Cutting up das Sauerland – Worte sagen mehr als Worte

Beim Lesen einer Überschrift fällen wir die Entscheidung, ob wir weiterlesen. Und seien wir ehrlich – die meisten lesen im Netz heute meist nur noch Überschriften. Deshalb besteht dieser Text einfach nur aus Überschriften. Und erzählt möglicherweise mehr über die Region, als all meine stadt-land-Texte zusammen. Der Text ist ein Cut-Up im Geiste von William Buroughs und besteht aus willkürlich hintereinander geschnittenen Überschriften aus diversen Sauerländer Publikationen. Manche Headlines eindeutig und lahm, andere poetisch, manche ganz und gar unverständlich – aber mit Raum für Assosziationen und Fantasie.

Huh!“ sagte eine Überschrift. Und ich sage ja!


Altbewährtes in neuer Hand. Ein Poster stärkt das Heimatgefühl. Resolution gegen Windkraft. Gottesdienst in der Zeltkirche. Motorsägenlehrgang in Brilon. Heuernte – wie früher. Sonderfahrten der RLG zur Kirmes in Brilon. Joseph Anton Henke – „allzufrüh ins Grab gesunken“. Nationales Naturmonument Bruchhauser Steine. Der Dorfentwicklungsprozess in Freienohl. Liebeserklärung an die City. Vom Bahndamm zum Radweg – 10 Jahre SauerlandRing. Buchfink bekämpft sein Spielgelbild. Im Nuhnewasser plantschen und dabei Trinkwasserqualität genießen. Natur, Kultur und Feierlaune. Dienstagswanderer und Witwen Treff. Typisch Südwestfalen: Die Schulte Lagertechnik Story. Hier dreht sich alles ums Holz. Veltins Fassbrause mit Zitrone und Holunder zum Gesprächsthema machen. Lesen bis die Schwarte kracht. Ein Bodendecker besonderer Art ist das Scharbockskraut. 300 Jahre Klausingorgel. Anpacken, Ärmelhochkrempeln, Mitmachen… Den Heimvorteil nutzen – das Willkommensnetzwerk. Bergwiesen – Charakterstück der Sauerländer Höhen. Interaktive Wanderrouten-Datenbank. Landwirtschaft aus Leidenschaft. The Buddy Holly Story im Bürgerzentrum. Buchsbaum: uralt doch ewig jung – leider seit einigen Jahren von einem Pilz befallen. Huh! Wahlparty der Sauerländer SPD in Starkes Bierhaus. Südwestfalen lebt weltoffen. Julen als Sitzkrücken für Greifvögel. Mallorca Stars bringen Konzerthalle zum Kochen. 5 Euro Münze made in Iserlohn. Landwirtschaft im Sauerland ergreift ihre Chancen. Kettensägenmasskreur aus Leidenschaft. Leidenschaft fürs Schmieden. Winterberg ein Wintermärchen. Sauerländische Urbanität. Von Wormbach ins Land der Siesta, Tapas und Stierkämpfe. Heinos Karriere begann im Sauerland. Heimatland der Hallenkirchen. Zwergenhort und Riesenspielzeug. Ein faszinierender Ort für eine energievolle Auszeit. Straßenbäume haben es schwer. Zwar nicht Mittelpunkt der Welt… Immer weniger, immer älter. Winter im Garten – Garten im Winter. Schmallenberg, das Herz Europas. Die Kinder, die Kunst, der Raum. Was Sauerländerinnen so machen. Ausgezeichnete Pferde in Schmallenberg. Chronik in fünf traurigen Bildern. Frischgebackenes Silberdorf mit Zukunft. Kneippwanderung im Elpetal. Noch Gesprächsbedarf zum Kreisel an der Hüttenstraße Olsberg. Eine Bücherei geht mit der Zeit. Warum Tradition und Entwicklung sich nicht beißen. Ein Tag der inneren Ruhe. Sauerlandherbst – einfach viel mehr als Blasmusik. Gebäudeleerstand und Bevölkerungsshwund im Sauerland? Ein Meer aus bunten Heißluftballons. Zukunftskonzepte für Mobilität im ländlichen Raum. Wollschweine fühlen sich sauwohl. In einem Schützenheim gibt es immer was zu tun. Das Sauerland ist eine Perle. Zwischen Magie und Mahnung. Hausmaus rennt aus Maushaus raus. Idylle im Garten. Das Leben in Bad Fredeburg – es gibt viel zu entdecken. Dorlar: Klein und wie oho! Mit Ohrwürmern ans Ziel – Wirtshaussingen in Eslohe. Ein Ort zum Staunen und Wundern. Mit Speed den Rothaarsteig genießen. Karriere beginnt in der Acht. Immer wieder heiß begehrt. Das Heil liegt in der Natur der Dörfer. Zwischen Poesie und Provokation. Geballter Erfolg – warum Berlin von Brilon lernen kann. Rindviecher mit Lateinkenntnissen. Von Lustspielen und der Lust am Spielen. Die Königin der Weihnachtsbäume. Joey Kelly löscht seinen Durst mit Kormbacher 0,0%. Kultur in einer Kleinstadt. Auf Sauerländer Firmen ist Verlass. Auf Südwestfalen ist FAIRlass. Landwirt aus dem Sauerland stellt Bio-Automaten auf. Zehn Jahre nach Kyrill. Vom Eisen zur Weißen Industrie. Hier ist jede/r zehnte Wirt. Regionalplan Energie – reichlich Gegenwind. Mit dem Wetter leben. Hier lässt es sich gut zwitschern. Die eigene kleine Welt im Miniaturformat. Gutes Handwerk kann man schmecken. 20 Jahre Sägermühlenverein Remblinghausen. Arnsberger Trio rockt Europa. Festival in verwirrenden Zeiten. Abstrakt bis tierisch. Heimat, das heißt auch Menschenschlag. Die Sauerländer Sommer sind wie der Wein, mit dem Alter werden sie besser. Ur­laub Cam­ping­plät­ze der Fe­ri­en­welt Win­ter­berg aus­ge­zeich­net. Sauerland Facebookseite hat 9000 Fans in den Niederlanden. Bleib doch bei mir im Sauerland. Globalisierung im Kochtopf. Wo die Kirche noch mitten im Dorf steht. Startup mit 79. Sauerländer Waldameisen. Entschleunigen im Wald. Zwischen Heimat und Arbeitsplatz. Der Rohdiamant und sein Feinschliff. Unter fünf Sternen auf Wolke Sieben. Zwischen Völlerei und Armut. 60 Jahre Schmallenberger Dichterstreit. Südwestfalen als Surferparadies. Über 6000 Schützen und Musiker in Medebach. Hochtechnische Messgeräte sorgen für detaillierte Beobachtungen. Harmonie von Landschaft und Lebensform. Mobilität auf dem Land – Realität und Innovation. Von Eslohe auf die Brooklyn Bridge. Vogelzwerge in den Fichtenwipfeln. Aus Bürgermeister wird Schnapsexperte. Eine wahre Alleskönnerin. Auch ein Schiri macht mal Fehler. Zur Gegenwart Mackens im Sauerland heute. Türen in Menden, 1912. Den Akku aufladen, die Seele baumeln lassen. Ohne Huf kein Pferd. Siedlinghausen wird zur Partymeile. Neue Pläne in Vorbereitung.

Mehr von Christian Caravante

Wer schreibt das Sauerland? – Literaten und Landflucht

Große Werke sind in Abgeschiedenheit entstanden. In Bergen, Wäldern, in der Einöde. Moses, Jesus, Mohammed und L. Ron Hubbard hatten nicht in der Stadt, sondern in der Pampa ihren entscheidenden Moment – danach schrieb jemand ein Buch über sie oder sie schrieben es gleich selbst, geführt von „jenem höheren Wesen, das wir verehren“ (Heinrich Böll, Doktor Murkes gesammeltes Schweigen).

Sind Autoren – da Draußen in der Natur und allein mit sich und den Elementen – näher an der Muse, am Flow? Schreibt Langweile Bücher? Der Urtext de „Simplify Your Life“ Bewegung, „Walden“ von Thoreau entstand vor 150 Jahren in einer Hütte im Wald. Aber Thoreau ist zum Essen manchmal doch zu Mutti in die Stadt gegangen.

Peter Wohlleben geht mir mit seinen Baum-Erklärbüchern auf den Zwirn, aber findet LeserLeserLeser. Ein Sauerländer Autor hat sich auch damit befasst, höre ich immer wieder. Das Buch wird mir wie folgt vorgestellt: „Kennen Sie die Wohlleben Bücher, ja? Ein Sauerländer hat jetzt auch über Bäume geschrieben.“ Aha. Ein bisschen selbstbewussteres Marketing ohne Nachahmer-Geruch wäre wohl besser.

Womit ich endlich beim Thema wäre: Das Sauerland und die Bücher, das Sauerland und die Literatur. Es ist wohl so: Die allermeisten erfolgreichen oder bekannten oder jung und publizierten Autoren in Deutschland wohnen in Städten – wo auch immer sie aufgewachsen sind. Es gibt viele, ganz hervorragende Bücher, die auf dem Land spielen, mein letztes war „Grenzgang“ von Stephan Thome. Aber Thome, wie viel andere sind auf dem Land aufgewachsen, wohnen als Schriftsteller aber überall, nur nicht mehr auf dem Land.

Falsche Romantik
Land und Wald – derzeit jedenfalls Trends in Literatur und wohlständigen Weltfluchtgedanken. Das Sauerland hat beides zur Genüge. Die Schriftstellerin Juli Zeh sagte mal übers Landleben: „Menschen, die glauben, die Provinz sei eine Idylle, leben grundsätzlich in Städten“, und weiter: „Aus meiner Sicht ist der Unterschied zwischen Stadt und Land viel größer als zwischen Morgenland und Abendland.“

Ergänzen könnte man noch, dass die meisten, die mit dem Gedanken spielen, aufs Land zu ziehen, das nie tun werden. Und die, die dort schon leben, schreiben offenbar so lang nicht über ihre Erfahrung, bis sie dort nicht mehr leben. Die andere Erklärung wäre: Es gibt viele Autoren auf dem Land, aber sie werden nicht verlegt und gelesen. Und eine dritte: die Leute auf dem Land sind zu praktisch veranlagt. Sie wissen, es liest sowieso kaum noch jemand und lernen was Ordentliches. Bücher liegen im Ranking der Freizeitbeschäftigung auf einem „guten vierzehnten Platz“, sagte die Frankfurter Buchmesse halb zufrieden. Aber das ist weit abgeschlagen hinter „Kuchen essen“ und „Ausschlafen“.

Woher kommst du?
Ich kenne Friedrich Merz und Franz Müntefering und Susanne Veltins. Sauerländer Autoren kenne ich nicht. (Natürlich gibt es welche: hier Namen) Der letzte große Moment, der literarisch über die Grenzen des Sauerlands hinaus Bedeutung hatte, war kurz nach dem Krieg, der so genannte „Schmallenberger Dichterstreit“ über die Frage: Gibt es eine westfälische Literatur? Die Antwort der Alten: ja. Die Antwort der jüngeren Generation: nein, sondern nur gute und schlechte Literatur.

Beim Thema „gibt keine Sauerländer Autoren“ rufen viele sofort: Aber Peter Prange, 2,5 Millionen verkaufte Bücher, in soundsoviel Sprachen übersetzt! Ja, antworte ich dann, von dem habe ich hier auch schon gehört. Und auch, dass er seit den 70ern in Paris und sonstwo wohnt.
Ist wie mit dem von mir verehrten Ralf Rothmann, der vor 40 Jahren aus Oberhausen nach Berlin ging – und immer noch als Ruhrgebietsautor wahrgenommen wird – weil viele seiner Bücher dort spielen. Bei Prange kommt das Sauerland aber zum ersten Mal in seinem letzten Buch überhaupt vor. Paradox. Was es gibt, sind (natürlich!) auch Sauerland-Krimis. Dieses regionale Genre lässt ja kein Kleinst-Fleckchen der Republik mehr unbemordet. Und auch wenn das sicher Fans anders sehen: Literarisch sind diese Bücher nicht wirklich von Belang, eher buchgewordene Vorabendserien, manchmal auch nur erfolgreich, weil Dauertrend-Krimi und Da-wohn-ich zusammenkommen.

So, aber jetzt mal Hand aufs waldige Herz lieber HSKler: Wer von Euch kennt Christine Koch? Ach ja? Und wer hat schon etwas von ihr gelesen? … So viel dazu.

Die Sauerländer Nachtigall
Bei Christine Koch stolperte ich über ihren Spitznamen, die „Sauerländer Nachtigall“. Das klingt, sorry, nach singender Kneipenwirtin.
Die Frau schreibt Anfang des vergangenen Jahrhunderts Gedichte auf Sauerländer Platt, veröffentlicht in Heimatzeitschriften und später Bücher. Ihre Gedichte handeln von Natur, Heimatgefühlen und den „sauerländer Menschen“. Sie ist heute Namensgeberin der „Literarischen Gesellschaft Sauerland e.V., Christine-Koch-Gesellschaft“. Ich habe dann ein Buch mit Gedichten von ihr gelesen – die Übersetzung ins Hochdeutsch natürlich – wodurch, Netflix-Serienfreunde und OF-Fans wissen es, viel Originalität verloren geht.

Heimatliebe
Ich lese in vielen ihrer Texte den Wunsch, ihre Heimat zu verstehen und festzuahlten, die Menschen darin zu beschreiben. In ihren Gedichten kann man etwas von dem Leben spüren, das die Region lange prägte und das bis heute sichtbar ist. Das Landleben in seiner Abhängigkeit von Jahreszeiten, die harte Arbeit, die Entbehrungen. Aber sie findet in der Landschaft und den Menschen auch viel Schönheit, Feinheit, Weichheit, dazu Wünsche, Träume und in der Natur Kraft.
Manche Texte sind Sauerland unabhängig ein Memento Mori, ein melancholischer Versuch, Gefühle oder einen Augenblick festzuhalten. Nur weil sie auf Platt geschrieben sind und sehr oft Orte in der Region nennen, läuft das wohl als „sauerländer“ Dichtung. Aber ihre Themen sind universell. Sonst wäre es keine Literatur.

Der Regionale „Charakter“
So wie wir z.B. Walt Whitmans Naturelegien und Hymnen auf den neuen Menschen oder japanische Lyrik über Kischblüten und Kimonos lesen oder Mascha Kalékos Stadtgedichte, und vielleicht gepackt werden von Dingen, die wir nicht erlebt haben und kennen können, so kann man bei Christine Koch einige schöne Verse über das Leben – zu der Zeit in dieser Region finden.

Meine Allergie auf auf verallgemeinernde Zuschreibungen eines regionalen „Charakters“ macht mir allerdings in manchem Text zu schaffen. Solche Typisierungen sind eigentlich immer Quatsch, egal ob in USA, Japan oder dem Sauerland, weil die Gemeinsamkeiten mit anderen Regionen und Gegenden und Menschen doch überwiegen, nicht die Besonderheiten.

Literarische Gesellschaft Sauerland
Die Christine-Koch-Gesellschaft ist, wie ich immer wieder hörte, ein inzwischen etwas überalterter Club von rund 300 Menschen, die zum Teil auch selbst schreiben und sich der Förderung von Autoren und Literatur in der Region widmen.
Seit einigen Monaten gibt es nun einen neuen, jüngeren, Vorstand. 1. Vorsitzende ist die Bildhauerin Stephanie Schröter aus Arnsberg. Sie möchte im Verein einiges modernisieren, plant erstmal weniger Lesungen, vielleicht drei oder vier im Jahr. Im November kommt zu diesem Zweck der unvermeidliche Peter Prange. Außerdem wird es noch zwei oder drei Vorträge zu philosophischen oder Sachthemen geben. Weiterhin soll es im ganzen Sauerland Veranstaltungen geben, nicht nur in Schmallenberg oder Arnsberg. Nicht neu ist der Plan einer Schreibwerkstatt für junge Leute, aber sie soll nun durch jüngere Dozenten durchgeführt werden. Geplant ist ein  zeitgemäßer Internetauftritt und das Layout der Vereins-Literaturzeitschrift “Der Edelrabe” ins Heute zu bringen.

Der Vorstand ist ehrenamtlich tätig und der ganze Verein damit ein typisches Beispiel für die Kulturarbeit in dieser Region: Hier geht nichts ohne engagierte Einzelpersonen und fast immer geht alles ohne Geld von Mutter Staat. Die Regionale Kulturpolitik mag ihre Festivals haben, die Ganzjahresarbeit, z.B. für Literatur, bezahlen die Leute selbst – vor allem mit Zeit.

Ein Buchladen für jedes Tal
Jedenfalls beackert die Christine-Koch Gesellschaft fruchtbaren Boden. Denn im Gegensatz zu vielen Großstädten, die fest in der Hand von einer Mayerschen Buchhandlung oder einer anderen Kette sind und im Verhältnis zur Einwohnerzahl über wenige kleine Buchhandlungen verfügen, bin ich im Sauerland auf eine geradezu erstaunliche Zahl inhabergeführter, unabhängiger Buchläden gestoßen. Sie mögen kämpfen, aber sie leben.

Vielleicht wirkt hier ja die Dorfsolidarität positiv. Nachfrage beim Börsenverein des Deutschen Buchhandels: Etwa 60 Buchhandlungen der Region sind Mitglied, im Hochsauerlandkreis allein 20. Rechnen wir noch einige dazu, die ohne Verbandelung auskommen ist das eine erstaunliche Zahl. Wo doch die Wege weit sind und amazon über Nacht auch ins letzte Tälchen liefert.

WOLL, ne?
Und einen eigenen Verlag hat das Sauerland: WOLL verlegt unter anderem Bücher aus und über die Region, darunter Christine Kochs Gedichte. Im Sortiment aus Humorigem, Lebenserinnerungen, plattdeutscher Mundartforschung sowie Jugendbüchern und Regionalführern, gibt es aber weniger als fünf Romane. Am besten dürften die Poster des WOLL Verlags mit Sauerländer Umgangs- und Schimpfworten gehen, die ich überall hängen sehe. Literatur – wen wundert es – bringt nicht so richtig Umsatz.

Buchläden leben
In einer der größten Buchhandlungen der Region, bei „Bücher und mehr“, erfahre ich: Gut 40% des Geschäfts machen die Touristen aus. „Bücher und mehr“ ist ein schöner, gut sortierter Laden in Schmallenberg. Die beiden netten Eigentümerinnen kennen die Bücher in ihrem Laden, kennen überhaupt sehr viele Bücher und auch ihre Kunden. Der Online Shop ist nicht nur digitales Beiwerk, sondern offenbar echter Umsatzbringer, erzählen sie. Auch wenn sich viele die Bücher in den Laden bestellen. Was den beiden natürlich noch viel lieber ist. So geht das hier.

Aber auch mit weniger Sorgfalt scheint es zu gehen: Am anderen Ende des HSK, in Olsberg, ist die kleine Buchhandlung Käpt’n Book. Die vier großen Schaufenster zeigen so gut wie keine Bücher, sondern Firlefanz und Buchnippes und wirken vernachlässigt. Und auch Innen sieht es nicht nach moderner Buchhandlung oder wenigsten gemütlich-chaotisch aus: ein schlauchiger Raum, Kachelboden und eine Reihe von etwa zehn Regalen an der rechten Wand. Sortiment: von allem ein bisschen. Profil? Nicht erkennbar. Warum da kaufen, könnte man denken. Um die Ecke ist nur noch für die Internet-Verweigerer ein Argument.

In Verdrehung des Namens der Schmallenberger Kollegen konnte der Laden in Siedlinghausen: „Mehr und Bücher“ heißen. Keine richtige Buchhandlung. Das Schaufenster voller Krims und Krams, Puppen und Porzellan, Ratgeber und Setzkastenfiguren. Drinnen links Kiosk mit Kippen und Zeitungen und die Bestseller der Spiegel Liste auf einem Ständer, daneben Lotto, geradeaus Schreibwaren, mitten drin unfassbarer Nippes und Deko-Kram „für ein schönes Zuhause“ und hinten rechts die „Buchhandlung“ – 3 Regale mit undurchschaubarer Systematik. Bahnhofsbuchhandlung ohne Bahnhof.
Der nette Eigentümer erklärt, er schaue beim Sortiment auf die Liste des Spiegel, bestelle immer ein Exemplar, und dann, weil er sich für Politik interessiert, hat er rechts vor der Kasse noch ein Tischchen mit Biografien von Westerwelle bis Weißnichtwer. „Und wen meine Frau noch ein schönes Buch liest, kommt das auch hier hin.“ Er finden den Preis des neuen kenn Follet eine Frechheit. „Ich bin 72, ich höre in einem Jahr auf.“, sagt er dann noch. Und mit ihm auch der Laden. In Meschede, in Arnsberg und auch kleineren Städten – manchmal (über)leben hier zwei Buchhandlungen. Für mich immer Beleg eines lebenswerten Orts.

Amazon hat also auf dem Land offenbar noch nicht gewonnen. Aber Umsatzeinbrüche und die neue digitale Welt dürften hier nicht zeitverzögert, sondern früher als anderswo zu spüren sein. Und was die Literatur aus dem Sauerland angeht: Vielleicht wird bald ein Autor aus Oberhundem berühmt, schreibt bewegende Bücher und alle meine hier gemachten Behauptungen werden Lügen gestraft. Das wäre schön! Geschichten gibt es genug. Flaubert sagte: „Alles wird interessant und wichtig, wenn man nur lange genug hinsieht.“

 

Mehr von Christian Caravante

Der schnarchende Riese – Sylt vs Sauerland

Viele sieht man nicht und wenn, dann fast immer auf Autos mit HSK oder Olper Kennzeichen. Es scheint, nur sie fahren den SAUERLAND Aufkleber auf dem Kofferraum durch die Gegend. „Sauerland“ steht da,  links unten mit einem leichten Aufschwung nach rechts unten verlaufend, in handschriftlicher Anmutung und unterstrichen von zwei Zacken und einem sanftem Schwung bis zum „d“ am Ende.

Gestalterisch ist das 90er Jahre Diddl Maus mit – mir jedenfalls – allzu offensichtlichen Assoziationen: hier ist alles handgemacht und persönlich (die Schrift), wir haben Berggipfel, nicht zu schroff (die Zacken im Strich darunter) und wir fühlen uns unterschätzt. Graphologen meinen nämlich, wer seine Unterschrift noch unterstreicht, leide unter Minderwertigkeitskomplexen.

Mein Problem ist aber gar kein ästhetisches. Und auch die Behauptungen von Bedeutsamkeit kenne ich seit Jahrzehnten aus dem Regionalmarketing des Ruhrgebiets. Mein Problem ist gestörte Wahrnehmung: Ich sehe nämlich in dem zackig und geschwungenen Strich unter dem „Sauerland“ Schriftzug immer und jedes Mal das nörgelnde Strich-Männchen aus den Werbepausen der 70er und 80er Jahre, La Linea von Osvaldo Cavandoli. Der, und nicht ein angedeuteter Höhenzug, liegt mit dickem Bauch schnarchend unter dem Sauerlandschriftzug. Schauen Sie mal genau hin!

Beim ersten Mal hab ich gelacht und dem gewitzten Gestalter gratuliert. Wenn es nur mehr Leute sehen könnten! Denn das ist doch ein viel passenderes Bild für die Region, der schlafende Riese. In jedem Fall mit mehr Vision und Power als dem Schriftzug „Sauerland“ noch stilisierte Berge hinzuzufügen – als wenn irgendwer das nicht wüsste.

Aber was wollen diejenigen sagen, die sich den Aufkleber aufs Auto kleben, denen es offenbar gestalterische Gestrigkeit und allzu naheliegende Symbolik einerlei ist. Wofür genau steht „Sauerland“? Da es vor allem Sauerländer selbst herzeigen wohl für Heimatverbundenheit. Und das ist in Ordnung. Aber was müsste es bedeuten, damit sich Auswärtige den Sticker stolz als Statement aufs Auto kleben?

Als mir jemand neulich erzählte, dem Tourismus hier gehe es gut, es gäbe nämlich immer mehr Leute, die nicht mehr 600 km bis nach Sylt führen, sondern lieber ins Sauerland kämen, hielt ich das für durchaus möglich. Aber als ich dann wieder einen der Aufkleber sah, war mir nicht mehr so sicher. Sylt hat ja gleich zwei Aufkleber: Die allen bekannte Silhouette von Sylt und die zwei Schwerter der bekannten Sansibar auf der Insel.

Und jetzt sollen diese zeigefreundlichen, klassenbewussten Urlauber mit ihren Audis, BMWs und Benzen vermehrt ins Sauerland kommen? Möglich. Aber sicher ohne sich hernach einen so dezenten wie sichtbaren Aufkleber ihres Lieblingsortes aufs Auto kleben.

Diese Urlauber wollen vermutlich nicht kommunizieren: Wir mögen Naherholung, wir geh’n in den Wald, wir mögen mittelhohe Berge, mittelgroße Seen und mittelgroße Städte und die 90er.

Der Syltaufkleber kann nur zum Sauerlandaufkleber werden, wenn er sich mit dem diffusen Sylt-Gefühl auflädt: Wir sind oben – und das ist nicht für jeden. Bevor aber in Bad Fredeburg ein Barbour Laden statt des Birkenstock Outlet öffnet, bevor das Wildschweinsalmibrötchen zum neuen Krabbenbrötchen wird und das Mittelgebirgsskifahren, die elitär und ökologisch einzig richtige Entscheidung, bevor das passiert, ist es noch ein weiter Weg. Da haben es schrumpfende Inseln in der Nähe von Hamburg leichter.

Wann also erwacht der schlafende Riese, wischt mit zwei fuchtelnden Bewegungen den schiefen Schriftzug über sich weg, wie einen albernen Albtraum – und steht auf?

 

Mehr von Christian Caravante

Sauerland Haikus III – Holländer, tote Tiere und ein Golgatha

Bürgersteigspflege
Spatel, Bürste, Besen
Hausschuhe passend

 

überland, vorm Acker
Bushalte und Telefonzelle

ohne Anschluss

 

Sandalenholländer
blonder Bäckerflirt

Brot zu dick geschnitten

 

Für immer Zähne
gefletscht vor dem Fotowald
Heimat im Museum

 

Negertal Dorfkrug
Grauhaarige bei Pils und Korn
Baumwipfel schon gelb

 

Stadtkind zeigt und rennt
guck grün! was ist das? guck tot
Sauerlanddschungel

 

Zukunft am Waldrand?
im Teich liegt Mutter Gottes
Försterhütte zu mieten

 

Steil hinauf elf Qualen
lebensgroßer Tod am Kreuz
herrlicher Talblick

 

 

Mehr von Christian Caravante

Bleiben UND Gehen

BLEIBE. Wie ist das nur gemeint. Trotzig als Verb? Oder heimelig als Nomen? In jedem Fall ein Statement an diesem alten Fachwerkhaus in der Mitte des kleinen Orts an der Straße nach Winterberg. Neben dem Haus mit seinem hohen Giebel plätschert der re-naturierte (ja auch das, scheint im Sauerland manchmal nötig!) Bach, um die Ecke der Metzger, ein Restaurant, eine Pizzeria, ein Hotel, der Bäcker, die Post, ein kleiner Supermarkt, ein Getränkehandel, zwei Bankfilialen und die Kirche.

Ein funktionierender kleiner Ort, auch wenn ein zweites Restaurant inzwischen geschlossen ist und im andern nie Leute zu sein scheinen und es keine Kneipe im engeren Sinn mehr gibt. Auch das „Erlebnismuseum“ des Orts, zu Tier und Pflanzenwelt im Sauerland, musste vor drei Jahren schließen, weil für die notwendige Modernisierung kein Geld zusammenkam. Das Freigehege kurz hinter dem Ort, oberhalb im Wald, zur Forschung und zum Anschauen von Ernie und seinen Freunden. Das sind 20 Hirsche, die zur Fütterung ganz nah kommen. Das Gehege sollte ebenfalls dicht machen, konnte aber – wie so oft in der Region – durch eine ehrenamtliche Initiative gerettet werden. Hierbleiben. Dableiben.

Einen Kindergarten, schön gelegen direkt über der Stadt am Waldrand, und auch eine einzügige Grundschule – sie hat Schüler aus 12 umliegenden Orten und „Bauernschaften“, und eine Arztpraxis mit drei Ärzten gibt es – Landarztmangel zum Trotz. Ein Ort zum Bleiben, weil er lebt. Links und rechts die Hügel, eine Wallfahrtskirche auf dem Berg – keine Windräder, keine freilaufenden Wisente (DIE Reizthemen im Sauerland). Und auch der alte Herr, der tagein, tagaus mit Hut auf dem Kopf vorm Haus an der Hauptstraße sitzt, weil da noch was passiert, der ist real. Sauerland working.

Da geht es anderen im HSK anders: All die Durchfahrtsorte mit, tja, gar nichts. Nur Häuser zum Wohnen. Die großen und kleinen Orte mit Leerständen direkt an der Hauptstraße, vor allem am Ende und Anfang. Da dröhnen dann die Motorräder am Samstag und Sonntag niemanden mehr aus dem Schlaf. Da nutzen dann auch die schöne Natur, eine 800 jährige Geschichte, höhere Busfrequenzen oder Bleibe-Anreize nichts mehr. Diese Orte führen ein Leben als Untote, in denen das gemeinschaftliche Leben stirbt und die Leute nur bleiben, weil sie keine Alternative haben. Netflix und Sky Abos, Einladung zu Freunden am Ort oder weite Autofahrten als Sozialleben.

Warum diese Entwicklung? Kleinere Familien, zermürbende Pendeljob und dem zeitsparenden Einkauf irgendwo in der großen Stadt am Weg, Fernbeziehungen, ausbleibende Touristen an den Rändern, Klimawandel und weniger Schnee, die Kneipenerträge zu gering, Söhne und Töchter von Bauernhöfen, die lieber studieren, dazu auch hier eine alternde Gesellschaft, die biologisch bedingt kleiner wird.

In meinem Städtchen aus Fachwerk, mit einem bisschen Tourismus, Landwirtschaft sieht es okay aus, denn es gibt den „Schnadegang“. Schon ein paar hundert Jahre. Einst, als es noch keine Grundbücher und Katasterkarten gab, diente er der mündlichen und schriftlichen Überlieferung der Gemeindegrenzen. Man traf sich mit den Nachbargemeinden und prüfte gemeinsam den Grenzverlauf. Heute ist der Schnadegang Anlass alle und alles kennenzulernen, und neben Schützenfest und kleineren Gastrofestival die Nachbarn zu treffen.

Letzten Samstag, 7.30 Uhr morgens zog deswegen die Blaskappelle durchs Städtchen, Feuerwehr fuhr vorweg – mein Sohn und ich in Pyjamas vor der Tür, still staunend. Leute mit Wanderstöcken und Hüten, mit Rucksäcken und Hunden. Das war der frühe Auftakt für 18 km Schnadegang im Jahr 2017, querfeldein, bergauf und ab, mit Mittagsrast und Abschlussfest über der Stadt. Sie stiegen dann in einen Bus, um zum Startpunkt für ihren Rundherummarsch zu kommen.

Um 9 abends, es dämmerte, die Familie und ich saßen nach einem faulen Tag im örtlichen Restaurant bei Bier und Hirschragout. Und wie wir saßen tröpfelten alle paar Minuten Wanderer an uns vorbei – Schnadegänger auf dem Heimweg nach über 12 Stunden, still und entspannt, ein bisschen verschwitzt, lächelnd mancher, jedenfalls ganz da. Bleibe! Das hab ich verstanden.

#sauerland #stadtlandtext

Mehr von Christian Caravante

Heimat festhalten – die Wunderkammer von Holthausen – TEIL 2

‘Wir, die Überlebenden, sehen alles von oben herunter, sehen alles zugleich und wissen dennoch nicht, wie es war.’ W.G. Sebald, Ringe des Saturn

„Wer ist eigentlich dieser Heimat?“ – diese Frage stellte sich vor, während und nach dem Besuch im Westfälischen Schieferbergbau und Heimatmuseum in Holthausen. Einige unfertige und andeutende Gedanken schrieb ich schon in TEIL 1 dieses Versuchs über Heimat und Erinnerung und das Glück der Entdeckung.

Beim Gang durch die vielen, verschachtelten, mal luftigen, mal engen Räume, bei dieser Reise durch Volksfrömmigkeit und Religion, Jagd und Waldwirtschaft, durch Schieferbergbau und Industrie, Handwerk und am Ende sogar Kunst, sind es weniger die einzelnen Objekte, die erzählen, als das ganze Haus. Vor allem erzählt es von der Unmöglichkeit das Leben zu zeigen, wie es ist, oder war. Gerade in dieser Vergeblichkeit, die durch die schiere Masse an Objekten und Themen und Darstellungen nur noch deutlicher wird, darin liegt die Kraft und das Faszinierende. Nie weiß ich, was mich im nächsten Raum, am Fuss der nächsten Treppe erwartet, welches Licht, welcher Böden, welche Epoche, ob Vitrinen oder Bilder, Möbel oder Maschinen, welcher Teil der Geschichte aus dem Sauerland.

Romanmaterial und blinde Flecken
Elektrisiert arbeite ich mich von Raum zu Raum. Es ist genau, was ich liebe, egal ob in Literatur oder Film oder eben einem Museum: Fragmentierte, parallellaufende Erzählungen, durch winzige, höchstens erahnbare Linien verknüpfte Momente oder Artefakte – im Grunde bedeutungslos, aber durch den hinzugedachten Menschen, ein Lebenszeichen. Das sind Rufe aus der Vergangenheit – mal berührend, manchmal unverständlich, immer ein bisschen rätselhaft.

Jeder Weg zwischen zwei Räumen kurbelt an der eigenen Fantasiemaschine: Wer waren F. C. Selz und A. J. Wendler, zwei sauerländer USA-Auswanderer im 19. Jahrhundert, deren Namen allein schon für einen Thomas Pynchon Roman reichten. Fotos von Männern im Saloon der beiden in Canyon City, Oregon: Alle an einen langen Tresen gelehnt, alle ohne ein Lächeln, dafür mit mächtigen Schnurrbärten. Draußen der Witz von einer Stadt mitten im Dreck – wie das nächste Foto zeigt.
Wer war die kleine Elisabeth Schrewe, die nur zwei Jahre alt wurde, Anfang des letzen Jahrhunderts, wer hätte sie sein können und was erlebt? Ist „Kindersterben“ jemals Alltag gewesen? Was aus der Strickwaren Fabrik Solomon Stern ab 1936 wurde, ist bekannt, wenn auch hier nicht erzählt. Diesen ekligen, ausbeuterischen, räuberischen Teil des Nationalsozialismus gab es aber auch im Sauerland. Wenn der Hammer eines Schusters oder das Fernglas eines Jägers etwas übers Sauerland erzählen, oder ein Saloon in den USA und Tabakpflanzen in einer Vitrine die Vergangenheit greifbar machen sollen, dann doch eigentlich auch das Schicksal des größten jüdische Unternehmens, der Firma Salomon Stern mit 120 Beschäftigten.

Und plötzlich Kunst
Mitten im Museum, in Bauch und Brust des Hauses, residiert die Südwestfälische Galerie – eine Sammlung mit 7000 Werken ab dem 19. Jahrhundert, die „aus dem Sauerland stammen oder über die künstlerische Arbeit mit dem Sauerland verbunden sind“. Rund 150 Bilder werden durchgehend gezeigt und es gibt immer wieder Ausstellungen zeitgenössischer Kunst.
Die Dauerausstellung beginnt mit Selbstportraits. Passend, denn das ganze Haus ist im Grunde ein komplexes, unüberschaubares, widersprüchliches, inspirierendes Selbstportrait der Region. Es gibt Werke hier ansässiger und verzogener Künstler zu sehen, Skulptur, Malerei, Grafik. Auch hier wie im Rest des Hauses folgen die Werke keiner ausgearbeiteten Narration, sondern „Sauerland“ ist der weite, vielschichtige und assoziative Rahmen für alles.

Hach, Heimat. In diesem Museum jedenfalls sollen die Objekte nicht bloß eine „Storylinie“ illustrieren, sondern zeigen widersprüchliche, vereinzelte, befremdliche Objekte in einer räumlichen und zeitlichen Co-Existenz. Das Museum erzählt immer auch von der Welt, vom Leben, wenn es von sich selbst erzählt. „Erinnerung“ wird zum kreativen Prozess – ohne Anspruch auf Korrektheit, Vollständigkeit oder wissenschaftliche Nüchternheit – zu einer  wahren Wunderkammer. Hooked to Heimat. Dies war das erste, wird aber nicht das letzte Heimatmuseum für mich sein.

Mehr von Christian Caravante