zu tun“ nahelegen. während der nächsten zwei stunden zeigen sie mir ihren hof. relativ schnell muss ich feststellen, dass „hof“ nicht die richtige beschreibung für das areal ist, das die beiden – und seit kurzem auch jans mutter – ihr zuhause nennen. es klingt zu sehr nach landwirtschaft, nach nutztierhaltung, nach milchsteuer. was hier passiert, hat wenig mit pragmatik zu tun. die beiden haben sich – und es klingt so abgedroschen wie es wahr ist: ein kleines paradies geschaffen. neben dem haupthaus, das sie bewohnen, gibt es eine garage, ein etwas muffiges gästehaus mit sauna, das noch zum partyhaus umfunktioniert werden soll, und einen weiteren verschlag, hier ist gerade ein pfau drin, sagt niels und öffnet die tür, gibt den blick frei auf das dort ruhig und majestätisch thronende tier vor großen buntglasfenstern.

zwischen den gebäuden führt ein schmaler kiesweg durch bäume und brennholzstapel, es gibt eine wasserpumpe, wildwachsende blütenpflanzen, wildwachsende pflanzen ohne blüten, einen kirschbaum. am ende grenzt das grundstück an ein feld, man sieht nichts als feld. dahinter kommt nur noch holland, sagt jan. insgesamt laufen zwei pfaue über den hof, neben ihnen halten die beiden gänse und hühner, sie imkern, Honigstraße wurde der hof früher auch genannt. an der garage hängt noch das alte straßenschild. sie haben eine katze, einen hund, eine jugendliche gans, die sich verhält wie ein hund und uns während des spaziergangs auf schritt und tritt über das grundstück begleitet. sie hätte sich zu sehr an die beiden gewöhnt, sagen sie. auf der benachbarten wiese grasen zehn ziegen, das wäre praktisch, dann müssten sie die wiese nicht mehr mähen.

jan (38) ist polizist beim LKA und niels (32) ist arzt. sie haben sich vor fünf jahren entschieden, aus einem essener vorort aufs land zu ziehen. wobei das hier ja kein richtiges land wäre, sagt jan, man wäre schließlich schnell überall. er arbeitet weiterhin in duisburg, niels hat einen job in der gegend. beide kommen aus dem ruhrgebiet. ob ihnen etwas fehle, frage ich, wir stehen im riesigen bewaldeten gehege der hühner, das kaum ein gehege ist, sondern eher wirkt wie ihr eigenes  schattiges dorf. In der mitte steht der hühnerschlag wie eine kirche, im vergitterten krankenhaus unweit des zentrums päppeln sie lädierte hennen aus legebatterien auf und die küken tun ihre ersten schritte. um das areal baumeln leere weinflaschen in der luft. wenn man nur sie betrachtet und die dekoelemente, die sporadisch aber liebevoll-konsequent in gewächse, fenster, auf baumstümpfe oder zielsicher ins hoch gewachsene gras drapiert wurden, könnte man sich auf dem gelände eines kleinen, naturverbundenen festivals vermuten, auf dem verspielter bummeltechno läuft. wie, um das gegenteil zu beweisen, kräht einer der hähne laut.

nein, ihnen fehle nichts. sie wären auch in essen nicht diejenigen gewesen, die viel ausgegangenen sind, auf konzerte oder ähnliches. im ort gebe es außerdem musik-programm und manchmal kabarett, normalerweise zumindest, das würde ihnen reichen. außerdem bekämen sie hier fast täglich besuch aus der nachbarschaft, man wäre hier sofort integriert gewesen. zur bestätigung kommt kurze zeit später ihr nachbar vorbei, um frische eier abzuholen. natürlich hätten sie sich am anfang gedanken gemacht, sagt jan, so als homo-paar hier her und reden würden eh alle, aber das wäre nie ein größeres ding gewesen. als die leute gemerkt hätten, dass sie vegetarier sind, waren sie überraschter. und erst, wenn sie keinen schnaps trinken würden, meint jan, würde es problematisch.

als ich zurückfahre ist es abend, die luft nicht mehr ganz so feucht. mehr neue beobachtungen gibt die autofahrt für ein szenisches ende des textes nicht her. ich habe trotzdem gute laune, weil ich das gefühl habe, zwei menschen getroffen zu haben, die die frage nach dem „wie wir leben wollen“ für sich richtig beantwortet zu haben scheinen; die zufriedenheit ausstrahlen, ohne es darauf anzulegen. das finde ich selten.

Mehr von Carla Kaspari

haarmonie

der mittwoch hängt verklärt im buschigen blattwerk der bäume. schon nach den allerersten sommerlichen tagen rauscht es ein bisschen müde vor sich hin. sein grün hat den saftigsten höhepunkt des jahres bereits jetzt, mitte mai, hinter sich gelassen.  die blätter hängen ob dieser feststellung ein wenig lethargisch in der luft und warten auf regen, der auch heute nicht kommen wird.

das diesige grundgefühl des morgens wird nur durch paar autos zerschnitten, die auf der hauptstraße (sie ist eine und heißt dann auch so) in einer scharfen kurve aus dem ort heraus oder in ihn hinein biegen. am äußersten punkt der kurve liegt hinter üblichem roten klinker der friseursalon haarmonie. es ist nicht nur das letzte und erste haus der straße, sondern des gesamten ortes. wäre der ort „ringenberg“ ein buch, dann wäre das rosa schild des haarstudios sein erster und sein letzter satz. vielleicht wäre es sogar ein ausrufezeichen.

ich bin ein bisschen aufgeregt. wahrscheinlich hatte für mich noch kein friseurbesuch jemals einen solchen eventcharakter. die ursachen dafür sind vielfältig: erstens ist der letzte termin aus offensichtlichem grund lange her. ich kann mich nur noch schemenhaft daran erinnern, wie man sich beim friseur verhält. zweitens – und daraus resultierend –  hat das geschehen auf meinem kopf zu diesem zeitpunkt ausmaße angenommen, die sich sehr treffend als „ausmaße“ und spätestens seit april nicht mehr als frisur beschreiben lassen. dazu kommt, dass es sich nicht um meinen szenigen friseur in der stadt handelt, sondern um einen dorffriseursalon, in dem ich noch nie war. es ist – ebenfalls aus offensichtlichem grund – das erste mal, dass ich neben kassierer*innen, der engeren nachbarschaft oder flüchtigen begegnungen auf abstand, mit menschen aus dem ort in kontakt trete. in der ereignisleere der letzten wochen; der unplanbaren wirklichkeit, erzeugt die vorstellung direkten körperkontakts und die einer intimen gesprächssituation im frisierspiegel spannungsgefühle in meiner magengegend. ich habe weder eine ahnung, was mich erwartet, noch, was meine haare erwartet. es ist – zugegeben etwas zugespitzt, aber auch ein bisschen wahr – der britney spears moment meines aufenthalts.

 

während der längsten haarwäsche meines lebens  werden diese gedanken angenehm egal. das formatradio, das dudelnd atomsphäre schafft, der chemisch-süßliche geruch des shampoos, die eierschalfarbenen haartrockner überhalb der frisiertische von einer firma namens „equator“ – alles vermischt sich in den kreisenden, shampoonierenden bewegungen zu einem einzigen wohltuenden erlebnis. so wie das interieur ein wenig aus der zeit gefallen ist, vergesse auch ich, rücklings im waschbecken hängend, welcher tag ist, oder wo ich mich befinde. ich vergesse sogar fast ein bisschen was ich hier überhaupt will. ich will wenn überhaupt, dann einfach weiter massiert werden. irgendwann sagt die friseurin „so“ und ich öffne die augen, mein blick gen equator.

 

auch das anschließende gespräch gestaltet sich angenehm. durch den zustand der welt im allgemeinen und den der friseursalons im speziellen ist für ausreichend inhalt gesorgt. außerdem lobt die friseurin mehrmals meine haare, das wiederum stimmt mich als durch und durch korrumpierbares wesen froh und ihr zugewandt. zwischen uns ergibt sich recht schnell eine stimmung, die man als nett und aufgeschlossen beschreiben könnte. was sie mit meinen haaren macht, lasse ich in britney-modus geschehen, hier noch ein bisschen? ja klar. ich sage zu keiner spülung nein und auch zu keiner pflege und am ende auch zu keinem öl. als sie mich fragt wie ich meine haare sonst trage, muss ich lange nachdenken. im spiegel sehe ich zwei rinder gras kauen. neben mir werden einer frau die haare rot gefärbt, sie leuchten wie klatschmohn.

als ich den friseursalon haarmonie wieder verlasse, fühle ich mich rundum gut und freue mich schon jetzt darauf, die nächste wiedereröffnete lokalität im ort zu besuchen. ob der schnitt etwas geworden ist, kann ich auch einige tage später nicht abschließend feststellen, weil meine haare auch dann immernoch mehr aus produkt als aus keratin bestehen und sich ihre form erst wieder in der sporadischen pflege meines silikonfreien bioshampoos ergeben muss. ich glaube, es ist okay. und selbst wenn nicht, es hätte sich gelohnt. draußen rauschen die bäume grün und unaufgeregt, ein auto biegt um die kurve. sonst passiert nichts.

Mehr von Carla Kaspari