Meine erste Woche auf Instagram oder: Tag 1. Instagram bahnt sich an.

Fortsetzung meines Blogeintrags: Für stadt.land.text auf Instagram oder: Tag 0. Mein Leben vor Instagram

Im Dezember, Januar und Februar fühle ich mich noch schlau. Ich brauche kein Instagram.

Im Februar bin ich für ein Artist in Residence-Projekt zum Thema Europa in Vechta, Niedersachsen. Mein Projekt dort: Ich interviewe meine Gesprächspartner zu ihrer persönlichen Beziehung zu Europa und tippe alles ad hoc mit der Schreibmaschine mit, es entsteht: Ein Dialog, der unverändert bleibt. Das Original behalte ich, den Durchschlag bekommt mein Gesprächspartner. Ich liebe mein Projekt, ich liebe die Gespräche und all die interessanten Geschichten und Menschen, die ich treffe. Ich mache das Projekt mit Leidenschaft, interviewe in den vier Wochen 100 Menschen und knipse einen Haufen Fotos (die auch unbearbeitet bleiben sollen. Ich mache von den Dingen und Menschen und Situationen ja Fotos, weil ich sie besonders schön finde. Wieso sollte da noch ein Filter drauf. Das ist übrigens eine rhetorische Frage). Ich soll auch einen Blog pflegen. Zu diesem Zeitpunkt habe ich die Vorstellung schon aufgegeben, die mediale Präsenz meiner Person relativ klein zu halten und meine Privatsphäre und Karriere außerhalb der Kunst damit zu schützen. Ich bin Künstlerin, Autorin, das vermischt sich irgendwie auch mit der Privatperson Larissa Schleher, ich poste, ich blogge, und an manchen Tagen sind mehr Journalisten bei mir als ich Finger an der Hand habe. Heute habe ich mich endlich dazu aufraffen können, die ganzen Zeitungen danach durchzusuchen, wo der Artikel von mir steht, und es hat lange gedauert. Dabei habe ich die Schönsten schon an Ostern verschenkt. Eine Zeitung für Oma, eine Zeitung für Mama, eine Zeitung für Papa.

Zum ersten und vermutlich letzten Mal im Leben ein D-Promi.

Yeah, Titelseite.

Ich sollte nur noch Projekte in Niedersachsen machen.

Ich lernte, dass man sich vor Interviews gut überlegen sollte, was man sagt – und nicht einfach drauf los babbeln, weil: Wenn man wenig sagt, wird zwangsläufig genau das aufgeschrieben, wenn man viel babbelt, sucht sich der Reporter irgendetwas davon raus, stellt es schräg zusammen und es kommen Sachen raus, die man so eigentlich nie gesagt hat, wenn man’s genau nimmt, aber das sollte man eben nicht mehr, irgendetwas genau nehmen, wenn man sich in der Öffentlichkeit bewegt. Das kommt mir auch beim Bloggen in die Quere. Ich nehm’s gerne genau. Sehr genau. Ich weiß nicht, wie das gehen soll, schnell mal etwas hochzuladen und zu schreiben, zu posten, was dann für immer – FÜR IMMER – oh mein Gott!, was für eine endlose Zeitspanne, zu finden ist – und vor allem, den Menschen gerecht zu werden, die ich interviewt habe. Die Menschen, die mit mir gesprochen haben, haben mir von Krankheit, Missbrauch, Gewalt, Krieg, Flucht, Armut und ihren geplatzten Träumen erzählt – und ich soll dazu innerhalb von kurzer Zeit etwas schreiben. Es fällt mir schwer. Ich will mit meinen Kommentaren den Interviews, den Menschen gerecht werden. Habe aber dazu gar nicht die Zeit, weil ich von einem Interview zum nächsten, von einem Termin zum anderen hoppe. Denke mir oft: Für die Außenwirkung wäre es vermutlich besser, du würdest wenig Leute interviewen, aber mehr von allem posten. Es wäre vermutlich besser, du würdest mit den Menschen keine drei Stunden quatschen, sondern für alle anderen da draußen drei Stunden bloggen. Aber man kann nicht alles zu 100% machen. Ich entscheide, dass die Durchführung des Projekts wichtiger ist. Das ist für mich die Kunst, meine wichtigste Aufgabe. Ich will die Blogeinträge nach und nach in Ruhe erstellen.

Bei einem Interview fragt mich mein Gesprächspartner, ob ich auch bei Instagram bin. Ich verneine. Er sagt: Das sollten Sie aber. Das ist doch heutzutage viel wichtiger als Facebook.

Äh ja, denke ich, klar, danke für den Tipp, vielleicht sollte ich das, vielleicht müsste ich das wirklich mal, karrieretechnisch und image und publicity und follower und influecer und was gerade alles wichtig und modern ist, aber irgendwie habe ich so gar keinen Bock drauf, so gar keine Zeit dafür, denke manchmal, du solltest alles Jämmerliche was du an social media hast, voll ganz deaktivieren und löschen und dein acht Jahre altes S3 mini aufgeben, das kleine Handy, dass du so liebst, weil es in jede Hosentasche passt und du noch nie ein anderes gehabt hast, außer dieses S3 mini, es ist für heute nicht besonders smart, aber es reicht, irgendwie, meistens auch nicht, aber das ist ja irgendwie egal, die Dinge, die man lange hat liebt man meistens, oder?, außer Fußpilz oder so was. Ich denke: Du solltest zu deinem ersten Handy zurück, das nur blau-schwarz und Tetris konnte. Dann hast du endlich wieder mehr Zeit für Blogeinträge, Waldspaziergänge, aus verschmierten Zugfenstern schauen und: Schreiben. Offline.

Schade, dass ich bereits ein neues Smartphone gekauft habe, weil es nervt, wenn weder Google Maps noch diverse Bahn- und Verkehrsapps funktionieren, wenn man viel unterwegs ist und absolut keinen Orientierungssinn hat, der Speicher permanent zu voll ist und man für jede 5-Sekunden-Sprachnachricht („hey, ich antworte dir später“) erst einmal 5 Minuten seinen Speicher leeren muss.

Das neue Smartphone liegt seit einem Monat eingepackt rum. Das Alte geht ja noch.

Dann beginnt das stadt.land.text-Projekt. NRW statt Niedersachsen. Düsseldorf statt Vechta. Für mich: Großstadt statt Kleinstadt. Aber eines bleibt gleich: Ich soll auch bloggen. Das kann ich. Mache ich auch brav. Dann kommt Corona. Es geht weniger live, plötzlich geht gar nichts mehr live, wir brauchen neue Projektformen, neue spreading-ausbreitungs-möglichkeiten, klingt gefährlich in dieser Zeit, I know, also instagramen wir jetzt alle, wir Regionenschreiber, freiwillig natürlich, aber ich sage mutig (nicht klug, das ist was anderes): Ich kann eine der Ersten sein, vielleicht die Erste, weil ich habe aktuelle Fotos von der photo+ Düsseldorf und aktuelle live-Interviews und das kann ich vielleicht nie wieder machen in meiner Stipendiatenzeit, Fotos von Kunstausstellungen mit echten Menschen und Fotos von Interviews, die ich nicht per Skype, sondern ganz nah dran geführt habe, und ich will das nicht in ein paar Wochen posten, da ist es doch veraltet, jetzt war die photo+, jetzt waren die Interviews, und ja, ich komme als zweite dran. Nach einem richtigen Social-media-Instagram-Profi (hi, Carla), das macht mir noch mehr Angst. Ich muss mich also ordentlich einarbeiten, wie man das so macht, wenn einem der Job eine neue Aufgabe beschert.

Und ich mache das gerne, weil ihr so nett seid, ihr habt ganz viele Flyer von mir gedruckt, auf denen mein Gesicht ist. Und ganz groß mein Name. Dafür arbeitet man sich natürlich auch in etwas ein. Ich beschließe, einen eigenen Account zu erstellen, dass ich das vorher auch testen kann, wie das geht, das Instagramen. Fühlt sich irgendwie ein bisschen nach Seele und Daten verkauft an, aber eine Woche ist ja kurz und das Profil schnell wieder gelöscht und ihr rettet mein Ostern, ich habe keine Geschenke, aber ich kann nicht nur Zeitungen verschenken, sondern auch Flyer. Meine Oma hat ihn gleich eingerahmt. Das ist schön. Vielleicht nie wieder D-Promi, aber für Oma ist man immer A-Promi.

Mehr von Larissa Schleher

Für stadt.land.text auf Instagram oder: Tag 0. Mein Leben vor Instagram

Liebes Tagebuch, oder: Tag 0. Mein Leben vor Instagram.

Es ist ein kalter, windiger Tag im November 2019. Nein, es ist kein schlechter Romananfang. Es ist ein Hüttenwochenende mit meinen Mädels. Außer mir hat jeder Instagram. Zwischen Unmengen an Frühstückszeug, ähnlich einer Löwenfütterung, werden Instagram-Posts angesehen, wie man das eben macht, unter Freunden, in der Natur, ohne Strom und mit begrenztem Handyakku. Falls wir überraschend eingeschneit werden – oder überfallen – sind wir immerhin auf dem Laufenden gestorben. Zwei von uns finden Typen XY gutaussehend, zwei finden, er sieht aus wie ein Bauer (no offense, sie meinten keine richtigen Landwirte, keine, die mit echten, lebenden Tieren arbeiten, die finden die Mädels nämlich wiederum heiß, nein, so einer der aussieht wie ein Bauer, aber in Wirklichkeit zwei linke Hände hat, das ist wohl am Schlimmsten). Ich habe keine Ahnung, von wem sie sprechen. Ich will ein Foto sehen, weil ich die entscheidende Mehrheit in unseren basisdemokratischen Abstimmungsverhältnissen bilde. Wir müssen uns dafür durch die Fotos seiner Freundin zippen. Ich habe in meinem Leben davor, meinem tristen, leeren, instafreien Leben (ja, so etwas gibt es! Ich sage euch, man überlebt, aber Spaß macht es natürlich nicht, nein, wirklich nicht, ja, ich weiß, nein, ich meine es ernst) vielleicht zwei „Insta-Bilder“ gesehen, die mir auf fremden Handys vor die Nase gehalten wurden, und stelle jetzt fest: Instagram ist genau so wie ich es mir vorgestellt habe. Und genau das der Grund, warum ich es nicht habe und nutze. SommerSonneStrand-Fotos, peinlich gefiltert, reihen sich aneinander. Besser gesagt: SummerSunBeach-Pics, ist ja jetzt alles auf Englisch, selbst, wenn es bei den meisten nur für das Basisvokabular vom letzten All inlusive-Urlaub reicht.

Alles entspricht meinem Klischee so gut, übertrifft es, dass ich kurz erschüttert bin. Normalerweise sieht man sich Sachen ja näher an, damit die eigenen vorurteilsbehafteten Klischees widerlegt werden und man mit ganz neuen Augen darauf sehen kann. Bei Instagram hätte ich das mal lieber nicht getan. Meine Vorstellung und die Realität ist wie Faust auf Auge. Es tut weh. Die Bilder sehen für zwei ungeschulte Augen wie meine quasi gleich aus (dass das der „Filter“ macht, habe ich mittlerweile begriffen) – außer, dass unsere Bekannte auf jedem Foto ein anderes Outfit trägt, vielleicht ist auch ab und zu eine Müsli-„Bowl“ mit kunstvoll drapierten Bananenscheiben dazwischen, ich weiß es nicht mehr. Das Trauma muss eine partielle Amnesie hervorgerufen haben. Unter den Bildern steht so etwas wie: Wind in my hair oder hair in my wind, whatever. Ich schäme mich fremd, falls diese Person das noch nicht zu genüge getan hat, wovon ich ausgehe, weil sie mindestens einmal am Tag ein neues Foto von sich in die Netzwelt lädt. Wozu diese 5 Millionen Hashtags mit nichtssagenden Wörtern darunter gut sind, ist mir auch nicht klar. Ganz ehrlich: Wer hat denn Zeit, sich das durchzulesen? (Ja, ich denke da noch, dass es darum geht, sich das durchzulesen. Was ja ewig braucht, weil ohne Punkt und Komma und Leerzeile. Wofür hat die Menschheit denn Satzzeichen erfunden, wenn ihr es nicht nutzt? Mittlerweile bin ich diesbezüglich beruhigt: Mit unserer Gesellschaft ist es doch noch nicht so schlimm, wie ich damals dachte. Die Hahstags sind nicht unbedingt zum Durchlesen. Vielleicht machen das manche doch. Deshalb verwende ich sinnlose, aber witzige Hashtags. Also witzig für mich. Ich muss sie ja auf jeden Fall mindestens einmal lesen.)

Ich rolle mit den Augen. Wind in my hair, ernsthaft? Wer hat für so etwas denn Zeit? Wen interessiert das denn? Bin ich gerade innerhalb von 5 Minuten mindestens 5 Prozentpunkte dümmer geworden?

Es sind alles rhetorische Fragen. Ich fühle mich schwach, dumm, resigniert. Und müde, weil ich mich so echauffiert habe.

Wenn du ein Gedicht schreibst, interessiert das vielleicht auch nicht jeden, sagt meine Freundin. Jaaaa, stöhne ich von der Tischplatte auf, davon gehe ich aus. Aber ich poste das gleiche Gedicht ja auch nicht jeden Tag für die ganze Welt, damit sie es sich durchlesen muss.

Naja, schlauer auf jeden Fall, sagt meine andere Freundin.

Danke, denke ich, danke.

 

Mehr von Larissa Schleher

Prolog: Was bisher geschah oder: Europa der offenen Grenzen

Was macht dich zum Europäer?

Kannst du dich noch daran erinnern, wann du dich das erste Mal bewusst als Europäer gefühlt hast?

Und wann das letzte Mal?

Welche drei Worte kommen dir als erstes in den Sinn, wenn du an Europa denkst?

Was findest du gut an Europa? Was stört dich?

Wenn du die Macht hättest, etwas in Europa zu verändern, was wäre es?

 

Unter anderem diese Fragen habe ich im Februar 100 Menschen gestellt – während meines Artist in Residence-Projekts zum Thema Europa – in Vechta, einer Stadt in Niedersachsen.

Im Februar, zu einer Zeit, als Corona noch nicht unseren Wortschatz, unseren Alltag, bestimmt hat. Teilweise keinen Monat her, als wir noch gar nicht wussten, was das überhaupt ist, als Corona in unseren Ohren noch klang wie eine Stadt in Spanien, SARS und COVID wie „irgendwas im All“ oder Aliens in Science-Fiction Romanen.

Im Februar, als ich und meine Schreibmaschine 100 unterschiedliche Menschen interviewt haben: Geflüchtete Kinder („wir sind gar keine Europäer“), einen Grafen, Hausfrauen, Finanzbeamte, einen Uni-Präsidenten, den Bürgermeister, einen 92-jährigen, der den letzten Weltkrieg miterlebt hat, Familien, Kinder, eine 2-jährige, die an Europa „Schnuffi“, ihren Plüschhund mag, Krankenschwestern, Reinigungskräfte, Menschen, die kaum ein Wort Deutsch sprachen, eine Literaturwissenschaftlerin, Schüler*innen und Student*innen – teilweise mit zwei Staatsangehörigkeiten, teilweise aus anderen Länder in- und außerhalb Europas.

100 Menschen von 2 bis 92 Jahren.

100 Menschen, deren Gehalt von 80€ im Monat innerhalb eines Wiedereingliederungsjobs bis hin zu (vermutlich) mehreren tausend Euro durch riesigen Landbesitz und mehrere Geschäfte und Betriebe reicht.

100 Menschen, deren Ausbildung von einem internationalen Studium in mehreren Ländern bis hin zu „fragen Sie mich nichts, ich weiß nichts, ich hatte keine Schulbildung, ich war nur in der Volksschule“ reichte.

100 Menschen – wie sie auf den ersten Blick nicht unterschiedlicher hätten sein können. Aber einige Gemeinsamkeiten ließen sich durch die Interviews doch feststellen…

Alle waren sie sich einig, was sie an Europa schätzen, in fast allen 100 Interviews fielen diese Begriffe: „Weltoffenheit, kulturellen Austausch“, „Mobilität, Kultur, über die Grenze fahren einfach“, „dass es eigentlich keine Grenzen gibt“, „Reisefreiheit“, „das Leben in Europa ist ein sehr stabiles Leben“.

Eine Schülerin meinte: „Ich fühl mich tatsächlich in der letzten Zeit auch europäisch, weil wir das Privileg haben von gewissen Krankheiten verschont zu bleiben.“

Keine 30 Tage später ist die Headline bei der Tagesschau „Kontrollieren, Abschotten, Schließen“.

Frankreich verordnet eine Ausgangssperre, Deutschland kontrolliert seine Grenzen, die Verordnung, Veranstaltungen abzusagen, alle Urlaube zu unterlassen, Restaurants um 18 Uhr zu schließen, zuhause zu bleiben, lässt in mir immer noch den Reflex hochsteigen, mich in den Arm zu zwicken. Passiert das hier wirklich?

Eine Generation wie meine, die noch nie einen Ausnahmezustand erlebt hat, für die Kriege innerhalb der eigenen Landesgrenzen, die Mauer in Deutschland, Seuchen vergilbte Seiten aus dem Geschichtsbuch sind, Zeitzeugenberichte, Romane, Filme vielleicht, aber doch nicht Alltag?

Die Unsicherheit in der Bevölkerung wird zu Panik. Man hört von Hamsterkäufen, sieht auf der Timeline Fotos von Menschen, die mit Gesichtsmasken tonnenweise haltbare Lebensmittel einkaufen. Im ersten Moment lacht man, vielleicht, als ich Samstagabend um 19 Uhr noch etwas Obst und Gemüse im Supermarkt kaufen will, muss ich feststellen: Alle Regale sind leer. Eine Gurke liegt noch in der Ablage. Ich nehme sie. Zuhause stelle ich fest, dass sie eingedrückt ist und schon schimmelt.

Wirklichen Mangel, das etwas fehlt, was man kaufen möchte, habe ich das erste Mal bei meiner Kuba-Reise erlebt. Hier noch nie.

Ausgangssperren und Grenzschließungen waren für mich Filmsequenzen aus V for Vendetta, Fiktion im Rahmen von historischer Literatur, etwas, was außerhalb passiert, nicht hier.

Hier wollte ich mit den Menschen der Rheinschiene über ihren Alltag sprechen, mit ihnen das Besondere des Alltags herausfiltern, über den Wunschalltag sinnieren. Wollte ihre Aussagen zum nächsten Menschen weitertragen, um so nicht nur einen Dialog zwischen mir und der interviewten Person, sondern auch der Menschen untereinander zu bewirken.

Am Sonntag habe ich mein vorerst letztes Interview geführt. Mein Interviewpartner hat zwischendurch ein paarmal gehustet. Ich müsste lügen, wenn ich sagen würde, dass es mich überhaupt nicht beunruhigt hat. Ein Interview ist eine nahe Angelegenheit. Vor allem mit der Schreibmaschine. Das Tippen ist so laut, dass man beieinandersitzen muss, um sich trotzdem zu verstehen. Ich wollte ein Schneeballsystem erschaffen. Aber kein Schneeballsystem der Viren. Ich wollte Aussagen weitertragen, Alltage verbinden – aber keine Krankheiten. Nicht nur die Welt wankt, auch meine Projektidee.

Ein Erasmus-Student, der in Italien bei den sog. Corona-Partys mitgefeiert hat, richtet in seinem Artikel (https://www.bento.de/gefuehle/coronavirus-erasmus-student-aus-italien-appelliert-bleibt-zu-hause-a-ee134ebb-8938-4e23-a475-c2cfa7a1b1ea?utm_source=pocket-newtab) einen Appell an uns alle: „Macht es besser als ich“. Er schreibt: „Der Alltag hat sein eigenes Momentum, seine eigene, langsame Wucht. Und ich habe mich einfach weiter von ihm mitziehen lassen.“

Das zeigt einmal: Der Alltag gewinnt gerade in einer Zeit, in der der Alltag vollkommen aus der Bahn geworfen wird, eine neue Bedeutung. Vielleicht war uns seit Jahrzehnten nicht mehr so bewusst, was Alltag bedeutet, was Alltag alles beinhaltet. Vielleicht können wir jetzt oder nach dieser Krise, wann auch immer das Ende sein wird, unseren Alltag besser reflektieren, schätzen ihn mehr, weil uns bewusst geworden ist, wie wertvoll er ist.

Und es zeigt: Wir sollten stark genug sein, um uns nicht von dieser Wucht mitziehen zu lassen. Wir sollten auf den eigenen Spaß, das eigene Vergnügen verzichten, um etwas Zeit zu gewinnen. Obwohl wir nicht zur Risikogruppe gehören – und gerade deshalb. Wer gesund ist, kann die freie Zeit nutzen, um endlich wieder raus in die Natur zu gehen, einen Waldspaziergang zu machen, ein gutes Buch lesen, sich Zeit für sich nehmen. Risikogruppen, die in Apotheken müssen, in Krankenhäuser, zum Arzt – und das oft aus gesundheitlichen oder finanziellen Gründen mit den öffentlichen Verkehrsmitteln – sind darauf angewiesen, dass wir Ihnen genügend Raum lassen, um alles gefahrlos zu nuten – und genügend Utensilien, um behandelt werden zu können. Menschen, die nur noch unter Schmerzen gehen können, sind darauf angewiesen, dass im Supermarkt im Ort noch Klopapier vorrätig ist, dass ihr Arzt seine Hände desinfizieren kann.

Im nächsten Post: Die Welt krankt sich gesund oder: Wie wir durch Corona uns und der Natur einen Gefallen tun können.

Ihr habt auch Ideen? Schreibt mir!

 

 

 

 

Mehr von Larissa Schleher

Aspirin Night

11 Drops zur sofortigen Einnahme

Drei farbige Punkte auf dem Asphalt. Erst bemerke ich sie nicht, suche nach dem Weg. Kunstnacht in Leverkusen. Doch wo fährt der Shuttlebus? Der Bahnhof eine Baustelle. Jemand schickt mich durch eine Unterführung. Dort beginnen sie. Wie Smarties über den Weg gestreut, nur größer, sie ergeben eine Linie, eine Fährte. Ich verstehe: Die Punkte sind ein Leitsystem. Folglich muss man ihnen folgen. Durch die Wohnkolonie zieht sich die farbige Naht. Neontönen führen vorbei an gelblichen Häusern, die wirken als hätte man sie ausgestanzt, so ähnlich sind sie einander. Bayers Kolonien. Das durchkomponierte Haus, bis hin zu den Möbeln. Alles durch designt.

Selbst ein Fahrrad bekam die Arbeiter gestellt, um schneller vom eignen Haus zum Werk zu kommen. Oder vielleicht auch andersrum. Wer weiß schon, wo die Rechnung beginnt. Hauptsache, sie geht für alle auf, am Ende.

Das Leitsystem, das ich erst für einen Teil der Kunstnacht halte, ist in Wirklichkeit ständiger Bestandteil des Straßenbildes, seit am Bahnhof gebaut wird. Nicht alles ist Aktion, auch wenn es danach aussieht. Einiges ist einfach nur DB.

Der Bus ruckelt durch die Straßen. Auf der Anzeige steht Sparkasse, als wäre es eine Destination. Ich wähle die rote Linie, sie fährt das Museum Morsbroich an. Kurzzeitig war es von der Schließung bedroht. Ein unglaublicher Gedanke. Wenn ich in meiner Region einen Ort gesehen habe, in dem es wirklich um die Kunst geht, dann ist es dieser. Wer kam auf die Idee es zu schließen? Leverkusen sei seit einigen Jahren im Nothaushalt, man habe das Sparpotential erforschen wollen. Der stellvertretende Leiter lächelt leise. Ein Museum als Sparpotential. Ich möchte wissen, wo dieser Gedanke beginnt. Zeigt mir das Hirn, in dem er seinen Lauf nimmt. Ich möchte dabei sein bei seiner Verfertigung, die Kanäle nachvollziehen, durch die er schießt. Wie viele Areale durchzieht er? Und vor allem: Wie viele Pillen braucht es?

Das Erholungshaus in Leverkusen, das Bayer erbauen ließ. Ein riesiger Konzertsaal, Ausstellungsflächen und Tomatensuppe zur freien Verfügung.. Ich setze mich zu einer älteren Frau, sichtlich blas im Gesicht. Ihr sei schwarz vor Augen geworden, ich dachte, ich sterbe. – Aber doch nicht hier, antworte ich. In der langen Kunstnacht stirbt keiner, behaupte ich, schon gar nicht im Erholungshaus.

Ich gehe nach oben, in einem kleineren Saal spielen zwei Jazzmusiker rückwärts Stücke von Thelonious Monk, einer Jazzlegende, wie ich an jenem Abend erfahre. Der Gedanke, das Feld von hinten aufzurollen, gefällt mir. Überlege mir, meine Texte gespiegelt auf den Blog zu stellen und die Leser aufzufordern, zum Entziffern auf die Toilette zu gehen. Handspiegel geht auch.

Im Museum Morsbroich ist in der aktuellen Ausstellung von Miroslaw Balka folgende Arbeit zu sehen: In einen Betonsockel ist ein abgeschnittenes Geländer eingelassen. Es steht nur auf einem Fuß, es lässt sich um die eigene Achse drehen, wenn man es weiß, wenn man sich traut, auf die Patina zu fassen, die die Witterung auf dem Metall hinterlassen hat. Durch die Drehung entstehen Töne, eine Art Orgel. Wenn man es weiß. Das Geländer soll aus dem Haus des Künstler-Großvaters stammen, es war Teil seines Balkons. Mir gefällt der Gedanke, aus einer Begrenzung, Abtrennung, Sicherung Töne zu ziehen.

Ein lauer Abend. Erstaunlich lau für Mitte Oktober. Vor der Tür des Koloniemuseums sind kleine Lichter aufgestellt. Im Erdgeschoss sitzen Menschen, die etwas verbindet. Es geht über die Frikadellen und Getränke hinaus, wie mir schnell klar wird. Eine Frau im historischen Kleid fragt mich, ob ich zur Ausstellung wolle. Ein Mann spricht vom Bodenbelag, zeigt auf eine Art Linoleum mit Musteraufdruck, den habe es in allen Häusern gegeben. Angesichts textil nachempfundener Rechtecken und der Hingabe, mit der über sie gesprochen wird, glaube ich für einen Moment, das kollektive Denken dieser Siedlungen, ihren Zusammenhalt nachvollziehen zu können.

Den Text in seiner Gesamtlänge lesen Sie hier:  Abschlusslesung DÜSSELDORF

Mehr von Marie-Alice Schultz

Zügige Zeilen

Bahnprotokolle

20 leere Seiten 1 Schreibmaschine (Typ: Triumph tippa) 1 Autorin 1 Bahn (Linie: S6 Richtung Essen)

Die Texte sind Originalskripte, es erfolgt keine nachträgliche Überarbeitung.

Mehr von Marie-Alice Schultz

Bröltalbahn

Über etwas schreiben, das es nicht mehr gibt. Die Bröltalbahn. Ihrer Fährte folgen:

Spur 1: rosa Schirm

Ich werde auf dem Bahnhofsvorplatz auf Sie warten und ab 11:05 einen pinkfarbenen Schirm hochhalten. Herrn Eilmes kenne ich nicht persönlich. Seine Webseite ist mir aufgefallen. Er sammelt dort die Geschichte seiner Region. Geschichtliche Beschreibungen, Fotos und Postkarten. Wir treffen uns am Bahnhof in Hennef. Wir haben eine Mission: die Strecke der ehemaligen Brötalbahn abfahren. Bis 1954 fuhr sie durchs Tal, beförderte Erz und Kalk und später auch Passagiere. Eine Schmalspurbahn, engstehende Schienen.

Seit 1954 übernehmen Busse den Personenverkehr. Man hielt es für wirtschaftlicher. Herr Eilmes klappt den Schirm zusammen, steigt ins Auto, wir fahren los. Die Landschaft ist hügelig und schön, wie die Schweiz, sage ich.

Spur 2: Post-its in Neonfarben

Herr Eilmes bremst abrupt. Sehen Sie das Loch? Ich blicke aus dem Fenster, sehe eine Vertiefung in der Landschaft, nicke. Hier wurde nach Erz gegraben. Ein Krater, den die Bäume sich zurück erobern. Wenn man es nicht wüsste. Ich bin auch jahrelang daran vorbeigefahren.

Post-its in Neonfarben. Das Buch auf der Rückbank ist voll davon. Herr Eilmes blättert darin, zeigt auf Fotos und vor sich auf die Straße. Ich suche einen Anhaltspunkt, finde den Kirchturm nicht wieder. Waldbröl. Hier endete die Strecke. Hier wurde mit dem Abbau der Gleise begonnen. Riesige Schautafeln zeigen Fotos der Bahn, schwarz-weiß. Die Umhersitzenden nehmen sie kaum war, scheinen sich eher zu wundern. Dass zwei mit einem Buch über Restgleise staksen, als gäbe es dort Pilze.

Einiges habe ich auf der Strecke gesehen. Nicht alles wird in diesem Text Erwähnung finden.

(Markttag in Waldbröl: Noch nie habe ich so viele kleine Küchenmesser auf einem Haufen gesehen. Was machen die damit? denke ich. Selbst, wenn jeder Marktbesucher eines kaufte.., aber wir kommen vom Weg ab. Zurück zur Hauptstrecke, zum Text! )

Festzuhalten ist sicher das Grün der Landschaft (die Schweiz!) und eine Art Nostalgie, die in zahlreichen Schautafeln und Aufbauten (Auf einer Verkehrsinsel: Loren. Die hat man aus dem Ruhrgebiet geholt, unsere waren anders, sagt Herr Eilmes, aber davon gab es keine mehr.) den ehemaligen Streckenlauf der Bahn nachzeichnet.

Spur 3: Detailfund Schranke, hölzern

Foto: F. Balensiefen / H. Fischer

Besonders interessant ein Detail: Da die Bahn in bestimmten Streckenabschnitten so nah an den engstehenden Häusern vorbeifuhr, befürchtete man, Anwohner könnten beim Verlassen ihres Hauses von der Bahn erfasst werden. Um dies zu verhindern wurde, bevor eine Bahn vorbeifuhr, eine Stange vor die Haustür geklemmt. Die Eingangstür ließ sich somit von innen nicht mehr öffnen. Die Bewohner waren sicher.

Eine solche Stange würde ich gern auch heute in Gebrauch wissen. Man könnte Nachbarn vor schlechten Tagen schützen. Vor Regentagen, Ausrutschern oder Absagen. Bereits auf Wohnungstürhöhe zu montieren. Ein einfaches Schrankensystem. Was bliebe uns erspart.

Mehr von Marie-Alice Schultz