wirst du sie morgen sehen?

– ich war gerade meine koffer packen, als er ist überfahren wurde.

– ich laße mich nicht einschüchtern.

– es wird repariert. Sie werden heiraten. das auto soll verkauft werden.

– was soll geschehen?

– Ich soll mich um Sie kümmern.

– Ich möchte nicht gestört werden.

– Ich hätte ihnen nicht sagen sollen, wie er heißt.

– Sie sollte nie zurückkehren.

– er ließ sich nicht überreden.

– und wenn ich es ihm sagen würde?

– es ist also alles erledigt.

gefunden am 20. April 2020 vor dem Kultur Depot Dortmund

 

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it’s raining THE GENTLEMEN halleluja AMEN

dortmund 10. merz 2020. satz mit SR: ’sreehnt = rheinhessisch für es regnet (…gott segnet die zettel werden nass). die nachrichten sind bedrückend: da kommt was auf uns zu! und ich bin ganz allein im fremden ruhrgebiet. und das mit fünf millionen anderen menschen, die so gar keinen abstand halten wollen. liegt ihnen wohl nicht im blut, den netten kumpels & kumpelinen. eigentlich wollte ich heute zuerst zum grab von richy huelsenbeck auf den nahen südwestfriedhof pilgern. beschließe aber auf dem weg lieber gleich zum dilL zu gehen. erst kommt das fressen, dann kommt die (arbeits-) moral. glücklicherweise kann ich mit der asphaltbibliotheque beides verbinden.

ich mag zwar regenwetter, aber im regen zu flanieren, nass zu werden – und nicht schwimmen zu gehen – macht mir schlechte laune.  na wenigstens voher noch einen abstecher zum tremoniapark. hinterm dekorativen kreisel residiert die DMT und wacht angeblich über mich. soll ich sie dafür in mein nicht vorhandenes nachtgebet aufnehmen?

vor dem supermarkt finde ich zwei feuchte EKZ (zettelsammlerslang für einkaufszettel). ich bring meine farbenfrohen schäfchen ins trockene und lichte sie routiniert im ladenlokal beim einkaufen ab. der freundliche bäckereifachverkäufer meint, dass es zum friedhof gar nicht mehr so weit wäre und beschreibt mir den weg. als smartphoneverweigerer bin ich geradezu darauf angewiesen mit meinen mitmenschen zu kommunizieren und fremde menschen nach dem weg zu fragen: ist das nicht furchtbar?

hab doch noch keinen bock zurückzugehen und mach mich bei leichtem regen mit dem viel zu schwerem rucksack auf den weg. unterwegs werden weitere zettel eingesammelt und in das eigens dafür mitgeführte werbeprospekt zum trocknen eingelegt. nasses papier ist sehr empfindlich. wenn ich sie jetzt auseinanderfalte, würde ich sie in fetzen reissen. aufgelesen wird immer, gelesen wird bei regen erst zuhause. sammelrouten oder zettelsafaris plane ich eigentlich eher selten. mein leben bestimmt die kunst und nicht umgekehrt. aber ich muss mit und von meiner kunst leben.

der weg durch das dicht bebaute wohngebiet am rande des kreuzviertels immer die kuithanstraße entlang ist doch länger als ich dachte. endlich auf dem nassen friedhof angekommen frage ich zwei friedhofsgärtner mit minibagger nach dem grabmal von huelsenbeck. die beiden haben den namen des berühmten DADAisten allerdings noch nie gehört und wollen mir den weg zu irgendwelchen BVBmumien weisen. fußball ist opium für volker. irgendwann erinnert sich einer der beiden doch noch an ein auffälliges relief mit gedenkplatte und beschreibt mir den weg dorthin.

tatsächlich da ist es! direkt daneben liegt der dortmunder DADA-aktivist jürgen kalle wiersch und die von beiden beinflußten DADADOs haben 2018 auch einen gedenkstein hinterlassen. anlass war das 100jährigen jubiläum der bedeutensten europäischen nihilistischen kunst- und literaturbewegung, bei der huelsenbeck federführend war.

es ist immer noch am schiffen und winden. ich inszeniere schnell ein paar bilder und mache mich auf den heimweg. schulter und nacken schmerzen unter dem gewicht meines einkaufs. vor allem die beiden weinflaschen habens in sich und ich ahne warum profi-alkis auf hochprozentiges umsteigen: reine logistische vorsichtsmaße zur vorbeugung von späteren haltungsschäden. rücken hui – leber pfui! ich lasse den regen fallen und warte in einem graffiti besprühten haltestellenhäuschen vor dem leibnizgymnasium auf den bus, der mich zurück in meinen adlerhorst bringen wird.

dort finde ich glaub ich den karozettel. der regen hat die handschrift auf dem mittig gefalteten blatt wieder aufgeweicht und auf der gegenüberliegenden seite des blattes in spiegelschrift als tintenklecksographie wie für einen rohrschachtest abgedruckt:

(anmerkung des auflesers) ob F. ahnt, dass ihr sohn E. möglicherweise davon träumt ein kleines aber feines imperium für marihuana in dortmund aufzubauen, um irgendwann wie der filmheld ein legales leben in der oberschicht zu führen?

hier geht’s zum quarantäne-musikvideo-blockbuster THE GENTLEMEN mit einer interpretation der einverständniserklärung des alleinunterhalters BRANDSTIFTER LIVE VOM BÜGELBRETT.

 

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eigenblutbehandlung mit vögeln

nach dem aufwachen ins spochtdress und dauerläufig zur tremoniawiese getrabt. es ist frischer als die letzten tage, aber die sonne scheint schon schön. als ich am lidl vorbeilaufe sehe ich zum ersten mal eine schlange. sehen ein bißchen aus, wie teilnehmer eines staffellaufs – nur mit taschen statt stäben – wie sie da sicherheitsabständig rumstehen. auf der wiese immer mal wieder vereinzelt jogger, gassigeher oder radfahrer. man weicht sich unauffällig elegant aus, schaut sowieso weg oder demonstriert durch anlächeln sportgeist oder gelassenheit. als ich die wiese runterlaufe kommt mir an der gleichen stelle wie vorgestern die joggerin entgegen, die im laufschritt zwei kinder in einem sportbuggy den kleinen hügel hochschiebt. wir sagen hallo oder so. beim nächstenmal müssen wir uns virtuell einen ausgeben.

die schlange ist inzwischen doppelt so lang. aber die meisten haben wohl jetzt eh nicht so viel zu tun oder scheinens jedenfalls mit fassung zu tragen. könnten gut stille post spielen. erinnerungen an fernsehbilder von der DDR, westpropaganda. ich hatte das schon geahnt und mich frühzeitig fürs wochendene eingedeckt. nicht hamstern, aber vorratshaltung. meine eltern sind wie ruthchen kriegsgeneration und ich hab sowieso keinen bock täglich einzukaufen. da brauch ich keine krisenkanzlerin die mir das anempfiehlt.

zu hause
collage v.e.b. freie brandstiftung 2020

auf der kuithanstraße laufe ich an einem mehrfach gefalteten zettel vorbei. der war mir doch schon beim hinweg aufgefallen. als asphaltbibliothekar ist man ja immer im dienst. hatte mir das konzept 1998 ausgedacht, damit ich zum kunstmachen nicht extra arbeiten gehen muss, sondern es gleich nebenbei miterledigen kann. FLUXUS ist LUXUS. also laufe ich wieder zurück, verneige mich vor dem bürgersteig und stecke das objekt meiner begierde mit spitzen fingern tief in die känguruhtaschen meiner alten kapuzenjacke. eigentlich hebe ich jetzt nur noch mit der von mir verpönten greifkralle auf. ist schließlich große kunst und kein müll. aber: keine regel ohne ausnahme, und ich wasch mir eh gleich die flossen und sing dabei schön häppi börsdeh. um 8 dann heuchlerisches gutmenschenklatschen. ich geh lieber auf meine einsame miniterasse mit blick auf die mülltonnen im hinterhof und lass euch einen fliegen.

kurz bevor ich unter der s-bahnbrücke west ins unionsviertel einlaufe fliegt eine elster mit einem großen zweig im schnabel über die straße. auf ihrem baum in den schrebergärten ist schon ein beachtliches nest zu sehen. dem schwarzweißen rabenvogel ist die pandemie scheißegal. endlich mal ein bißchen ruhe vor uns quälgeistern in der heimischen baum-corona. und die egoistischen haustiere schicken herrchen und frauchen gnadenlos ins risikogebiet supermarkt. los, jetzt könnt ihr endlich eure liebe beweisen – ich will futter!

die elster gilt in europa als unglücksbote, in asien als glücksbringer und bei den native americans als ein mit den menschen befreundetes geistwesen. da es hier im kiez so viele asiatische migranten hat, entschließe ich mich sicherheitshalber ihrer lesart zu folgen.

die tage war eine an mich und thomas kapielski gerichtete vogelkundliche email von unserem gemeinsamen freund hans-joachim knust aus hannover eingetroffen: soeben den zilpzalp auf dem balkon gehört. noch etwas ungeübt und schüchtern, aber da. schönen frühling & ornithologische grüße, euer knusti.

2018 hatte ich mit tanja für den mainzer kunstverein walpodenstraße 21 e.V. die fulminante gruppenausstellung DO THE BIRD konzipiert und in der walpodenkademie ausgerichtet. kunsti & seine frau sascha hatten unser großes schaufenster mit einer wunderbaren vogelinstallation bestückt und zur vernissage einen genialdilletantischen klugscheißer-vortrag mit super 8 filmen und musik zum thema gehalten. der oben erwähnte frühlingsbote zilpzalp oder weidenlaubsänger  klingt genau so wie er heißt. ganz im gegensatz zum ruf der großtrappe. diese hatte knusti nicht ohne grund als soundinstallation auf die galerietoilette verbannt. so mancher austellungsbesucher hatte auf dem weg zu unserem nun gar nicht mehr so stillen örtchen den rückzug im festen glauben daran angetreten, dass dieses bereits von einem unter heftigsten blähungen leidenden mitmenschen besetzt sei.

ebenfalls in der ausstellung vertreten: der landart-künstler krd HUNDEFAENGER, der ebenso wie ich ungefragt in bad kreuznach geboren wurde. ich hatte seine vogelkotbilder bereits 2016 in meinem artzine ANTIPODES veröffentlicht und gerade ist das empfehlenswerte radiofeature BIRDSHIT wegmarkierungen eines lebenskünstlers über den eingenwilligen künstler, der vogelfedern in bäume hängt, auf deutschland radio kultur gepackt worden.

shitart by birds
hommage an hundefaenger, v.e.b. freie brandstiftung 2020

zuhause angekommen kommt bald der magische moment. ich habe mir gerade meinen starken morgenkaffee mit drei kardamomkapseln gemahlen und aufgebrüht: jeden morgen in der früh, trink ich meine kaffeebrüh… endlich entfalte ich den gefunden zettel. wird er auch beschrieben sein? ich muß lachen als ich die schrift wiedererkenne. absolute premiere: der asphaltbibliothekar hat gerade zum ersten mal seinen eigenen einkaufszettel auf der straße gefunden!

mehr schräge vögel & ostereier in herne: https://youtu.be/i3fh-pa3B7g

 

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social disdancing with myself

v _ e _ r _ r _ u _ e _ c _ k _ t _ e   zeiten

oder der distanz zwischen mir euch uns & corana

 

 

da schlag ich holderdipolter in einer anderen stadt auf

stolper in einen haufen wunderbarer menschen

die mich aufnehmen und einladen

und plötzlich ist da was zwischen u/n/s

was uns  t-r-e-n-n-t

 

 

man kann es nicht sehen

man kann es nicht hören

man kann es nicht riechen

man kann daran sterben

so sagt man

so hört man

so sieht man

sich nicht mehr

und wenn man nicht daran glaubt

oder wenn man zeigt dass man nicht daran glaubt

dann ist man

natürlich

unsolidarisch

mit den kranken alten und schwachen

ein egoist

so sagt man

so glaubt man

so tut man

nichts

 

 

 

wann werde ich endlich den stammgästen in der eckkneipe zuprosten?

wann werde ich endlich beim besten inder dieser stadt schmausen?

wann raus aus do in den pott?

nach duis

nach ess

nach reck

nach gels

nach hag

nach ob

doch ich

bin brav

und treff nur noch

kassierer*innen

security

polizeier

und halte abstand

social disdancing with myself

 

 

 

 

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RUTHCHEN MADE MY DAY

donnerstag vor dem corona-erlass: heute nachmittag scheint volle kanne die sonne und ich beschließe an der frischen luft in den dortmunder westpark zu flanieren. überall sitzen oder laufen menschen mit bierflaschen in den händen herum und laben sich an den ersten warmen sonnenstrahlen. ich suche mir eine einsame sonnenbank und bin gerade dabei visuelle poesie in meine kladde zu kritzeln, als sich ein weißhaariges mütterchen zu mir setzt.

da mein rucksack fast die gesamte sitzfläche beansprucht, räume ich ihn schnell auf die andere seite und schon eröffnet die etwa 1,60 m kleine dame das gespräch: lassen se nur – ich will nuur kurz verschnaufen – von wegen! sie rückt nun fast bis auf tuchfühlung an mich heran, so dass ich ihren süßlichen milchkaffeeatem rieche, und plaudern will se, aber dass ist mir gar nicht so unrecht. sie wohnt hier umme ecke, ist 93 jahre jung und führt immer noch ihren eigenen haushalt. ihr mann, also der willie, der lebe nich mehr und sei schon mit 59 an speisenröhrenkrebs verstorben, der hätte bei der bundesbahn gearbeitet und immer so viel geraucht.

ab und an stupst sie mir beim erzählen burschikos ihren ellenbogen in die seite. ja ihr gedächtnis, das lasse sie jetzt manchmal im stich, aber man sei ja schließlich schon 93. als junges mädchen habe sie bei der westdeutschen drahtseil verkaufsgesellschaft gelernt und gearbeitet. das sei ein langer fußweg gewesen: jeden tag bis runter in den hafen und abends wieder zurück ins unionsviertel. dann kamen die kinder, zwei mal jungs – macht ja nix -, und als die aus dem haus waren, da habe sie wieder angefangen zu arbeiten bei waldschmidt.

der willi habe ihr immer viel von den wichtigen entscheidungen überlassen und sei auch sonst ein ganz lieber gewesen. manchmal, wenn sie dran waren mit dem putzen, habe er schon den boden und keller fertig gehabt, wenn sie vom arbeiten kam, das sei ihr gar nicht recht gewesen: was sollen denn die anderen im haus denken. wenn er gleich auf spätschicht mußte, dann hing der willi schon im fenster, wenn sie nach hause kam: gehste wieder schwofen? fragte er dann. dass war ihm gar nicht so recht, aber sie ging trotzdem zum tanztee und er gewöhnte sich irgendwann daran. die besten tänzer hätte sie immer abgekriegt. 44 hat der willi sich mit siebzehn freiwillig als soldat gemeldet und war in italien in der nähe von rimini gewesen, da hamm se nach dem krieg auch immer urlaub gemacht. und dann isser er so weit rausgeschwommen, bis sie nur immer noch seine haare sah, da habe sie angst gekriegt und gedroht sofort nach zu hause zu fahren, wenn das nicht aufhören tut. im nachherein sage sie sich immer: och ruthchen, hätte alles schlimmer kommen können. hauptsache die kinder sind gesund und lieb zu einem.

hier im park hätten sie immer im sandkasten gespielt. wie schnell doch so ein leben vergeht. und als dann die tommies mit ihren flugzeugen kamen, diese ganze bombenschmeißerei! bei alarm sei sie hier in den bunker gerannt, schnellschnell die treppe runter. der sei heute ein museum. sie erinnere sich noch an einen männerarm, der aus den trümmern des völlig zerstörten dortmunder hauptbahnhofs herausgeschaut hatte, nee, das könne sie nicht vergessen…

als ich sie frage ob sie denn keine angst vor corona habe, muss sie nicht lange überlegen: warum soll ich denn angst haben? wenn ich dran bin, dann bin ich dran. ich bekomme gänsehaut: haargenau das gleiche, hatte vor einer stunde meine 92jährige mutter, die von papa brandstifter (93) auch manchmal ruthchen genannt wird und meiner parkbekanntschaft gar nicht so unähnlich ist, ihrem besorgten sohn auch gesagt am telefon.

mittlerweile ist die schöne warme sonne wech. ich habe kalt und muß mal. auch ruthchen macht weiter und verabschiedet sich von mir mit einem knappen aber herzlichen: tschüß, woll! ob ich sie wohl noch mal wieder sehen werde? auf dem weg zum berühmten dortmunder U unter dem dach der ehemaligen union-brauerei komme ich bei waldschmidt haushaltwaren vorbei, ja die gibst tatsächlich noch hier.

ich überquere die unionstraße und schau erstmal in den dortmunder kunstverein herein. dort ist die sehr poetische art brut ausstellung von anne-lise coste LA LA CUNT zu sehen. sogar danach noch, da sie täglich von 11-18 Uhr beleuchtet wird und über die rundum laufende fensterfront von außen sichtbar ist. weil es dort keine toilette gibt, geh ich rasch ins dortmunder U und schaue mir bei der gelegenheit auch gleich WELCOME TO THE FLUX INN an: im vierten stock hängt die überlebensgroße reproduktion eines fotos vom fotografen wolfgang träger, auf dem er den fluxus mitbegründer ben patterson abgelichtet hat, wie dieser gerade dazu ansetzt, eine geige auf dem pickelhaubenbewehrten kopf des dortmunder kulturdezernenten jörg studemann zu zerschlagen.

BEN hatte bis zu seinem tod 2016 in wiesbaden, der nachbarstadt meiner homebase mainz, gelebt und wir hatten in beiden städten zwei wunderbare aktionen zusammen durchgeführt. die zweite, SILENT REFUGEE NIGHT, war leider sein allerletzter liveauftritt gewesen. schön zu sehen, dass BEN hier als fluxus pop star gewürdigt wird.

an einer pinwand werde ich museumspädagogisch aufgefordert eine handlung durchzuführen, die sich ein vorheriger besucher ausgedacht hat, sowie mir eine neue handlungsanweisung für den nächsten zu hinterlassen: ich lächel ein kind an und hinterlasse einen weißen zettel auf den ich mit bleistift RUTHCHEN, MAKE MY DAY! geschrieben habe…

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BARES FÜR RARES

weil das ruhrgebiet nicht nur dortmund, die stadt ohne namen, ist geht’s heute abend zur ersten (und vermutlich vorerst letzten) exkursion. ziel ist die helge schneider stadt mülheim. im hauptbahnhof DO zieh ich mir schnell noch ein teures monatsticket und schon kommt künstlermusiker achim zepezauer (siehe WTF is DADADO? und wir springen auf den regionalzug richtung kölle. was ich nicht weiß: ticket2000 wertmarke ohne dazugehörige karte (+ weiteren lichtbildausweis) ist wie krone ohne könig oder eifeltum ohne paris. der resolute zugschaffner hätte mich glatt in der nächsten station rausgeschmissen. da achim eine weitere person mitnehmen darf, bleibt mir dieses schicksal, im gegensatz zu unserem ebenso ahnungslosen nachbarn, erpart. nun weiß ich was fräulein nina meinte mit: VRR ist die hölle! keiner kennt sich aus…

erstaunlicherweise kennt auch niemand dem ich in DO davon erzähle das  makroscope. laut definition der blick auf’s große und ganze und für mich ein highlite für experimentelle improvisierte musik jenseits von bräsigen jazzfestivals, donaueschinger musiktagen und neuer musik mit stock im arsch. viele meiner musikerfreunde und kollegen wie limpe fuchs, ronnie oliveras oder ruth maria adam haben hier schon fleißig klarinettiert, gefiedelt und gedengelt. ebenfalls im angebot: das hauseigene label ana ott, wo strickmanns peter seine wunderbare schnarchmusik (kein witz) auf vinyl veröffentlicht hat. weiterhin ist dort das lebendige museum für fotokopie mit einer sammlung zur geschichte der fotokopie und copy art, workshops und ausstellungen. 2019 hatte ich mit dem gründer des museums klaus urbons und weiteren künstler*innen, die den fotokopierer zum kunstmachen benutzen eine copy art ausstellung in buffalo NY. einer meiner ältesten künstlerischen kollaborateure, jürgen o. olbrich aus kassel, mit dem ich gerade eine handbearbeitete edition mit impfpässen für hunde & katzen erstellt habe, hat dort auch schon ausgestellt. das alles unter einem dach und an jedem wochenende ein interessantes event. die wochenenden im pott schienen gesichert…

an diesem abend aber war die corona panik noch nicht wirklich im ruhrgebiet deutschland angekommen und veranstalter dennis dix nimmt alle eintretenden erstmal herzlich in den arm. heute (19.03.) würde er für diese an sich harmlose und liebvolle geste vermutlich gelyncht werden. das publikum, inklusive dem zottelbärtigen barfußläufer und dem kind mit mickymaus gehörschutz, wirkt irgendwie handverlesen aber durchaus unhomogen authentisch. an der theke sitzt schon der aus florida stammende noise musiker sisto rossi auf einem barhocker und schlürft belgisches leffe bier. wir hatten uns nach einem phantom limbo konzert in der oettinger villa am bahnhof in darmstadt kennengerlernt und er ist dabei, einen auftritt für uns beide in einer essener galerie zu arrangieren. dann wiedersehen mit jan ehlen von den raumzeitpiraten, die ebenso wie ich letzen sommer bei der licht- und klangkunstnacht zum dreißigjährigen jubiläum im künstlerdorf schöppingen aufgetreten sind. ich erzähle von meinem stipendium als regionsschreiber und er ist feuer und flamme ein partizipatives fundzetteldepot im makroscope für das projekt asphaltbibliotheque ruhrgebiet asphaltbibliotheque ruhrgebiet  aufzustellen.

der erste act ludwig wittbrodt ist ein duo wie es viel gegensätzlicher nicht sein könnte. die eher zierliche emily wittbrodt am cello – ebenso wie achim assoziert bei dem 25-Piece sound collective the dorf  – und der kräftige riese edis ludwig am laptop und selbstgebauten noisegeneratoren. immer wenn die glassvitrine bei extremen bassfrequenzen mitscheppert schauen achim und ich uns grinsend an und ich kann mich kaum zurückhalten die vitrine zum mitspielen zu benutzen. brandstifter, alte rampensau: du bist neu hier, also sei schön brav, halt dich zurück, amüsier dich und guck lieber erstmal zu. deine zeit wird kommen 😉

viel zu hören und auch zu kucken gibt’s dann beim zweiten set. das phobos, dysfunctional robotic orchestra ist eine gruppe kleiner roboter und automatischer musikgeneratoren, die sich zu einem dysfunktionalen roboterorchester zusammenschließen, einem orchester seltsamer instrumente mit defekten und genetischen mutationen. die gruppe aus portugal hat mit ihren maschinen eine riesige tischlandschaft bestückt. überall blinkt es und geschehen interessante dinge, die den klanggarten von phobos zum blühen bringen.

da einer der beteiligten am noise vs poetry abend krank geworden ist kommt die anfrage, ob ich nicht am 21. merz auftreten möchte. als weiteres projekt ist igitt, ein non input mixer duo mit dennis & sisto am start. zufälligerweise war tilmann jakob, der ursprünglich an dem abend hätte auftreten sollen, gerade erst im februar in frankfurt gastgeber gewesen, als ich in der reihe xerox exotique im institut für neue medien mit meinem incredible labertierchens orchestra aufgetreten war. die welt ist klein in der szene, in der wir uns bewegen. das hatte ich schon in new york festgestellt. mal sehen was sich nun alles verändern wird. auf facebook wimmelt es von petitionen für grundeinkommen und krediten, die die regierung auch kulturschaffendenden in aussicht stellt. kredite paßt nicht: bares für rares, bitte! wir kreativen hungerleider sind ja findig und anpassungsfähig wie ein blatt im wind und wenn die anderen kleinunternehmer auch nix haben fällt vielleicht endlich mal auf was wir alles die ganze zeit leisten auch ohne an den großen tröpfen zu hängen.

zwei tage nach frankfurt war ich vor fastnacht zu einem gig mit meinen projekt ANTIBODIES nach berlin geflüchtet. wenn man bedenkt, was nur EIN coronainfizierter bei einer karnevalsgesellschaft im kreis heinsberg ausgelöst hatte, so ist in dem zusammenhang das wort flucht sicher nicht übertrieben…

es ist mittlerweile schon spät oder eher früh und um lange wartezeiten zu umgehen müssen wir dringend zum zug. achim braucht ein bißchen, um seine am tresen versackte nachbarin einzusammeln. die übliche abschiedszeremonie rollt ab. pipi gehen, ciao sagen, jacke anziehen. endlich rennen oder torkeln wir im trio gen bahnhof, wo wir gerade in allerletzter minute unseren zug erwischen. scheiß wodka! kaum dass wir sitzen wird unsere mitfahrerin ziemlich blass um die nase und verschwindet auf toilette. ab DO HBF fahre ich allein mit der 43 zur heinrichstraße weiter. quasi schwarz. noch ist mir nicht bewußt, dass es schon jetzt gravierendere gründe gibt den nahverkehr besser zu meiden und dass einrichtungen wie das makroscope bald um ihre existenz bangen werden, da schon nächste woche alle kommenden öffentlichen veranstaltungen auf eis liegen werden…

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