Interview 12 – aber es hält einen am Leben

Ich bin schon den ganzen Tag aufgeregt, bevor ich H. treffe. Nicht, weil ich ihn interviewen werden, sondern weil er mich fotografieren wird. Das Interview mit H. ist eine Art Tauschgeschäft, eine Win-Win-Situation. Der Fotograf fotografiert die Autorin für sein aktuelles Projekt, die Autorin interviewt den Fotografen für ihr aktuelles Projekt. Zwei professionelle Erwachsene also. Ich fühle mich allerdings so gar nicht professionell. Meine Aufregung gleicht weniger dem euphorischen Gefühl von Vorfreude, sondern eher einer diffusen Angst, wie wenn man die Matheklausur vor sich umdreht und ahnt, dass Lagrange nicht dieser französische Koch aus der Netflix-Serie ist, die man die letzten Tage dauergesuchtet hat.

Dann ist es so weit.

Ich stehe mit meinem Equipment im Innenhof, Schreibmaschine, Tisch und Stuhl, H. kommt mit Trolley: Kameras, Objektiven, Stativen. Eine ganze Armada an höchst professionellen Berufsutensilien, die wir da zusammenbringen, und trotzdem steht man eine Sekunde später unsicher da, diese unangenehm ungeklärte Situation vor jedem Kontakt, wie man sich jetzt wohl begegnet. Mit Maske, mit Abstand – und ohne unhöflich zu sein. Doch mit H. ist das gar kein Problem. H. beschreibt sich selbst als diskret, höflich. Und das stimmt. Auch die Aufregung vor dem Fotoshooting, merke ich, ist unbegründet. Wir machen ein paar Aufnahmen vor den alten Wänden der ehemaligen Backfabrik, ich stehe im Kofferraum eines Jeeps, sitze auf einem alten, roten Plastikstuhl. Es macht Spaß und H. glaubt mir nicht, dass das mein erstes Fotoshooting ist. Und erzählt mir, dass das wichtigste Utensil eines Fotografen nicht seine Kamera sei, sondern festes Schuhwerk. Dass man nicht falle, wenn man über Dinge klettere, sich verrenke, nur, um ein möglichst gutes Foto zu bekommen.

Als wir uns setzen, erzählt mir H., dass er verunsichert sei. Dass es schon dabei beginne, wie er mich begrüßen solle. Dass er normalerweise auf die Leute zugehe, versuche offen zu sein. Und sich jetzt immer frage, ob er da schon eine Grenze überschreite. Und ich denke: Vielleicht geht es uns ja gerade allen so, jeder ist verunsichert, wie er dem anderen begegnen kann, ohne dass eine Grenze überschritten ist, wie er die Balance zwischen Herzlichkeit und Diskretion finden soll. Und vielleicht müsste man das einfach öfters artikulieren, um es zu lösen. H. erzählt mir auch, dass er für sein Fotoprojekt kein Geld bekommt. Dass er es aber machen muss, es einem am Leben hält. Er mehr oder minder isoliert in Düsseldorf gefangen sei. Eine Art Lebensfreude weg sei, die Batterien leer. Dass er schon länger keine Reise mehr gemacht habe, er eigentlich nach Sizilien wollte, eine Whiskey-Reise nach Schottland machen. Aber ja, er wisse, er sei privilegiert, sei fit, mehr könne man sich ja gar nicht wünschen. Nit jammern, das habe schon seine Großmutter gesagt.

Seit dem Lockdown führe er ein Tagebuch der Banalitäten. Versuche, das zu genießen, was geblieben sei. Er sagt: „Wir haben Glück, weil wir uns von den eigenen Banalitäten unterhalten lassen können. Im Grunde genommen, ist ein Fotograf ein Voyeur.“

 

 

 

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Interview 11 – da gibts auch keine Grenzen

Ich steige über Holzlatten, Tapetenreste und Werkzeugkisten, drücke mich an Handwerkern und Leitern vorbei. Alles ist voller Staub. Endlich bin ich oben, ich atme durch. C. öffnet die Tür und ich trete in eine wunderschöne Altbauwohnung voller skurriler Details. C.’s Büro. Ein bisschen lebt er dort auch. Zumindest die Hälfte der Woche. C. ist Autor und Kunstkritiker. Auf seinem Schreibtisch stapeln sich die Papiere, im Nebenzimmer deckenhoch Bücher, alles schaut nach Kunst, selbst die Küche. C. hat viele Projekte, viele Termine, viele Ideen. Er sagt: „Ich habe keinen Alltag.“ Als ich ihn frage, ob sich sein Alltag – je nach Lebensphase – verändert habe, antwortet er: „Viele Brüche, keine Veränderung.“ Was als nächstes komme, nehme er gerne entgegen. Ob sich sein Alltag in 20 Jahren von dem jetzigen unterscheide? „Ja, altersbedingt.“ Er komme die Treppe nicht mehr hoch. C. lacht.

 

 

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Interview 10 – neben Lucia aufwachen

Leo interviewe ich auch auf dem Spielplatz. Seine Frau räumt ihren Platz auf der Parkbank, er setzt sich mir gegenüber. Dieses Mal interviewe ich gleich zwei Personen: Leo und seine 4-jährige Tochter Felia. Leo beschreibt seinen Alltag mit „momentan sehr abwechslungsreich“, Felia sagt: „Quatsch“.

Wie sein Alltag in Zuknft aussieht? Er werde sich nicht stark von dem jetzigen unterscheiden. Nur, dass er sicherer sein werde, in dem, was er tue. Und erfolgreicher. Und dass er mehr Zeit für seine Familie haben werde.

Was daf nie fehlen? Abendessen. Das einzige warme Essen am Tag.

Und neben Lucia aufwachen. Sagt Lucia und lacht.

Nach dem Interview sind sich Mama und Papa einig: Egal wie sehr man den anderen liebt, gegen das Kind kommt eben doch keiner an.

Glück gehabt, Felia.

 

 

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Interview 9 – Struktur und Chaos

Ich interviewe L. auf dem Spielplatz. Es ist warm, an diesem vorletzten Tag im Mai, aber eigentlich zu kalt zum Baden. L.s 4-jährige Tochter will trotzdem ins Wasser. Als sie herauskommt, bibert sie. Mama zieht ihr schnell die letzten trockenen Klamotten an. Wie das so ist, wenn man mit Eltern unterwegs ist, haben wir alles dabei, Klamotten für zwei oder drei Mal umziehen. Ich bin beeindruckt. Ich selbst habe nur meine Schreibmaschine dabei. Mit der haben wir zum Glück die letzte Parkbank ergattert. Die Maschine vor mir auf dem stabigen Holz, mich irgendwie schräg dahintergequetsch, stelle ich L. Fragen zu ihrem Alltag. Ab und zu halten wir Ausschau nach Mann und Tochter. Der Spielplatz ist knallvoll, trotz Corona, die Kinder toben wild durcheinander.

L. beschreibt ihren Alltag mit Struktur und Chaos, „wie das halt mit Kind so ist. Gibt immer was zu tun“. Sie wünscht sich „Bisschen weniger arbeiten, bisschen mehr Freizeit, aber nicht nur weniger arbeiten, sondern auch Zeit für mich, was mit Kind halt oft zu kurz kommt“.

Irgendwann kommt Felia angesprungen. Die letzten 5 Buchstaben des Interviews tippt sie selbst. Das Wichtigste kommt eben immer zum Schluss.

 

 

 

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Interview 8 – ich bin wie ein Chamäleon

L. treffe ich bei strahlendem Sonnenschein. Das passt zu ihr. Wir lachen viel. Und sie erzählt, dass der Ort ihres Alltags ihr Balkon ist, weil so schön die Morgensonne darauf fällt, wenn sie ihren Tag mit einem Kaffee beginnt.

Doch nicht alles ist sonnig. Ich frage sie, wie sie ihren Alltag beschreiben würde und sie sagt: „Heute bin ich aufgewacht und dachte so: Ich stecke fest.“ Als Kind und Jugendliche war sie introviertiert, hat ihren Alltag in der Bücherei verbracht. Als sie nach dem Abitur ins Ausland ging, neue Freunde und Kulturen kennenlernte, fand sie das, was sie in ihrer Heimatstadt nicht hatte. Lernte, sich wohlzufühlen, „auch wenn man zwischen seinen zwei Kulturen steckt“.

L. sagt: „Ich habe so viele unterschiedliche Projekte gemacht, ich hab das Gefühl, ich bin wie ein Chamäleon, das sich verwandelt. Mir ist es wichtig, dass ich immer wieder über meine Grenzen, über meine Schatten springe. Ich selbst bin. Und niemand anders. Das ist für mich dann meine Kunst. Ich habe versucht, mich zu verstellen und das geht nicht.“

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Interview 7 – meine Muttersprache ist Körpersprache

Das Interview mit V. fand an diesem Tisch statt. Sonst sitzt V. selten. Er würde seinen Alltag mit bewegen, umsehen, schlafen beschreiben. V. ist Tänzer – und arbeitet permanent an sich selbst, sein Alltag sei nicht nur die Bewegung, sondern auch die Planung, also: wie ich mich am effektivsten und effizientesten fortbilde, vorankomme. Er sei ehrgeizig und pingelig. Er lacht. Trotz der ganzen Anstrengung, der Energie, der Gedanken, die ins Tanzen fließen, kann er als einer der wenigen sagen: „also mein idealer Traumalltag ist eigentlich gar nicht so weit entfernt von meinem jetzigen.

 

 

 

 

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