Tutzi/Tauben

Heute war der Mann mit der Glatze und dem großen roten Eimer wieder da. Er hat die Futterplätze oben auf der Cassiusbastei befüllt. Ich bin immer als erster auf den Beinen, das weiß jeder hier, aber weil alle anderen immer bis spät in den Morgen hinein schlafen, will niemand mir glauben. Niemand will mir glauben, dass das Problem, das unsere Frauen seit Kurzem haben, von dem Mann und dem roten Eimer her rühren. Ich kann von unseren Schlafplätzen aus sehen, wie der Mann jeden Morgen auf die Cassiusbastei steigt und ein Tütchen aus seiner Tasche hervorholt, ich kann sogar lesen, was auf dem Tütchen steht – Fertistopp99, darin sind kleine Pillen, und die mischt der Mann mit der Glatze uns ins Futter. Wir pflanzen uns – anders als früher – das ganze Jahr fort, weil wir in der Stadt leben. Jeder von uns produziert zwölf Kilogramm Kot im Jahr. Das ist der Stadt zuviel, dabei produzieren die anderen, die hier leben, wesentlich mehr Kot. Trotzdem will man nur uns und niemand anderen vergrämen. Die meisten denken, dass wir nur kurz leben. Eigentlich ist das wahr. In der Stadt lebt man kürzer, als auf dem Felsen, aber ich habe nie auf dem Felsen gelebt und ich bin jetzt schon fast zwanzig Jahre alt. Ich vergesse vieles, ich wiederhole mich, aber ich weiß, dass der Mann mit der Glatze uns die Pillen ins Essen mischt, damit unsere Frauen sie fressen, weil sie uns damit vergrämen können.

Hier in der Stadt leben sehr viele Menschen, deswegen ist es ungewöhnlich, dass ich mich an den Mann mit der Glatze erinnern kann. Er war achtzehn und ein Junge, ich war zwei und schon erwachsen. Damals trug der Mann mit der Glatze seine langen, braunen Locken bis auf die Schultern, er stand auf dem Friedensplatz – unserem Platz – und demonstrierte gegen Kohl. Damals waren wir noch die Hauptstadt, und der Bundeskanzler lebte im Palais Schaumburg. Am Palais wollte man uns nicht. Das ganze Gebäude war schon damals mit Abwehrsystemen ausgestattet, mir hat es gefallen, dass gegen diesen Mann demonstriert wurde. Der Junge mit den Locken stand in der Menge und hielt eine Packung Hühnereier unter seinem Mantel versteckt. Kohl ging, von seinen Leibwächtern umringt, durch die Menge. Er versuchte wegen der Gegendemonstranten besonders würdig auszusehen, aber er hatte Angst, das konnte ich daran erkennen, wie er immer wieder mit den Augen blinzelte. Er hatte Erfahrung hierin, er war ja schon mehrfach mit Eiern und anderen schmutzigen Dingen beworfen worden. Das Ei, das der Junge mit den Locken warf, traf Kohl mitten ins Gesicht. Kohl verzog seinen Mund vor Schmerz, und als er sich das Eiweiß aus den Augen wischte, dachte ich für einen Moment, Kohl würde weinen. Kohl klagte erst, nachdem der Junge mit den Locken ihn beworfen hatte, öffentlich darüber, dass sich keiner vorstellen könne, wie schmerzhaft es sei, ein Ei an den Kopf zu bekommen.
Der Junge war bei seinem Wurf sehr konzentriert gewesen. Er hatte lange überlegt und wie ein Jäger, der auf Tiere schießt, den richtigen Moment abgewartet. Dabei hatte der Junge nicht bemerkt, dass ihn die ganze Zeit ein Mädchen beobachtete. Sie trug eine Brille und die üblichen schwarzen, schweren Schnürstiefel, die man zu dieser Zeit trug. Als sich die Demonstration langsam auflöste, lief es zum ihm hin und sprach ihn an. Der Junge grinste, aber nur mit dem Mund, nicht mit den Augen, er war damals schon sehr bitter. Das Mädchen nahm den Jungen an der Hand und zog ihn durch die Fußgängerzone in Richtung Roxy, wo sich damals alle trafen.

Ich weiß nicht wieso ich mitflog. Ich war jung, und das Wetter war schön. Ich hätte das alles sicher vergessen, wenn der Junge von damals heute nicht derjenige wäre, der uns das Futter vergiftet, denke ich. Das Mädchen legte im Roxy ihren Schülerausweis vor und bestellte zwei Tassen Tee. Der Junge lachte laut, trank aber seinen Tee, und fing mit dem Mädchen ein Gespräch an. Als das Mädchen noch mehr Tee bestellen wollte, schüttelte der Junge den Kopf und stand auf. Er fragte, ob das Mädchen mitkommen wolle. Sie nickte heftig. Der Junge und das Mädchen liefen in die Cassiusbastei und kamen mit Eierlikör und einer Flasche Fanta zurück. Sie liefen am Busbahnhof vorbei zum Hofgarten, dort stand das Auto vom Jungen, und jetzt, wo ich auf das Auto komme, fällt mir wieder ein, wieso ich mich an den Mann mit der Glatze erinnere. Das Auto vom Jungen hatte einen Namen, es hieß Tutzi. Ich habe eine meiner Töchter so genannt, weil mir der Name so gut gefallen hat. Sie würde heute anders heißen würde, wenn ich damals gewusst hätte, dass dieser Mann uns in Zukunft vergrämen wird.
Das Mädchen musste lachen vor Rührung, als sie den Namen des Autos hörte. Sie dachte, dass es für den Jungen sprechen würde, und dass seine Bitterkeit in Wirklichkeit versteckte Süße sein könnte. Der Junge griff nach einer der unzähligen Fantaflaschen, die auf dem Rücksitz lagen und mischte Eierlikör mit Fanta. Blonder Engel, sagte er und hielt dem Mädchen die Flasche hin. Das Mädchen machte ein komisches Gesicht, als sie die Flasche ansetzte und zu trinken begann, aber es schmeckte ihr offensichtlich und weil sie damit nicht gerechnet hatte, trank sie umso gieriger. Der Junge startete den Motor, Tutzi schnaufte kurz und fuhr los. Sie fuhren über den Rhein auf die andere Seite der Stadt. Ich ließ mich vom Wind über die Kennedybrücke treiben. Von Süden her konnte man riechen, dass Montag war, denn jeden Montag wurde damals in der Haribo-Fabrik Lakritz gekocht. Der Lakritzgeruch vermischte sich mit dem Nougatgeruch von den Kessko-Werken, der aus dem Osten herüber wehte. Ich schaute auf Tutzi herunter und dachte daran, dass nichts so süß ist, wie die ganz junge Liebe.

Der Junge hielt vor einem Einfamilienhaus. Er schlug Tutzis Türen viel zu hart zu, und ging mit dem Mädchen ins Haus. Kurz darauf ging im obersten Stockwerk das Licht an. Vom Balkon aus sah ich das Mädchen auf dem Teppichboden sitzen, der Junge legte eine Schallplatte auf und setzte sich zu dem Mädchen auf den Teppichboden, und da beugte sich das Mädchen zu ihm herüber und küsste ihn. Die beiden zogen sich ihre Sachen aus und legten sich ins Bett. Der Junge war sehr betrunken, aber weil er noch so jung war, konnte er trotzdem mehrmals hintereinander mit dem Mädchen schlafen. Immer wenn es mal wieder so weit war, stand der Junge auf und kramte unter dem Bett in einem Haufen Schülerzeitungen herum. Jedesmal piddelte er ein Kondom herunter, das mit Uhu als Gimmick auf die letzte Seite der Schülerzeitung geklebt worden war. Der Junge erzählte, dass er der Redakteur der Schülerzeitung sei, und dass die Lehrer ihm verboten hätten, die Ausgabe mit dem Kondom zu verteilen und die gesamte Auflage nun unter seinem Bett verschimmelte.
Als der Junge und das Mädchen müde wurden, lagen sie einfach so nebeneinander im Dunkeln. Dem Jungen ging ein Lied durch den Kopf, das er als Kind immer gern gehört hatte. Der Junge hätte es dem Mädchen gern vorgesungen, denn es hieß Mädchen nur mit Brille, aber weil es von den Flippers war, traute er sich nicht, weil er Angst davor hatte, dass ein Lied von den Flippers das Mädchen vergrämen würde, egal wie passend es wäre, aber das Mädchen schlief schon längst, müde von der erlebten Lust.

Am nächsten Morgen, als er Mann hoch zu uns auf die Cassiusbastei steigt, setze ich mich auf den Blitzableiter. Er holt ein kleines Tütchen heraus. Putt, putt, putt, sagt der Mann, mischt die Pillen aus der Tüte zuerst in den roten Eimer und schließlich in den Futtertrog. Dann geht er an die Kisten, die uns die Stadt zum brüten hingestellt hat und tauscht unsere Eier gegen Attrappen aus. Man sagt, dass wir äußerst geburtstreu sind. Das stimmt, und weil wir uns das ganze Jahr fortpflanzen, zählen wir zu den erfolgreichsten Vögeln der Erde. Der Mann mit der Glatze hat keine Kinder, er ist in dieser Hinsicht nicht erfolgreich. Er ist alt geworden, er trinkt immer noch Eierlikör mit Fanta, weil der süße Geschmack auf der Zunge ihn an seine Jugend erinnert, er ist einsam und hasst die Gegenwart, nur was haben wir damit zu tun? Er kann uns doch deswegen nicht einfach unsere Eier nehmen und uns Pillen ins Essen mischen. Aber er war es ja auch, der damals die Idee hatte, jeder Schülerzeitung ein Kondom beizulegen.

Mehr von Stefanie de Velasco

Sankt Traurigustin

Sankt Traurigustin, so heißt die Datei, die Jan mir am Abend über WeTransfer schickt.

Ich wollte mit meinem ersten richtigen Besuch in Sankt Augustin warten, bis Jan hier ist. So viel habe ich ihm von dort erzählt. Dass ich in einem Ort namens Mülldorf groß geworden bin, wo 1977 eine der ersten Shopping Malls Deutschlands gebaut wurden. Als mein Onkel Pedro aus Spanien uns Anfang der 80er besuchte, gingen wir am ersten Tag gemeinsam im HUMA einkaufen. Pedro stand mit offenem Mund auf der Rolltreppe, starrte auf die meterhohen Regale voller Haribo, Konserven, Waschmittel. Sein „Supermarkt“ – der Ort wo meine Großmutter in Spanien einkaufte, war ein kleiner Tante Emma Laden bzw. ein Onkel Amadeo Laden, so hieß der Mann, dem der Laden gehörte. Amadeo schrieb alles mit einem Bleistift auf einen Zettel, er schenkte uns Sugus, kleine spanische Kaubonbons, wenn wir Kinder die Einkäufe für unsere Abuela erledigten.

Was willst du morgen machen, fragte meine Mutter Onkel Pedro am Abend. Wir können nach Bonn fahren an den Rhein. Wir können uns das Geburtshaus von Beethoven anschauen, das Regierungsviertel, aber mein Onkel hob nur die Hand und zeigte aus dem Fenster in Richtung Huma. Da, dahin will ich.

Gut 35 Jahre später steigen wir an der Haltestelle Sankt Augustin Zentrum aus. Noch immer fahren die alten mintgrünen Bahnen der Linie 66 von Bad Honnef bis nach Siegburg – stabile Waggons offenbar. In all den Jahren bin ich immer wieder mit der 66 gefahren, wenn ich meine Mutter besuchte – die Veränderung, die die Gegend um den Huma, die Gegend in der ich groß geworden bin, erfahren hat, schockiert mich trotzdem.

Ich versuche Jan zu erklären, wie die Marktplatte einmal aussah, aber es gelingt mir nicht. Ich erkenne nicht einmal mehr das, was einmal war, es ist so oft überbaut worden, dass ich das Alte vom Neuen nicht unterscheiden kann.

Wir betreten den Huma, der jetzt einfach nur aussieht wie die Neukölln-Arcaden oder „Das Schloss“ in Steglitz, wo ich manchmal hinfahre, wenn ich neue Sportkleidung brauche. Hier war mal, fange ich wieder an, hebe die Hände. Du musst dir vorstellen, dass hier mal Rolltreppen waren, wo man Einkaufswagen reinhängen konnte. Jan schaut mich verwirrt an.

Wir laufen einmal durch den Huma, der Ausgang ist jetzt da, wo früher ein großer Parkplatz war. Wiese bedeckt ihn, ein riesiger Strommast steht auf der Wiese. In Berlin gibt es nirgends Strommasten, das fällt mir erst jetzt auf, wo Jan sagt, der Strom läuft hier ja überirdisch.

Stimmt. Die Strommasten reihen sich bis zum Horizont hintereinander, stehen Spalier, wie das Obst in der Voreifel wo meine Freundin Charlie wohnt und genau wie in den gnomhaften Apfelbäumen sitzen die Vögel oben in den Masten, auf den Kabeln und fragen sich vielleicht: Ist das Natur oder kann das weg? Früher als Kind dachte ich, es heißt Strom-Ast und diese riesigen dreiarmigen Herrscher seien sowas wie Mammutbäume aus Metall, von denen man statt Obst Strom erntete.

Einer von ihnen steht mitten in meiner alten Siedlung, ich kann ihn von hieraus schon sehen. Wir überqueren die Südstraße, dahinter beginnen die Straßen meiner Kindheit. Im Spichelsfeld, Rathausallee, Von-Claer-Straße. Die Häuser sind klein und gedrungen, weiße mit schwarzen Schieferdächern. Zwei Frauen in Burka spazieren vor uns entlang, ein Mädchen fährt auf einem Fahrrad – genau wie ich damals.

Ich halte nach Pfützen Ausschau. Früher wuchsen hier im Spichelsfeld in den Pfützen Kaulquappen heran. Als Kind fragte ich mich, wieso. In der Schule hatte ich gelernt, dass aus ihnen Frösche werden, aber wenn diese kleinen Kaulquappen erst einmal anfangen zu wachsen, dachte ich, dann werden diese Pfützen für ihre nächste Metamorphose schon keinen Platz mehr bieten. Erst viele Jahre später – ich dachte immer wieder an die Kaulquappen von Mülldorf – fiel mir auf, dass sie dort wahrscheinlich in Pfützen heranwuchsen, weil dort einmal viel mehr Wasser war, als 1983. Vielleicht war da mal ein Sumpf oder ein Moor oder ein Teich?

Es fängt an zu regnen. Jans Regenschirm klappt sich immer wieder nach oben, es sieht brutal aus, so als würde dieser Schirm gezwungen seine Gelenke zu überstrecken.

Am nächsten Tag gehe ich ins Stadtarchiv und erfahre:

Die Siedlung in der ich groß geworden bin, entstand in den 70er Jahren. Die Gemeinde Sankt Augustin befürchtete von Bonn oder Siegburg eingemeindet zu werden, also setzte sie alles daran so schnell wie möglich zu wachsen, um selbst Stadt werden zu können. Dazu wurde die große Lücke zwischen Mülldorf und Menden zugebaut. Vielleicht ist das ein Grund dafür, dass im Spichelsfeld Menschen aus dem Iran, Afghanistan, Marokko, Polen, Russland und den Mittelmeerstaaten Europas lebten. Der opportune Wunsch Sankt Augustins, zu wachsen, stellte sich für einen Moment unfreiwillig über die allgegenwärtigen rassistischen Ressentiments hinweg – zumindest in der Auswahl der Mieter*innen.

Ich erfahre:

Die Wohnsiedlung liegt viel näher an der Sieg als mir bewusst war, die Auen des Rheinnebenflusses reichen auf den alten Karten in unsere Siedlung hinein. Wir konnten als Kinder gar nicht ran an die Sieg, weil davor die Autobahn verlief, sie machte den Fluss für uns unsichtbar. Südlich der Sieg hat man die Autobahn gebaut, 1974, mitten in die Auen, dafür hat man den Fluss nach Norden gequetscht. Herr D., der Archivar und ich stehen vor den alten Karten. Muss so sein, sagt er, sieht man ja. Wie kann man einen Fluss nach Norden drücken, frage ich mich, aber geht offenbar. Und die Kaulquappen? Sie konnten mit der rasanten Umwandlung in Bauland nicht umgehen, ihre Eltern laichten weiter dort, weil sie dachten, das ist ein guter Platz für unseren Nachwuchs, aber da waren keine nassen Wiesen mehr, da war nur noch Beton, da war plötzlich alles versiegelt – viel zu schnell. Und Sankt Augustin wurde 1977 schließlich Stadt.

Mehr von Stefanie de Velasco

Atze

Wenn ich morgens in meiner Unterkunft die geräumige Küche betrete, treffe ich immer zuerst auf Atze. Atze liegt vor dem Kamin und ist der Hund von Erika, meiner Vermieterin. Früher habe ich ihn immer im Flur liegen gehabt, erzählt sie mir, damit die Einbrecher denken, da liegt ein Hund. Atze ist schon sehr alt, und das war er auch schon, als Erika ihn 1992 aus dem Tierheim zu sich nahm. 

„Ich wollte eigentlich nie einen Hund haben, ich bin eher ein Katzenmensch. Und bestimmt nicht so einen Großen. Aber es war die richtige Entscheidung, er war unheimlich lieb und ist mir vom ersten Tag an auf Schritt und Tritt gefolgt“, erzählt Erika, „aber so ein großer Hund lebt ja leider nicht so lange.“ 

Atze bekam starke Hüftprobleme, bis die Schmerzen so stark wurden, dass er nicht mehr aufstehen wollte. Erika fuhr ein letztes Mal mit Atze zur Tierärztin, wo er schließlich eingeschläfert wurde. Den Leichnam des Hundes behielt die Tierärztin da. „Ich weiß auch nicht wieso, sagt Erika und streicht über eine Ingwerknolle, die vor uns auf dem Esstisch in einer Obstschale liegt und schon grün zu treiben beginnt, „ich fuhr heim und saß genau hier an diesem Tisch, und da dachte ich, dieses schöne Tier, das tolle Fell, er hatte so eine imposante Mähne, fast wie ein Löwe, das sieht man jetzt leider nicht mehr – jedenfalls dachte ich, nein. Zu schade. Also rief ich meine Freundin an, die Barbara, die ist die Richtige für sowas, das wusste ich schon damals, und die fuhr mit mir zurück zur Tierarztpraxis. Den Atze hatten sie schon eingefroren, aber ich habe zu Hause gleich mit einer Preparateurin telefoniert und Atze kam direkt zu ihr. Ein halbes Jahr hörte ich nichts. Ich hatte den Atze schon längst vergessen, da kriege ich einen Anruf. Ihr Hund ist fertig. Ich brauchte einen Moment, um zu verstehen, was sie meint. Ich fuhr los und da war Atze, aber die Preparateurin hatte ihm seine ganz Mähne vorn getrimmt. Ich war vielleicht sauer. Gekostet hat das natürlich auch eine ganze Stange Geld. Naja, das ist so eine Geschichte“, sagt Erika und hält mir den Ingwer hin, „was macht man damit eigentlich, sagt sie, außer Tee?“ 

„Du kannst damit asiatische Gerichte würzen“, antworte ich, „du kannst ihn auch einpflanzen, er gedeiht inzwischen bei praller Sonne auch hier auf dem Balkon.“

„Einen Balkon habe ich nicht, wir haben einen Garten. Komm mal mit. Du musst mir mal bei was helfen“, sagt sie, „wir müssen deinen Wohnungsschlüssel suchen, der ist mir draußen irgendwo in die Blumen gefallen.“

Tatsächlich liegt der Schlüssel neben der Hollywoodschaukel im Hortensienbeet. 

„Ach“, sagt Erika,“ ich werde doch alt, siehst du, ich habe hier alles abgesucht, aber nichts gefunden.“ 

Die Hollywoodschaukel knarzt und bewegt sich plötzlich. Erika richtet sich auf und stemmt die Hände in die Hüften. 

„Jetzt hat die sich da schon wieder reingelegt“, schimpft sie und eilt an den Hortensien vorbei, sie schüttelt die Plane von der Schaukel, so als habe sich darin eine Maus versteckt. Ich sehe einen Schatten auftauchen, eine junge Frau mir kurzgeschorenen Haaren und kaputter Jeans. 

„Wie oft habe ich dir gesagt, dass ich das nicht will“, schimpft Erika, „du sollst hier nicht einfach schlafen!“

„Ich habe gar nicht geschlafen“, sagt die Frau, „ich habe mich nur gesonnt.“

Mit ihren wässrigen blauen Augen stiert sie zu mir herüber. 

„Wer ist die denn“, fragt sie und zeigt auf mich, aber Erika geht gar nicht darauf ein, sondern packt sie an den Schultern und zieht sie aus der Schaukel in Richtung Gartentörchen. Ich weiche einen Schritt zurück. 

„Erika, hast du einen Holländer?“, fragt die Frau. 

„Was denn für einen Holländer?“ 

„Na, einen Holländer-Käse“, sagt die Frau. 

Sie muss in meinem Alter sein, ihre Arme sind mit langen Narben übersät, so als habe sie sich immer wieder tief mit einer Rasierklinge ins Fleisch geschnitten. 

„Wenn ich dir ein Stück Käse gebe, verschwindest du dann?“, fragt Erika. 

Die Frau nickt. Ich folge Erika in die Wohnung, ich will mit der Verrückten nicht allein im Garten sein. Erika geht zum Kühlschrank, ich höre wie sie eine Tupperdose öffnet, Plastik raschelt, Erika geht zurück zur Haustür.

„Da hast du deinen Holländer“, sagt sie.

Ich bin inzwischen wieder oben in meinem Zimmer. Vom Fester aus sehe ich die Frau die Straße runterlaufen. Den Käse hält sie in der Hand, als sei er eine Stulle und beißt große Stücke davon ab.

Mehr von Stefanie de Velasco

Alltags-Abschluss – Ausstellung, Austausch, Auslese

Im Weltkunstzimmer in Düsseldorf fand im Juni 2020 der offizielle Abschluss meines Alltags-Interviews-Schreibmaschinen-Projektes statt, mit einer Ausstellung der Interviews, einer Podiumsdiskussion mit Maren Jungclaus vom Literaturbüro NRW, drei Interviewpartnern und mir sowie einer Lesung meiner Fragmentlyrik; eines Gedichtes, welches aus Fragmenten aller 20 Interviews besteht.

  • Ausstellung aller 192 Interviewseiten.
  • Austausch nicht nur zwischen mir und den Gästen, sondern auch untereinander. Außerdem: In Begegnung, in Dialog treten mit den Interviews, die quer durch die Räume gespannt waren.
  • Auslese Aus jedem der 20 Interviews wurde ein Satz ausgewählt. Verbunden ergeben sie ein neues Ganzes.

Fotografien von Hartmut Bühler.

Mehr von Larissa Schleher

Alltag – 10 Fragen an 20 Menschen

Von März bis Juni 2020 habe ich 20 Menschen interviewt, die Gespräche direkt auf der Schreibmaschine mitgetippt und nicht nachträglich verändert.

Die ersten in meiner Stadt.Land.Text-WG-Küche, zwischen uns vielleicht ein Meter Abstand – und die Apfelschale. Die nächsten digital per Videokonferenz, mehrere hundert Kilometer, einmal nicht nur Bundesland-, sondern zwei Staatengrenzen zwischen uns. Die letzten Menschen habe ich wieder persönlich interviewt, aber im Freien, 2 bis 3 Meter Abstand, so viel, dass man gerade noch versteht, was der andere sagt. Immer, zwischen uns die Schreibmaschine.

Es entstanden Gespräche zwischen 60 Minuten und 6 Stunden, zwischen 28 Zeilen und 21 Seiten. Gespräche über Kaffee, Kunst und Katzen. Über Korruption, Rassismus und Waffenschmuggel. Wäscheberge, Homeoffice und Heimatverlust.

Nachzulesen sind die Interviews in voller Länge in den vorangegangenen Blogeinträgen sowie in meinem Projektkatalog „Alltag“.

Bestellen könnt ihr ihn auf meiner Homepage: www.larissaschleher.com, oder per Mail unter: info@larissaschleher.com.

Die folgenden Bilder zeigen meinen Part des stadt.land.text-Lesebuchs, hier bekommt ihr einen kleinen Einblick in jedes Interview und einen Überblick über die Fragen. Das Lesebuch kann bei den Literaturbüros in NRW kostenfrei bestellt werden.

 

 

 

Mehr von Larissa Schleher

Interview 19 – wo viel Licht is, is ja manchmal auch Schatten

C. läuft an mir vorbei, als ich gerade jemanden interviewe. Er ist sehr interessiert, selbst Künstler, und er wird mein letztes Interview, das 19.

„Süden oder Meer, Nordsee find ich auch schön. Zeichnen und Malen, am liebsten, Süden, Meer, Kunst.“ – C.’s drei Schlagworte für seinen idealen Alltag.

Er zeichnet und malt, unterrichtet aber auch Kunst an einer Schule. „Durch die regelmäßige Tätigkeit hat man einen Rhytmus.“ „Das ist auch etwas, was ich schätze. Diese Struktur und der Kontakt zu den Schülern, zu den Kollegen.“

Wie sein Alltag in ein paar Jahren aussieht, aussehen soll?

„Diese Verbindung von Kunst und Lehre und grafischer Arbeit und angenehmem Privatleben. Das würde ich schon gern alles weitermachen.“ Er lacht. „Das ist auch etwas, das ist mir auch in anderen Gesprächen schon widergespiegelt worden, das was ich mache, das mache ich noch gerne. Gerade bin ich meine Antworten nochmals durchgegagen, da gibt’s schon Wünsche, z.B. das Klinkenputzen ist etwas, was mir gar nicht gefällt, aber da gibt’s schon positive Entwicklungen, vielleicht wird’s besser. Wo viel Licht is, is ja manchmal auch Schatten.“ C. lacht.

Mehr von Larissa Schleher