Parkdeck

Sie stehen am Bahnsteig – die Kids. Gleis 1, Gleis 2 – das ist doch eigentlich egal. Sie stehen an der Treppe, am defekten Lift, vor der Unterführung, in der es aufdringlich nach Urin riecht. Sie hören Goa, Hardtekk, Psy – das ist immerhin nicht egal. Der Gurt der mittelschweren JBL-Box, die sie letztes Jahr auf Ebay-Kleinanzeigen gekauft haben, hängt lässig über der Schulter. Hauptsache der Akku hält noch mindestens drei Stunden. Das wäre äußerst wichtig. 

Es ist warm, sehr warm, wärmer als in den letzten Jahren. Und obwohl es so warm ist, reden sie ununterbrochen vom Ballern und meinen damit die 30/70-Cannabis-Tabakmischung, die sie durch ihre Hände rotieren lassen. Die Wirkung ist zwar nicht besonders intensiv, aber wenigstens etwas spürbar und da an was anderes ist nicht so leicht zu kommen ist, weil der örtliche Dealer zurzeit mit einigen Lieferengpässen zu kämpfen hat, geben sich die Kids schon irgendwie zufrieden damit. Und weil der Zug hier regelmäßig ausfällt, verlassen sie den schmalen Bahnsteig wieder. 

„Ich nehm noch einen Letzten“, sagt einer und wirft dann den Stummel auf den Boden. Pizza oder Pommes ist die Entscheidung, vor der sie stehen, aber eigentlich ist es für beides zu warm an diesem Tag. Sie zucken mit den Schultern, also gut, erstmal ein schattiges Plätzchen suchen. Auf dem Parkplatz vor ALDI oder noch besser in dem unbenutzten Parkhaus mit vier Etagen. Dort ist es verhältnismäßig kühl, dort ist es einigermaßen geschützt.

Die Kids sind frustriert, wie soll es auch anders sein. Sie würden ihren Frust gerne kanalisieren, aber sie noch haben sie nicht die geeigneten Mittel dazu. Im wohligen Schatten des Parkhauses drehen sie sich deshalb zur Sicherheit noch einen Joint.

Es ist nicht so, dass der Ablauf der Dinge hier zum ersten Mal stattfindet und mit Sicherheit auch nicht zum letzten Mal. Es ist fast eine zweckmäßige Routine, eine Abfolge von Ereignissen, die eben so sind, wie sie sind. Nicht gut, nicht schlecht. Irgendwo dazwischen. 

Jemand holt sein Handy aus der Tasche hervor und öffnet einen beliebigen Twitch-Stream, der aus einem Zimmer mit neonfarbenen Lichtröhren gesendet wird. Es ist sowieso kaum etwas zu verstehen, denn der Track, der noch über die Box läuft, ist ohrenbetäubend laut. 

„Ich hör nichts.“
„Na und?“
„Mach mal leiser.“
„Mach selber.“

Das ist der Ort. Eine ausgerollte Betonfläche auf mehreren Etagen. Keine Autos und die Markierungen auf dem Boden schon spröde und aufgeplatzt. Es ist nicht so, dass die Kids nichts zu sagen hätten, aber da es an diesem Tag besonders heiß und drückend ist, sparen sie sich ihre Energie lieber auf. Was sollen sie auch schon großartig Neues erzählen? Jemand hat zwar gerade ein Match bekommen, aber das ist über dreiundfünfzig Kilometer weit entfernt. „Zeig trotzdem mal“, sagt wer anders, und das Handy wird nach und nach herum gereicht. 

„Kann ich was anmachen?“, fragt jemand und macht dann genau jenen Song an, der auch schon die letzten drei Wochen an jedem einzelnen Tag abgespielt wurde. Er ist genau die perfekte Mischung aus Auf und Ab, aus Runterkommen und Hochfahren. „Mach jetzt doch mal lauter bitte.“ Auf dem Parkdeck hallt es ganz schön, und einige der Anwohner werden sicherlich mitbekommen haben, dass die Gruppe der Kids sich dort versammelt hat. Halb so wild, denn die Polizeistation ist unterbesetzt und was sollen sie schon machen. 

Es ist mehr als verständlich, dass die Kids sich dort niederlassen, dass sie dort (wo auch sonst?), diesen und auch jeden anderen warmen Tag verbringen. Dazu gibt’s Fanta Fruit Twist aus der Dose. Sie trinken langsam und genüsslich, aber sie ärgern sich, dass es keine Möglichkeit gibt, die Getränke kaltzustellen. Das fehlt eben noch. 

Letztens erst haben sie erfahren, dass es irgendwo in der Nähe sogar mal eine Diskothek gegeben haben soll. Das ist schon länger her und muss auch noch vor der Zeit gewesen sein, als ihre Eltern herzogen sind, und außerdem sagt niemand mehr Diskothek. Trotzdem reizt sie die Vorstellung, dass es einen Ort gäbe, an dem bis um drei oder vier Uhr extrem laut Musik gespielt werden würde. Dann würde es auch endlich mal etwas anderes geben als das mehr als trockene Cannabis, das durch den Ort zirkuliert. Sie würden natürlich auch selber Auflegen wollen – die Kids. Das ist klar. Wie schön das wäre. Sie würden sich der Reihe nach abwechseln, sie würden miteinander harmonieren, jede und jeder dürfte etwas beisteuern. Natürlich waren sie auch schon mal in einem echten Club. In Dortmund oder Bochum oder so. Die Fahrt war anstrengend und besoffen und der Rückweg umso schlimmer. Jemand hat sicherlich in einen Mülleimer oder zwischen die Sitze der ersten Regiobahn gekotzt. Wenn jemand von ihnen irgendwann ein Auto haben wird, sieht die Sache schon ganz anders aus. 

„Mir ist so heiß“, sagt eine und wischt sich mehrmals über die Stirn, über die Schläfe am Hals entlang. Die Nachmittagssonne wandert nur langsam an den Erhebungen der Landschaft vorbei. Trotz des Schatten, den das Parkhaus den Kids spendet, ist die drückende Luft überall zu spüren. Die Limonadendosen sind leer, und es wäre sicherlich gut, wenn es noch etwas Nachschub geben würde. 

„Ich mach schon“, sagt die Jüngste der Gruppe. Es sind nur sieben Minuten bis zum Supermarkt. Dort drinnen ist es wenigstens schön kalt, und sie kann sich Zeit lassen beim Auswählen der Dosen. Das Kühlregal ist leider schon leer geräumt, also muss sie wohl oder übel zu den ungekühlten Dosen greifen. Das muss okay sein. Sie zahlt den unrunden Betrag mit der Karte und quält sich zurück in die Hitze. 

Sie quert die Bundesstraße, den heißen Asphalt. Sie holt ihr Handy hervor, um ein Foto von den Dosen in ihrer Hand zu schießen. Sie schickt eine Nachricht mit dem Foto in die Gruppe. Die Wetter-App sagt, dass es in den kommenden Tagen regnen soll. Das freut und nervt sie zu gleichen Teilen. Sie öffnet schon mal eine der Dosen, weil sie so unerträglichen Durst hat. Die Kohlensäure ist grob und ihr Mund klebt vom ganzen Zucker.

Um zum Parkhaus zukommen, muss sie eine schmale Steigung hochlaufen. Es dauert nicht lange, vielleicht drei oder vier Minuten, wenn sie einen guten Gang hat, doch der Schweiß sitzt ihr dermaßen im Nacken, dass sie erstmal eine Pause machen muss. Sie ist nicht für dieses Wetter gemacht. Wenn sie ganz ruhig ist, kann sie von der Straße aus schon die Musik aus dem Parkhaus hören. Das fühlt sich irgendwie gut an zu wissen, dass die anderen noch da sind. 

Die Dosen werden schnell geöffnet und auch schnell getrunken, dass sie jetzt nicht kalt sind, ist mittlerweile auch egal. Die Musik scheppert immer noch über das Parkdeck. Es hat sich nichts geändert, und so traurig das auch ist, es wird sich nichts ändern. Nur eine, die, die vorhin die Getränke geholt hat, macht sich auf den Weg zur obersten Etage des Parkhauses. Sie steht dort oben ganz alleine, dann holt sie ihr Handy raus, öffnet eine App und geht live. Sie filmt die Dächer, das trockene Gebüsch, den Verkehr der Bundesstraße. Sie redet einfach drauf los. Sie redet ohne Unterbrechung. Dass niemand ihr dabei zuschaut, ist erstmal zweitrangig. Eine Weile redet sie noch vor sich hin, dann verliert sie die Lust daran und steckt das Handy wieder weg. 

Sie wechselt das Parkdeck. Die Musik ist mittlerweile verstummt. Der Akku hat nicht mehr gehalten. Die anderen sitzen auf dem Boden und ärgern sich, dass das Gras leer ist. Sie zuckt mit den Schultern und sagt: „Ich geh mal.“ Auf dem Weg zur Bundesstraße hört sie, dass sich auf den Gleisen etwas tut. Es ist kaum zu glauben, aber in der Ferne kann sie die Regionalbahn erkennen. Ihr Schritttempo wird schneller, viel schneller. Sie sprintet die Treppen der Unterführung herunter und wieder herauf. Sie achtet nicht mal auf die Anzeige am Zug. Sie springt einfach rein. Und dann, beim Anfahren, sieht sie die anderen langsam die Straße vom Parkhaus herunter schlendern. Jemand hat noch was in der Hand und reicht es weiter. 

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Zwischen den Wänden

Am oberen Rand des Waldes, der mittlerweile schon gar kein richtiger Wald mehr ist, liegt, eingebettet in Sträuchern, Efeu und hohem Gras, ein zweistöckiges Haus mit Keller. In nächster Nähe gibt es keine Nachbarschaft. Das ist gut und traurig zugleich. Gut für die vier Jugendlichen, die sich um das Haus herumschleichen und einen Blick auf das Grundstück riskieren. Traurig für den Neffen und Erben der letzten rechtmäßigen Bewohnerin des Hauses, die nach kurzer und intensiver Krankheit verstarb, nachdem sie die letzten 16 Jahre alleine in dem Haus wohnte und deren ganzes Hab und Gut nun an den Neffen, der mittlerweile im Londoner Stadtteil Newham seinen Lebensmittelpunkt gefunden hat, übergegangen ist. Die Freude über den Brief von der Nachlassverwalterin war groß, konnte er doch gerade etwas finanzielle Unterstützung gut gebrauchen. Nach zwei, drei Telefonat überwog jedoch die Enttäuschung, als er feststellen musste, dass sich das Haus in einem durchaus unbrauchbaren Zustand für ihn befindet. 

Für die vier Jugendlichen hingegen ist die Entdeckung des Hauses ein echter Glücksgriff. Für sie gibt es in der näheren Umgebung keinen geeigneten Ort, deshalb gehen sie in den Abendstunden mit Tetra Paks in ihren Händen ziellos umher. Eigentlich laufen sie nie an dieser Straße entlang, eigentlich meiden sie es Richtung Wald zu gehen, doch wie durch einen Zufall oder eine Eingebung laufen sie an einem mehr oder weniger normalen Tag an der Grundstücksgrenze des Hauses, das in den Besitz des in Newham wohnenden Neffen übergegangen ist, vorbei und bleiben alle vier im selben Moment mit ihren Füßen stehen. 

„Woah“, staunt Mika, die eigentlich Goth ist und verhalten mit ihren Reaktionen umgeht, als sie zum ersten Mal vorsichtig durch den Garten streift. Auch Diego, Peri und Johann bewegen sich behutsam und schauen, dass sie keinen allzu großen Lärm produzieren. Sie tapsen durch den verwucherten Garten, schlängeln sich um die Obstbäume herum. Hier und da verrücken sie ein paar Blumentöpfe. Weiter, als bis zum Anfang der steinigen Terrasse, wagen sie sich am ersten Tag nicht. Sie bleiben nur wenige Minuten auf dem Grundstück und widmen sich danach wieder ihren Getränken. 

Doch weil es eben so wenig zu tun gibt, kommen sie in den nächsten Tagen wieder zurück zu dem Haus. Sie ziehen sogar die Stühle der Gartengarnitur unter dem Tisch hervor und setzen sich für ein, zwei Filterzigaretten der Marke L&M hin. Diego ist der einzige aus der Runde, der nicht raucht. Während die anderen unbeholfen und schnell an ihren Zigaretten ziehen, macht er sich alleine auf den Weg, das Haus zu umkreisen. Die Haustür ist natürlich verschlossen. Da gibt es nichts dran zu rütteln. Doch eine kleine Treppe aus brüchigem Stein führt hinab zum Kellereingang. Diego entscheidet sich, die Treppe herabzusteigen. Er braucht ein paar Versuche, um die schmale Tür zu öffnen. Letztendlich reicht ein kräftiger Stoß mit der Schulter dagegen. 

Aufgeregt läuft er zu den anderen, die mittlerweile schon die dritte oder vierte Filterzigarette im Mund haben. Hektisch ziehen sie den Rauch in ihre noch nicht ausgewachsenen Lungen hinein, ersticken die dunkelgelben Filter auf dem Gartentisch und laufen allesamt die Treppe hinunter und in den Keller.

Es riecht, wie es riechen soll. Nach kaltem Staub, nach 50 Jahren Erbsensuppe mit Heißwürstchen. Die Jugendlichen wollen nicht auffallen, obwohl sie wissen müssten, dass niemand zu dieser Zeit am Haus entlanglaufen wird. Sie schalten nicht die Lichter von ihren Smartphones ein. Allein mit der Helligkeit der Displays müssen sie zurecht kommen, müssen sie versuchen die Oberflächen abzuleuchten. Sie durchströmen jede Etage, jedes Zimmer. Es gibt keinen Storm, kein Deckenlicht. Alles ist unberührt und noch komplett eingerichtet. Sie haben keine Angst, nicht vor einem Haus, trotzdem sind sie mit hohem Pulsschlag auf der Hut und sorgsam unterwegs. Nachdem sie alle Räume durchquert haben, verlassen sie das Haus durch den Keller. Sie müssen erstmal Luft holen und sich eine Zigarette anstecken. Johann holt schnell die blaue L&M-Schachtel aus seiner Jackentasche hervor und verteilt die Zigaretten. Sie tauschen sich darüber aus, was sie gesehen haben. Peri schlägt vor, wieder zurückzukommen, wenn es noch nicht dunkel ist, wenn sie eine Chance auf etwas Tageslicht in den Räumen haben. 

In den nächsten Tagen treffen sie sich immer öfter in dem Haus, in ihrem Haus, wie sie es mittlerweile nennen. Manchmal schon am Nachmittag direkt nach der Schule. Sie bringen sich Chips (Geschmacksrichtung Sour Cream & Onion), Energy (2 x 1,5l), Erdnüsse (geröstet und gesalzen) und Pfirsichringe (gezuckert) mit. Die Dose der Erdnüsse können sie später als Aschenbecher benutzen, das ist praktisch und weitsichtig. 

Sie öffnen zunächst einmal die Fenster in der oberen Etage. Weg mit dem alten Dunst, weg mit der alten Lady. In einem Unterschrank, in der Küche finden sie Putzutensilien, eingestaubt und verkrustet. Einen Eimer, Lappen, Scheuermilch. Sie verteilen die Räume und Aufgaben fair. Mika übernimmt das Schlafzimmer und das Gäste-WC, Diego die Küche und das Arbeitszimmer, Peri macht den Flur und das Bad und Johann übernimmt das Wohnzimmer und die Terrasse. Es sind zwar noch weitaus mehr Räume vorhanden, aber sie beschließen, dass sie nicht sofort alles in Schuss bringen müssen. Fließendes Wasser gibt es leider nicht, deshalb müssen sie sich notgedrungen an der Regentonne im Garten bedienen. Das ist nicht ideal, für den Anfang aber irgendwie okay. Sie arbeiten zügig und gönnen sich zwischendurch natürlich eine Pause. Johann geht dann rum und verteilt Schokoladenriegel mit Himbeergeschmack und Zigaretten. 

Sie kennen die Frau, die vor ihrem Tod in dem Haus wohnte, weder vom Namen noch wissen sie, wie sie aussah, denn es hängen keine Fotos in dem Haus. Keine Familienportraits. Es gibt ein paar Fotoalben im Schrank, deren Seiten vergilbt und verklebt sind. Die Gruppe blättert sie gemeinsam durch, doch sie befinden, dass es ziemlich langweilig aussieht. 

Im Wohnzimmer haben sie das Mobiliar neu arrangiert, denn der Fernseher ist nun nicht mehr der zentrale Punkt im Raum. Die zwei Sofas bieten extrem viel Platz und der Sessel besitzt einen Hebel, der ihn nach hinten schnappen lässt. Über mehrere Tage richten sich die vier dort ein, sie entwenden ein paar Kerzen aus dem Supermarkt und Diego treibt einen Gaskocher aus dem Hausstand der Eltern auf. Natürlich trinken sie in dem Haus auch Alkohol. Wodka Feige, Wodka-O, Wodka-E und das, was der Vorratsschrank der alten Dame noch hergibt.

Diego liegt im Sessel, zurückgeklappt und die Beine in der Luft, vollkommen betrunken, fertig von der Putzaktion und auch ein bisschen high, er sagt mehr zu sich selbst als zu den anderen: „Wir brauchen unbedingt Strom. Das wär so geil. Oh mein Gott. Ich würd’s so feiern.“ 

Er genießt die Sitzposition, den Sessel, er genießt auch ein wenig den Kerzenschein. Auf seinem Phone scrollt er ein wenig unzufrieden herum, er wischt mit seinem Finger nach oben, unten, links, rechts, diagonal. „Ach, Rotz“, sagt er und legt das Phone zwischen die Kerzen auf den Tisch. Der Empfang ist sowieso ein schlechter Witz. 

Die vier merken schnell, dass das Haus mehr als nur ein kurzfristiges Abenteuer ist, dass sie die Chance auf einen echten Rückzugsort haben, auf ein Versteck, einen Bunker, einen Schutzraum, eine Höhle, ein Spaßquartier. Mika sagt: „Ich bin so unglaublich froh, dass ihr hier seid. Ich wüsste nicht, was ich ohne euch machen sollte. Bitte geht nicht.“ Dann nimmt sie einen tiefen Schluck aus der Energyflasche. Sie schwören sich, dass sie erstmal niemandem von dem Haus erzählen werden, dass sie, so gut es eben geht, diesen Raum für sich nutzen wollen. Denn wovor sie Angst haben ist, dass es sich rumspricht, so wie sich alles schon immer rumgesprochen hat und sich alles immer rumsprechen wird. So wie es sich durch alle Münder rumgesprochen hat, dass Diego Kajal und Nagellack trägt und so wie es sich rumgesprochen hat, dass Mikas Vater während der Scheidung, das Auto ihrer Mutter ohne deren Wissen verkaufte, sich das Geld einsteckte und über die Berge machte, dass Mika seitdem nur noch zu Fuß unterwegs ist und die Leute mitleidig hinterm Lenkrad hervorschauen, wenn sie Mika auf dem Bürgersteig entlanglaufen sehen. 

Sie sind es ganz einfach satt. In der Schule, im Sportunterricht, im Bus, im Supermarkt, in der Regionalbahn, im Wartezimmer der Arztpraxis, in der winzigen Straße des Ortes, die sich Zentrum nennt, auf der Sitzbank, die vor Kurzem aus unerklärlichen Gründen abgeschraubt wurde, auf dem Parkplatz der Tankstelle, wenn sie sich sonntags ein kaltes Getränk besorgen wollen, vor und in der Imbissbude, wenn der Hunger auf Fritten doch so groß ist, dass sie nachgeben müssen. 

Sie sagen sich: „Das ist das Schönste, was wir je hatten. Wir sind so unglaublich überglücklich hier in diesem Haus, für diesen Sommer. Wir würden am liebsten hier übernachten und uns nicht mehr fortbewegen. Wir möchten uns mit Decken ins hohe Gras legen und nur in den Himmel schauen, das würde uns genügen.“ 

Doch es kommt, wie es kommen muss: Johann fährt mit seinen Eltern und seinen Geschwistern an die holländische Küste, Peri hat einen Ferienjob angenommen und ist abends zu erschöpft, um sich um das Haus zu kümmern. Am Wochenende feiern sie zwar noch ein paar kleine Parties zu dritt, doch irgendwie ist es nicht mehr dasselbe. Mika und Diego treffen sich regelmäßig, aber seltener in dem Haus. Diego hat nämlich wen übers Internet kennengelernt und ist meistens unter der Woche und manchmal auch darüber hinaus woanders. Mika freut sich natürlich extrem für ihn. Sie sagt: „Es ist zwar nur schwererträglich für mich, dass du von nun an deine Zeit, an einem anderen Ort mit einer anderen Person verbringst, aber gleichzeitig ist das in Ordnung für mich, denn ich weiß, wie sehr du dich danach gesehnt hast.“ Sie drückt ihn fest an sich und streichelt ihm über den Nacken.

Für ein paar Tage geht Mika noch alleine zum Haus. Sie setzt sich in den Garten, das Wohnzimmer, die Küche, auf die Toilette, in den Keller, ins Arbeitszimmer, in die Abstellkammer. Manchmal hört sie Musik dabei, manchmal malt und schreibt sie mit einem Filzstift etwas an die Wände. Mal kleine Skizzen, mal die hässlichsten Beleidigungen, die ihr einfallen. Dann muss sie selbst etwas lachen. 

Später wird sie sich, wenn sie in ihrem Studentinnenzimmer zwischen leeren Glasflaschen und einem Haufen von Malblöcken sitzt, nur schwer an das Haus und die Zeit erinnern. Es ist fast wie weggewischt. Eine kurze Episode. Ein mehr oder weniger abgeschlossener Zustand. Sie hat natürlich das Bedürfnis, sich bei den anderen zu melden, zu fragen, wie es geht, wie es ist, was so los ist, wann sie sich wiedersehen, wo sie denn jetzt alle wohnen. Jedenfalls hat sie sich das schon öfter vorgenommen. Aber es ist, wie es ist. Sie hat zurzeit andere Sachen im Kopf und das ist gut so. 

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So hell, so wunderbar hell

Die Straße, in der Siedlung, auf dem Hügel, ist abgedunkelt. Das ist sie meistens. Nur vereinzelt stehen Straßenlaternen an der Seite. Ab und zu löst ein Bewegungsmelder aus und ein Haustüreingang wird flutlichthell angestrahlt. Vielleicht huscht eine Katze vorbei und wechselt die Straßenseite. Dann erlischt das Licht und alles ist wieder dunkel. 

In dieser Straße, in einem Haus, in einem Zimmer, ausgestattet mit Bett, Schreibtisch und Kleiderschrank, wohnt ein Kind. Es ist ein gewöhnliches Kind, würden die meisten sagen. In der Schule ist es den größten Teil der Zeit nicht auffällig. In der Schule hebt es zwar nur selten den Arm, das Lehrpersonal nimmt das aber so hin. Das Kind hat leider einen extrem weiten Weg zur Schule, weshalb es manchmal, unter Umständen, vorkommen kann, dass es diesen Weg, an dem ein oder anderen Tag, nicht auf sich nimmt. Das ist verständlich. 

Das Kind sagt: „Heute ist nicht der für mich geeignetste Tag, um diesen höllischen Weg zu meistern.“ Stattdessen nimmt das Kind eine Whatsapp-Sprachnachricht an die Mutter auf, denn der Vater ist nämlich, wie so oft, schon weg.

Der Inhalt der Nachricht lautet: „Hallo Mama, ich kann heute nicht in die Schule. Mir geht es wirklich nicht so gut. Ich bleibe zu Hause im Bett. Mach dir keine Sorgen.“ Das Ende der Nachricht wird von starkem Husten begleitet, um die Situation des Kindes akustisch zu verdeutlichen. 

Das Kind, das in dieser Straße, in einem Haus, in einem Zimmer, ausgestattet mit ockerfarbenem Teppichboden, einem bequemen Stuhl und einem Computer wohnt, ist ein absolut tolles Kind, würde die Mutter sagen. Der Vater hingegen schweigt. Es ist kein Kind aus einem Bilderbuch, das nicht, aber es ist ein Kind, das seinesgleichen sucht. Sagen wir, das Kind ist vielleicht doch nicht so gewöhnlich, wie zunächst angenommen. Das Kind ist ein Zeitreisender. Das Kind kann nicht nur die Zeit verlassen, es kann ohne Probleme den Ort wechseln. Das Kind ist gut ausgerüstet. Es ist flink und flexibel. Es ist ansprechbar und bereit. Das Kind hat natürlich auch einen Namen, es nennt sich selbst aber nur: rox95.

Das Kind versinkt im bequemsten aller Stühle, es lässt sich fallen und gehen. Mittlerweile kennt es keine Uhrzeiten mehr. Es fällt dem Kind teilweise sogar schwer, zwischen Tag und Nacht zu unterscheiden, denn das Lieblingsfeature im Zimmer des Kindes sind die Rollladen. Keine billigen Vorhänge oder durchsichtige Rollos. Echte abdunkelnde Rollladen. Das Kind liebt die Rollladen. Natürlich nur dann, wenn sie unten sind. Nicht, dass das Kind damit einen Lärm von draußen unterbinden würde, denn in der Straße, in der Siedlung, auf dem Hügel, ist es tagsüber und auch nachts extrem still.

Früher war das Kind im Sportverein. Es mochte gerne Schwimmen. Irgendwann wurde die Schwimmhalle geschlossen und seitdem steht, in der Ecke des Zimmers, eine kleine Tasche mit Badehose, Handtuch und Schwimmbrille. Das Kind hat nicht versucht ein neues Wasserbecken zu finden, denn jedesmal, wenn es in den Überlandbus steigen muss, wird ihm übel. Deshalb hat das Kind beschlossen, von dem Moment an, mehr Zeit auf dem bequemen Stuhl zu verbringen. Es war sicher kein einfacher Entschluss und eher aus der Not heraus geboren als eine wirklich bewusste Entscheidung. Das Kind sitzt nun Tag und Nacht auf dem Stuhl und es ist wirklich froh, dass es das Zimmer von innen heraus verschließen kann. Das ist fast so gut wie die Rollladen. 

Die Mutter kocht gerne für das Kind. Hühnerfrikassee oder Kartoffelbrei. Beides mag das Kind wirklich gerne. Es isst nur unregelmäßig, mal sehr wenig und in der Nacht dann schleicht es sich zum Vorratsschrank und stibitzt zwei, drei Packungen Essbares. Es ist auf leisen Füßen unterwegs und mit der Beute am Schreibtisch angekommen, klemmt es sich wieder die Kopfhörer über die Ohren. Es freut sich wirklich ungemein in diesem Raum zu sitzen. 

Das Kind ist, Tag wie Nacht, unterwegs. Es läuft, springt, fliegt, fährt, hüpft, rennt, versteckt sich, geht in Deckung. Die Hände sind dem Kind heilig. Ohne sie wäre es nichts. Ohne sie könnte das Kind nichts. Ohne sie wäre alles für die Katz. Das Kind ist wirklich fixiert. Wenn die Mutter anklopft, sagt das Kind durch die geschlossene Zimmertür: „Nicht jetzt Mama. Stör mich nicht. Ich bin gerade beschäftigt. Lass uns später reden.“ Manchmal werden die Wörter kürzer und die Stimme lauter. Die Mutter hat dabei ein ungutes Gefühl den Nachbarn gegenüber, deshalb unterlässt sie weitere Versuche der Kontaktaufnahme. Zum Glück klopft der Vater niemals an die Zimmertür. 

Das Kind kennt viele Leute und es unterhält sich sehr gerne. Das Kind erzählt nicht von den Tagen in der Schule, denn dort wo das Kind ist, ist es viel schöner. Es hört auch zu und antwortet ins Mikrophon hinein. Manchmal spricht es auch nur vor sich hin und die anderen hören zu. Es ist ein Austausch auf Augenhöhe. Das Kind sagt, es kennt keine Langeweile, denn dort, wo das Kind ist, gibt es immer was zu entdecken.

Das Kind liebt seinen Bildschirm und alles, was damit zusammenhängt. Nur manchmal scheint es technische Probleme zu geben. Einen Wackelkontakt, ein defektes Kabel oder ein Fehler im System. Das passiert zum Glück nur selten, aber es kommt vor. Das Kind ist dann erstmal völlig irritiert und handlungsunfähig. Es muss atmen und versuchen sich zu beruhigen. Es ist eine vollkommen schreckliche Situation. 

Es geht der Reihe nach alle möglichen Fehlerquellen durch. Es kriecht sogar auf dem Boden herum, um an die versteckten Kabel zu kommen. Es gibt sich größte Mühe die Funktionsfähigkeit wiederherzustellen. Das Kind ist drauf und dran das Problem zu beheben. Zwischendurch stößt es ein paar Schreie hervor. Es ist fast beängstigend, wie laut das Kind dabei ist. Mit Schweißperlen an Kopf und Hand übersät, gibt das Kind auf. Zwei, drei feste Schläge gegen den Bildschirmen und im Zimmer wird es mucksmäuschenstill.

Das Kind zieht entrüstet die Schuhe an und knallt die Wohnungstür hinter sich zu. Es stapft wortlos durch die Straße. Die Mutter ist noch nicht wieder da und der Vater natürlich auch nicht. So kann das Kind unbeobachtet die Straße verlassen. Das Kind streift durch die Siedlung. Es weiß nicht, was es machen soll. Hier und da wehen ein paar Vorhänge in den Fenstern. Es läuft vorbei an dem Sportplatz, der nur noch in ungeraden Kalenderwochen montags und donnerstags von 17.30 Uhr bis 19.45 Uhr geöffnet hat, vorbei an dem Spielplatz mit dem eingezäunten Klettergerüst, vorbei an dem Friedhof mit den offenen Grabstellen. Das Kind dreht seine Runde in der Siedlung. 

„Diese Stadt ist als Map eine Katastrophe“, sagt das Kind und verlässt die Siedlung. Runter vom Hügel und rauf auf den nächsten. Dem Kind schmerzt es schon ein wenig in den Beinen, so lange hat es sich nicht mehr richtig bewegt. Aber dem Kind ist das egal. Es muss weiter und es muss fort. Das Kind ist ab jetzt auf einer Quest. Es schnappt sich einen Stock vom Wegesrand und unterstützt damit seinen Gang.

Die Luft ist anders an diesem Tag. Vom Hügel herab kann das Kind auf die Stadt schauen, auf die drei, vier, fünf oder sechs brachliegenden Industrieanlagen, auf die Bundesstraße und den Fluss. Das Kind hat mit dieser Stadt rein gar nichts am Hut. Es dreht sich um, verlässt den Weg und klettert eine Böschung hinauf. Dort ist es sicher, von dort kann es weitergehen. 

Das Kind kraxelt durchs Unterholz. Endlich kann es alle antrainierten Skills anwenden. Die Tagesmission ist klar: bloß niemandem begegnen, bloß keine falschen Fährten legen, unerkannt bleiben. Nach etlichen Steigungen kommt das Kind zu einer Wanderhütte. Es setzt sich für einen Moment hin. Luft holen, Ruhe bewahren. Neben dem Mülleimer findet das Kind ein Feuerzeug. Drei, vier Mal muss es am Rädchen drehen, bis ein Funke entspringt. „So“, denkt sich das Kind. 

Es schließt die Hand fest um das Feuerzeug. Ein Item, das noch gefehlt hat. 

Der Wald ist trocken, obwohl noch nicht einmal Hochsommer ist. Der Wald ist fast das Schönste hier. Der Wald stirbt, denkt auch das Kind. Der Wald ist eigentlich schon tot. Was soll schon passieren. Das Kind dreht und dreht weiter am Rädchen. Es dreht und dreht. Es dreht mit aller Kraft, die es hat. Es dreht immer weiter und weiter und wartet bis zur Dämmerung. Das Kind will eigentlich nichts böses, aber das Kind will auch nichts zurücklassen. Das Kind will, dass es einmal in der Nacht richtig hell ist. 

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Traum von einem leeren Objekt

Mitten in der Stadt, die seit Jahren schrumpft, steht ein Center. Zwischen leergeräumten Kneipen und geschlossen Geschäften. Das Center steht einfach dort und verwaist. Es ist massiv und trägt den Namen Stapel-Center. Ich denke: „Wir sind doch nicht in LA.“ 

Die Konturen des abgekratzten toom-Schriftzugs sind noch zu erkennen. Ich drücke meine Nase gegen die Schiebetür. Das Gebäude scheint verwinkelt zu sein. Um die Dachkante sehen zu können, muss ich meinen Kopf ganz in den Nacken werfen. Ich laufe um das Center herum. Es gibt einen Seiteneingang mit Blick auf die Rolltreppe und einen großen Hintereingang mit Ladefläche und Parkplatz.

Das Center hat seit 2018 einen neuen Investor, der Leben in die Sache bringen will. Vier Jahre sind genug Zeit das auszuprobieren, deshalb versuche ich mit meinen Händen die Schiebetür aufzudrücken. Nichts. Ich setze nochmal an. Keine Chance. 

Aber: nehmen wir mal an, es wäre unser Einkaufscenter. Wir würden uns natürlich zunächst erst einmal Gedanken über einen neuen Namen machen. Wir würden die elektronischen Überwachungssysteme am Eingang abschaffen. Wir würden sagen: „Entschuldigen Sie, aber hier wird es nichts zu kaufen geben.“ Wir würden bunte Fähnchen in den Wind hängen, auf denen geschrieben stände: „WIEDERERÖFFNUNG JETZT BALD!“

Die Türen wären natürlich schon in der Umbauphase offen. Wir würden im Erdgeschoss beginnen. Es gäbe große Räume und viele Sitzmöglichkeiten, eine offene Küche und einen Kühlschrank mit Getränken. Wir würden uns erstmal eine kalte Limonade aufmachen, uns zusammensetzen und unsere Vorstellungen in den Raum werfen. Wir müssten erstmal reden. Von Sonnenuntergang bis Sonnenaufgang. Wir würden die Pros und Cons abwägen und uns zwischendurch lautstark unterhalten. Wir wären kurz davor, die Liste zusammenzuknüllen und einfach drauf los zu starten, weil wir denken würden: „Was soll schon passieren?“

Wir würden außerdem einen Brief an die Investorenfirma schreiben:

Sehr geehrte Geschäftsleitung,

vielen Dank, dass Sie sich die Mühe gemacht haben das ehemalige Stapel-Center (neuer Name folgt noch) zu kaufen und mit in Ihren Businessplan aufzunehmen. Wahrscheinlich haben Sie seit 2018 noch andere Dinge auf Ihrer Liste, weshalb Sie sicherlich noch nicht dazu gekommen sind sichtbare Maßnahmen umzusetzen. Das ist schade. Aber machen Sie sich keinen Kopf. Wir übernehmen ab hier.

Liebe Grüße und besten Dank!

Wir würden den Brief bei der Post nebenan abgeben und sagen: „Porto zahlt der Empfänger.“

Zurück im Gebäude würden wir uns entschließen, eine unvollständige Liste mit wichtigen Utensilien anzufertigen. Wir beginnen natürlich mit dem spaßigen Teil:

  1.  Fette Anlage
  2.  Cooles Licht
  3.  Nebelmaschine

Wir würden aber schnell feststellen, dass das nicht alles ist. Wir würden sagen: „Es gibt so unglaublich viel Platz hier.“ Also würden wir eine Liste mit Räumen anfertigen, die entstehen sollen:

  1. Raum für expressive Selbsterfahrung
  2. Raum fürs Schweigen
  3. Der Raum als Werkstatt
  4. Raum zum morgendlichen Wutentladung

Wir würden die Liste fortlaufend ergänzen und natürlich würden wir uns dagegen wehren, dass das Objekt zu einem feuchten Hippietraum verkommt, denn dafür sind wir nicht angetreten. Aber selbst für sie wäre Platz da. Und wenn jemand einwerfen würde, dass es sicherlich Probleme mit der Bauaufsichtsbehörde geben würde, wäre uns das egal, denn wir glauben nicht an Baugenehmigungen. Wir würden sagen: „Das sind nur Paragrafen. Das wird schon gehen so.“ 

Natürlich müssten wir uns zu einem gewissen Zeitpunkt darüber Gedanken machen, wer für die Anschaffungen aufkommen soll. Wir würden damit argumentieren, dass wir natürlich mit der Idee eine extreme Aufwertung für die gesamte Umgebung darstellen, dass wir im Gegensatz zu dem Investor wirklich Leben in die Bude bringen. Jemand würde dann sagen: „Das besprechen wir morgen. Jetzt gibt’s erstmal Bier.“

Und so würde es dann auch kommen. Es würde Bier getrunken werden, es würde Musik über eine viel zu kleine Bluetooth-Box mitten in dem ehemaligen Supermarkt laufen. Zum Beispiel dieser Song hier: Walking on A Dream – Empire of the Sun

Im Morgengrauen würde sich die Gruppe dann trennen. Es würde noch ein bisschen auf den leeren Straßen herumgeschrien werden und am nächsten Morgen würde jemand in die Gruppe schreiben: „Wann denn heute? Bin ganz schön platt.“ 

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Das Haus und seine drei MMM

Der folgende Text „Das Haus und seine drei MMM“ ist von Lene B. und im Rahmen des Literaturateliers Südwestfalen entstanden.

Aus einer Regionsschreiberin werden viele, und dazu noch Geheimnisse über Häuser und ihre Bewohner verraten!

Häuser sind wie Lebewesen, nur aus Stein, von Menschen erschaffen: Die Fenster sind Augen, die alles beobachten, die Türen sind Münder, die verschlingen und wieder ausspucken und dass Wände Ohren haben, ist hinlänglich bekannt. Außerdem haben Häuser ein Gedächtnis, das sich entweder im Keller, auf dem Dachboden oder im Schuppen befindet. Leider spucken die Münder keine Worte aus und das Gedächtnis ist oftmals von den Bewohnern geplündert, was aber bleibt, das ist die Aura. Ich bin überzeugt davon, dass Häuser ein Karma haben, ein gutes oder ein schlechtes, je nachdem, was sie so gesehen, gehört und gefressen haben. Und eine Aura, je älter das Haus ist, desto geheimnisvoller. Standardisierte glatte, saubere Neubauten, eher ein paradoxes Zeugnis unseres zeitgenössischen Individualismus, müssen sich ihre Aura erst noch erarbeiten. Wir wohnen in einer etwas älteren Villa. Villen und schöne Häuser aus der Zeit der Jahrhundertwende gibt es viele in dieser Stadt – der Zweite Weltkrieg hat sie unversehrt gelassen und mit Ausnahme von Häusern, die durch Modernisierungswahn oder Zerfall zerstört oder entstellt wurden, ist der alte Baubestand fast durchgehend vertreten. Es gibt prachtvolle Unternehmervillen und hübsche Jugendstil-Bürgerhäuser. Aber dieses Haus ist weder das eine noch das andere, es ist definitiv anders und wir haben tatsächlich schon viele Villen und alte Häuser jedweder Sorte von innen und außen gesehen. Der Stil ist eine Mischung zwischen dem damals modernen Heimatschutzstil, traditioneller Villenarchitektur, außen und innen sichtbare Anklänge an die Idee der Reformpädagogik und die Schlichtheit des Bauhauses.

Außerdem steht das Haus nicht, es residiert, wie es sich für ein Haus mit einer äußerst ehrwürdigen Anschrift, gehört. Damals, zur Zeit seiner Erbauung war es bezogen auf die Straße tatsächlich das allererste Haus am Platz. Errichtet auf einer der höchsten Erhebungen des damaligen Stadtgebiets, etwas außerhalb an einer frisch gekürten Lindenallee, die zu einem kurz vorher errichteten Denkmal führte. Dadurch hatte das Haus einen nahezu unverstellten Blick auf die Innenstadt, wäre dies heute noch der Fall, so könnte das Haus mit beinah allen Türmen des Ortes Blickkontakt halten. Heute müsste sich das Haus etwas verbiegen oder einen Schritt beiseitetreten, was es aber nicht kann, da sein Fundament fest in der Erde verankert ist. Hoffentlich. Umgekehrt ist das Türmchen mit dem kupfernen Turmhelm, das sich an das Haus schmiegt, von etlichen unbebauten und unbewaldeten Punkten der Stadt aus sichtbar, vor allem wenn die Sonne scheint und die Zinnhaube, die roten Dachziegeln und die frisch gestrichene, in einem hellen Muskatton gehaltene Hauswand leuchten lässt. Und das Haus lässt sich gerne und lange von der Sonne bescheinen: Morgens wärmt die aufgehende Sonne das Portal und die vordere Fassade, um einmal um das Haus zu tanzen, die andere Hälfte den ganzen Mittag und Nachmittag lang von Süden und Westen aus zu bestrahlen und dann gegen Abend die Rückseite mit dem Garten in ein rotes Licht zu tauchen. Man könnte das Haus als eines der wenigen Nutznießer der Klimaerwärmung bezeichnen, vor 150 Jahren waren auch in  hier die Sonnentage weniger und dafür die Regentage mehr. Offensichtlich leiden die Alleebäume heute wesentlich mehr unter den veränderten klimatischen Bedingungen der letzten Jahre.

 

Doch auch, wenn es so hoheitlich tut, das Haus ist ein Scheinriese: Von der Hauptstraße aus betrachtet zeigt es ein schlichtes, hochgewachsenes Antlitz mit einem Balkonerker und einem kastenförmigen Anbau. Geht man die Allee entlang, von wo aus der Eingang erreichbar ist, schrumpft das Haus in sich zusammen, dafür rückt sich der Turmerker ins Blickfeld. Ein typisches Element der Villenarchitektur jener Zeit und an dieser Stelle deshalb so auffällig, weil der Betrachter dadurch ein völlig neues Bild vom Haus bekommt. Neben dem Turm tut sich das Eingangsportal auf, von schlichten runden Säulen getragen, der Blick wird direkt auf die bunten, Art Deco-artigen Bleiglasfenster gelenkt, die den inneren Treppenaufgang zu den oberen Gemächern markieren. Das Portal wirkt gerade nicht beeindruckend-abschreckend, sondern warm und einladend. Breit ist das Haus von der Eingangsseite nicht, vom Portal aus sind es nur fünf Schritte bis zur Rückseite des Hauses mit Zugang zum großen Garten. Von dort aus wirkt das Haus klein: tief heruntergezogenes Dach, schlicht, von der Küche ist der Zugang zum Garten ebenerdig. Ebenso schlicht wie erhaben wirken die inneren Räumlichkeiten: keine besonders großen, aber viele Räume, natürlich mit hohen Decken, jedoch ohne Stuck. Dafür alles schön verwinkelt, viele runde Ecken. Der Erbauer des Hauses hatte wohl einen sehr eigenen, aber durchaus guten und modernen Geschmack.

 

Mit der Zeit hat das Haus ein Eigenleben entwickelt und bisweilen etwas sonderbare Anwandlungen – wie ein älterer Herr, der so seine schrulligen Eigenarten entwickelt. Bei starkem Regen bildet sich im Keller ein kleines Rinnsal, das irgendwo auftaucht, irgendwo abfließt und so schnell verschwindet wie es aufgetaucht ist, ohne dass Schaden entsteht. Schief ist es außerdem, jedoch nicht sichtbar, fast unmerklich. Die Schrägen fallen nur dann auf, wenn man versucht, Möbel gerade auszurichten, was selbst nach stundenlangem Messen und dem Einsatz der Wasserwaage nicht wirklich gelingt. Schief ist eben schief, bleibt schief und zwingt anderes dazu, auch schief zu sein. Immerhin hat sich dieses Haus um dieses Privileg, schief und schräg sein zu dürfen, durch 150 Jahre langes Ausharren verdient gemacht. Der hölzerne Treppenaufgang schwingt beim Hoch- und Heruntergehen auch schon sehr verdächtigt mit, zeigt Risse und gewisse Neigungen. Kein Wunder, es ist ja kaum abzuschätzen, wie viele Beine dort schon hoch- und heruntergestapft sind. Bei uns sind es die Knie, die irgendwann schlapp machen, bei den Häusern die Treppenstiegen. Eine Eigenart, die bei uns allerdings auf wenig bzw. gar keine Gegenliebe stößt ist, dass sich das Haus regelmäßig zu schütteln scheint, um damit den Staub der Jahrhunderte aufzuwirbeln. Noch nie habe ich in einem so staubigen Haus gewohnt. Trotz unserer intensiven und hand- sowie nervenaufreibenden Grundrenovierung vor dem Einzug hat sich der Staub irgendwohin zurückgezogen, um dann in voller Pracht wieder hervorzutreten. Egal wie sehr man hinter den Wollmäusen herjagt, für jede gefangene kommen einen Tag später drei neue aus unsichtbaren Löchern hervor.

 

Neben dem Staubaufwirbeln, Wasserlassen und seiner Schräglage scheint das Haus zudem eine weitere Vorliebe zu haben, nämlich die für Besitzer, deren Nachnamen mit M beginnen.

Herr Müller, der jetzige Hausbesitzer und Bewohner der unteren, der „Belle Etage“, hat das Haus vor über zehn Jahren einem Fabrikanten abgekauft, dessen Fabrik in Sichtweite ca. 800 m weiter die Straße abwärts stand und vor ein paar Jahren abgerissen wurde. Mittlerweile steht dort ein Baumarkt. Nur noch ein paar Meter alte Gleise eines alten Bahnanschlusses zeugen davon, dass hier mal ein produzierendes Unternehmen seine Ware verladen hat. Der damalige Hausbesitzer und Unternehmer, Walther Mayer, gehörte ganz offensichtlich nicht zu der Hautevolee der Industriellen der Stadt, taucht dementsprechend in den Abhandlungen zur Wirtschaftsgeschichte nicht auf. Ebenso führt das Haus ein von der Lüdenscheider Architekturgeschichtsschreibung als auch von der Denkmalpflege unentdecktes Dasein, als ob es auch die Fähigkeit besitzen würde, sich tarnen zu können – oder hat es doch was zu verbergen?

 

Dafür ist jedoch die mündliche Überlieferung sehr rege, gefühlt ist jeder „Ur-Einwohner“ dieser Stadt hier schon einmal durchs Wohnzimmer gelaufen. „Ah, das Haus von Mayers, da wohnt ihr jetzt drin“. Die „Mayers“ schienen eine sehr soziale Unternehmerfamilie gewesen zu sein: viele Kinder vor allem in den Kriegs- und Nachkriegszeiten wurden von „den Mayers“ durchgefüttert und mit Süßigkeiten versorgt. Jetzt ist es ein Müller-Haus und unsere Vermieter pflegen ein herzliches Verhältnis zu ihren Mitmenschen.

Wir sind denn also in ein sonderbares, aber zugleich offenes Haus eingezogenen, das mittlerweile ziemlich viele Bewohner beherbergt. Unten wohnen die beiden stolzen Hausbesitzer, die dritte und vierte Etage haben wir mit zwei Erwachsenen und zwei pubertierenden Mädels in Beschlag. Dazu vier mongolische Wüstenrennmäuse, verteilt auf drei nicht gerade kleine Nagarien in drei Zimmern, das Ergebnis eines missglückten Vergesellschaftungsversuchs und raumgreifender Zeuge dessen, dass Mäuse nicht anders als Menschen sind: man kann miteinander oder halt nicht. Mittlerweile haben aber alle Mäusedamen ihr Begegnungstrauma überwunden und ihre persönlichen Nischen gefunden: Die zur Fülligkeit neigende Esther wohnt im Jugendzimmer, die zur pingeligen Reinlichkeit neigende „Maus“ durfte sich im Büro niederlassen und Team Corona und Influenza genießen ihre Zweisamkeit in der Wohndiele mit allem Wohl und Weh. Im Garten sind mit Linda, Rosa und Bianca letztes Jahr drei gefiederte Marketingexpertinnen eingezogen: jedes gelegte Ei wird mit lautstarkem Gegacker kommentiert. Und wenn es mit dem Legen mal nicht klappt, wird trotzig darüber hinweggeschwiegen.

 

Genau genommen, hat sich das Haus zu einem ganzjährigen Biotop mit einer erstaunlichen Artenvielfalt entwickelt: Im Frühjahr brüten die Vögel um und an dem Haus. Bis Sommer letzten Jahres haben wir eine Meisenfamilie unter meinem Bürofenster, das zur Dachterrasse hin gelegen ist, geherbergt. Die Meisen haben sich allerdings als Untermieter nicht besonders gut betragen. Papa Meise hat uns, wenn wir auf der Terrasse saßen, immer aufs Übelste beschimpft. Außerdem haben die Vögelchen in ihrem Nest offensichtlich so randaliert, dass hinter der Schieferwand der Inhalt des alten Fachwerks abgebröselt ist. Somit musste unser Vermieter die Meisenwohnung verschließen. Ich vermisse Papa Meise trotzdem. Vermutlich hat die Meisenfamilie wie die zig anderen Vogelarten in einer der vielen umliegenden Vogelhäuser, Bäume oder Hecken ihren Platz gefunden. Die Miete wird in Gezwitscher und Geträller abgegolten.

Im Sommer machen sich dann die Wespen breit. Jedes Jahr bauen sie ihr Nest an einer anderen Stelle am Haus, Nischen gibt es ja schließlich genug. Warum sollten sie auch wegziehen, schließlich werden sie von uns am Frühstückstisch immer mitversorgt. Gierig sind sie, diese schlanken zierlichen Kampfflieger, ganz flau wird einem schon, wenn man beobachtet, mit welchem zähen Eifer Riesenstücke aus dem Schinken geschnitten und dann zwischen den Beinen abtransportiert werden. Ist auch kein Problem, wir haben genug. Als Dank dafür erwarte ich nur, nicht gestochen zu werden, was nicht immer so verstanden wird. Als jedoch ihre Majestät sich diesen Herbst in unserer Wohnung eine Bleibe suchen wollte, da haben wir sie rausgeschmissen. Genug ist genug und die Befürchtungen, den hohen Ansprüchen einer Wespenkönigin nicht gerecht werden zu können, war dann doch zu groß.

In den Ritzen des Hauses, zwischen den  Schieferplatten, in den Mauern, in dem Gartenboden und in dem sich über die halbe Schuppenwand ziehenden Insektenhotel nisten die kleinen Erd- und Mauerhummeln und die dicken Mauerhummeln, die sich wie die Wild- und Honigbienen ihre Bollen und Leiber an unseren Blumenbuffet auf der Terrasse vollladen. Die Entlohnung für den Vermieter: Allerlei Gesumme und Gebrumme und possierliche Eskapaden, die dicke, allzu beladene Hummeln vollbringen. Neben verschiedenen Arten von Schmetterlingen gehört sogar ein Taubenschwärmer zu unseren Blumenkübel-Tafelgästen. Eigentlich sind Taubenschwärmer in wärmeren südlichen Gefilden beheimatet, haben aber infolge der Klimaerwärmung ihren Lebensraum etwas ausgedehnt. Zweitausend Kilometer fliegen diese kleinen, einem Kolibri ähnlichen Geschöpfe jedes Jahr in den Süden hin und zu uns wieder zurück. Unglaublich. Die Zikaden haben ebenfalls aus südlicheren Gefilden Einzug gehalten, allerdings in Scharen. Sie sitzen in den Rhododendren, und ihr um Aufmerksamkeit heischendes Gezirpe in lauen Sommernächten grenzt an Lärmbelästigung. Zum Glück sind sie für uns weit genug weg und haben sich noch nicht auf unsere Dachterrasse vorgewagt. Im Gegensatz zu ihrem Artverwandten, das Heupferdchen, das abends plötzlich auf dem Nachttisch neben meinem Bett saß und mich dreist anstarrte. In dem Moment fühlte ich mich doch etwas wie die Prinzessin im Märchen „Der Froschkönig“. Ich tat es ihr auch gleich, nur dass ich das Heupferdchen raus- und nicht gegen die Wand schmiss. Die Besuche reißen auch im Herbst nicht ab: dicke fette Hausmutterraupen in der Petersilie auf dem Küchenboard, Marienkäfer, die in den Falten unserer Vorhänge ihr Winterrefugium suchen. Im Winter beherbergen wir verschiedene frierende Spinnen in den unzähligen Zimmerecken. Die Decken sind hoch und wir haben keine Lust, uns ständig nach derselbigen zu strecken, so haben die kleinen Krabbler ihre Ruhe vor uns. Die Stubenfliegen erwähne ich nur kurz, die nerven einfach nur. Die einzigen Viecher, die wirklich meinen Unwillen erregen, sind die Lebensmittelmotten, die, ich weiß nicht wie, klammheimlich unseren Lebensmittelschrank bevölkern, um sich im Mehl-, Nudel- und Reisvorrat bequem zu machen. Dass die Tiere sich ihren Lebensraum wieder zurückerobern, kann ich verstehen, aber warum haben sie sich dieses Haus dafür ausgesucht?

 

Letztes Jahr hat unser Vermieter mit Verschönerungsarbeiten begonnen: Abgesehen davon, dass das Haus jetzt in einem hellen Muskat erstrahlt, wurden im Eingangsportal neue, helle Sandsteinplatten verlegt. Beim Ausschachten des Eingangsbereiches wurde ein alter Herrenschuh geborgen, der trotz des Verrottungszustands noch erkennen ließ, dass es sich hier um einen eleganten, zu dieser Zeit modernen Herrenschuh handelte. Ich schloss auf Abwehrzauber – ein in dieser Gegend eigentlich sehr unübliches Ritual, beim Hausbau Schuhe vor der Türschwelle mit der Spitze nach vorne Richtung Ausgang zu vergraben, um das Böse abzuwehren. Kein Wunder, dass das Haus unter solch einem guten Stern steht – dachten wir alle zumindest. Natürlich haben die glücklichen Hausbesitzer vor diesem Hintergrund den Schuh tunlichst wieder an seinen angestammten Platz  „in situ“ vergraben lassen, natürlich mit der Spitze nach vorn, damit das Unglück weiß, wohin es gehört. Herr Mayer muss wohl sehr abergläubig gewesen sein, ungewöhnlich für einen pragmatischen  Unternehmer, urteilte ich etwas vorschnell. Kurz nach der feierlichen Schuhbestattung vertraute mir unser Vermieter zu Forschungszwecken seinen Ordner „Hauskauf – Ordner 2: Baugeschichte“ an, denn Herr Mayer war gar nicht der Häuslebauer. Beim ersten Sichten der Kopien aus dem Archiv des Bauamtes tauchte ein weiteres M in der Geschichte des Hauses auf.

 

Das dritte M, der Hausbauer Heinrich Matzke, müsste eigentlich von der chronologischen Abfolge her als erstes M gezählt werden, in unserer Wahrnehmung trat er aber als Letzter auf den Plan und erweckte mit seiner offensichtlich verhaltenen Existenz meine Neugier. Wer war er, dass er so ein „anderes“ Haus erbauen ließ, warum der vergrabene Schuh und warum hinterließ er  in der kollektiven Erinnerung der Hausgeschichte keine Spuren? Irgendetwas triggerte mein wissenschaftliches Jagdfieber, Herr Matzkes Schuh wurde wieder angemessen begraben, aber ich heftete mich dennoch an seine Versen. Wie nötig der gute Mann den Abwehrzauber hatte, konnte ich da noch nicht ahnen, auch nicht, dass ihn dieser Schutz schnell verließ, als er das Haus bereits nach 10 Jahren verkaufte. Auch nicht, warum ihn die  Geschichtsschreibung der Stadt ebenso vergessen hatte dieses Haus, das eigentlich alles andere als unsichtbar und unauffällig ist – ebenso wenig unauffällig wie der Bauherr und sein Schicksal, das sich mir peu á peu entblätterte wie sich der  Putz alter Häuser löst bis das nackte Mauerwerk hervortritt.

Mehr von Barbara Peveling

Here Comes The Sun

Der folgende Text mit dem schönen Titel „Here Comes The Sun“ ist von Sandra Scherer und entstand im Rahmen des virtuellen Literaturateliers Südwestfalen.

Aus einer Regionsschreiberin werden viele, schöner könnte der Abschied nicht sein!

An einem trüben Novembermorgen sitze ich mit einer Tasse Tee an meinem Schreibtisch im Corona-Homeoffice. Im Hintergrund streamed mein Bluetooth-Lautsprecher „Here Comes the Sun“ von den Beatles.

Meine Gedanken schweifen ab. Auf dem Kamin steht das Schwarzweiß-Foto einer jungen glücklichen Familie, das Anfang der 70er-Jahre aufgenommen wurde. „Diese Familie, das waren wir.“, sinniere ich, „Lange ist’s her…“

Ich denke zurück an meine frühe Kindheit in Buschhütten. Wir wohnten in einer kleinen Werkswohnung unter dem Dach, zu der auch ein weitläufiger Garten gehörte. Den ganzen Tag spielte ich mit einer Horde von Kindern aller Altersklassen und verschiedener Nationalitäten auf der Straße und hinter den Häusern. Die älteren Leute saßen draußen auf den Bänken, schauten uns beim Spielen zu und unterhielten sich oder schälten Kartoffeln.

Manchmal bauten wir kleine Flöße und ließen uns damit auf dem nahegelegenen Bachlauf treiben. Manchmal streunten wir aber auch nur so durch die Gärten und aßen die frischen Erbsen von den Sträuchern der Nachbarn. Im Winter fuhren wir Schlitten an einem Hang direkt an der Straße. Es war eine unbeschwerte Zeit für uns Kinder der 60er/70er-Jahre. Eine Zeit, in der von sogenannten „Helikoptereltern“ noch keine Rede war.

„Here Comes the Sun“, erklang es auch schon damals aus dem analogen Radio, während ich in einer Ecke der Küche spielte und meine Mutter singend mit dem Kochgeschirr hantierte.

Nein, vermögend waren wir damals nicht. Mein Vater, der aus der Pfalz stammte, war Former von Beruf. Er besuchte gerade die Technikerschule in Stuttgart, um für sich und seine Familie eine Existenz aufzubauen. In seiner Heimat, einer sehr schönen Kleinstadt namens Meisenheim mit freundlichen Menschen, gab es leider nur wenig Arbeit und so hat es ihn schließlich ins Siegerland verschlagen.

Meine Mutter war damals eine sehr attraktive junge Frau in den Zwanzigern, und sie hatte diese Art von Stärke, die man nur von Menschen kennt, die schon viel erlebt haben und schon sehr früh in ihrem Leben Verantwortung übernehmen mussten. Sie war eine Kämpfernatur, die sich immer für die Schwachen einsetzte, oder wie meine Mutter von sich selber sagte: „ein Gerechtigkeitsfanatiker“. Vielleicht hat sie diese Stärke ja in ihrer schweren Kindheit erworben. Denn: “Was uns nicht umbringt macht uns nur stärker“. So lautete einer ihrer Lieblingssprüche.

„Little darling, it’s been a long, cold, lonely winter“, singen die Beatles weiter. Ein langer, kalter, einsamer Winter… So hat es sich wohl angefühlt, als meine Oma damals das Haus ihrer gutbürgerlichen Familie im niederschlesischen Hirschberg fluchtartig verlassen musste, um zusammen mit ihren zwei kleinen Kindern und ein paar Habseligkeiten im Gepäck auf die große Reise zu gehen.

Ein eiskalter Winter war es auch, als die Rote Armee im Februar 1945 nach Niederschlesien vordrang. Die Familie meiner Oma besaß eine Baude im Riesengebirge, die Wiesengrundbaude. Als meine Oma von der Ankunft der Russen erfuhr, setzte sie ihre zwei kleinen Kinder in einen Hundeschlitten und schickte Leo, ihren treuen Schäferhund, alleine mit ihnen zur Baude, wo ihre Tante die Kinder in Empfang nehmen konnte. Dort waren sie erst einmal in Sicherheit. “Lauf Leo, lauf zur Baude“, rief meine Oma. Und Leo rannte, als ginge es um sein Leben. Der Hund kannte die Strecke im Schlaf und meine Oma vertraute dem Tier blind.

Glücklicherweise durften sie doch noch etwas länger in Schlesien bleiben. Die obere Etage ihres Hauses war inzwischen schon von Polen besetzt und bis zu ihrem Tode erzählte meine Oma immer wieder die Geschichte, dass die Polen ihr handgeschnitztes Treppenhaus verfeuert hätten.

Doch etwa im Jahr 1946/47 mussten sie ihre Heimat endgültig verlassen.

Es war ein langer Weg, und er führte sie durch einige Lager in der Ostzone, die unter der Aufsicht russischer Soldaten standen. Sie wurden sehr schlecht behandelt und schlimme Dinge ereigneten sich dort – auch vor den Augen der Kinder. Später sprach man darüber nicht mehr.

Bei Oschersleben, wo sie eine vorübergehende Bleibe im Haus einer Lehrerin gefunden hatten, gab es einen wasserführenden Kanal, den sogenannten „großen Graben“. Ihn zu durchqueren, das war der Weg in die Freiheit, der Weg in den Westen. Doch die Durchquerung des Grabens war lebensgefährlich, denn er wurde von bewaffneten Soldaten bewacht.

Es gab viele, die noch aus dem Osten nach drüben fliehen wollten; und meine Oma musste sich und zwei Kinder ernähren. So kam es also, dass meine Mutter im Alter von 5 Jahren in ihrem besten Kleid und schon damals ihrer Wirkung auf andere bewusst, einen russischen Soldaten becircte: „Du hast aber ein schönes Pferd… Darf ich das mal reiten?“, fragte sie, während sie innerlich vor Angst zitterte. Verzückt von dem süßen Mädel ließ der Soldat meine Mutter aufsitzen und führte das Pferd am Zügel entlang des Kanals. Er unterhielt sich mit ihr und erzählte ihr, dass er auch eine kleine Tochter habe und zeigte ihr Bilder von seiner Frau und seinen Kindern, die weit weg im fernen Russland lebten und die er sehr vermisste.

Unterdessen schlich meine Oma unbemerkt im Halbdunkel mit einem Gefolge von Flüchtlingen im Schlepptau durch den Graben. Sie mussten vorsichtig sein und durften sich nur langsam bewegen, um keine Geräusche im Wasser zu verursachen. Als meine Oma sicher von ihrer Mission zurückgekehrt war, sagte meine Mutter unvermittelt: „Tschüss, ich muss jetzt gehen“, sprang vom Pferd und lief in Richtung eines erleuchteten Bauernhofes, wo sie behauptet hatte zu wohnen. Auf halbem Weg drehte sie sich noch einmal um: „Morgen komme ich wieder!“ Der Soldat winkte ihr nach.

Die lange Reise, auf der meine Mutter ihre Kindheit verloren hatte, verschlug sie schließlich in das Siegerland. Der Empfang hätte kälter nicht sein können. Siegen war ausgebombt. Es gab schon für die Einheimischen zu wenige Wohnungen und das letzte was man jetzt noch gebrauchen konnte, waren Flüchtlinge.

Aber all dies gehörte zu der Zeit, als ich in Buschhütten das Licht der Welt erblickte, längst der Vergangenheit an. Man stürzte sich in das Wirtschaftswunder und nutzte die Chancen, die sich boten. Davon, dass in Deutschland noch 20 bis 25 Jahre zuvor ein Weltkrieg getobt hatte, war zu dieser Zeit nichts mehr zu spüren. Und vielleicht war das auch der Grund, weshalb wir Kinder, eine so unbeschwerte Zeit genießen durften. Es war die Zeit der 68er, der Befreiung und der Abkehr vom Spießertum der 50er-Jahre.

Manchmal erzählten einem alte Opas von ihren Kriegserlebnissen, doch es hörte sich eher nach einem riesigen Abenteuertrip an. Mein Pfälzer Opa berichtete von einem langen Marsch bei minus 50 Grad durch Russland bis in den Ural. „Dawei, dawei“…. weiter, weiter sagten die Russischen Soldaten immer wieder, denn wer hinfiel, der stand nicht wieder auf. Der Weg war gepflastert von Leichen.

Mein schlesischer Opa, der sich von meiner Oma getrennt hatte, weil er im Lazarett eine Krankenschwester kennengelernt hatte, erzählte, dass auch er in russische Gefangenschaft geraten war. Glücklicherweise sei er aber ein guter Schachspieler gewesen, und die Soldaten hätten immer mit ihm spielen wollen. So hat er sich schachspielend durchgeschlagen, für ein Butterbrot und Wodka.

Inzwischen sind schon 50 Jahre vergangen, in denen ich gefühlte 100 Mal umgezogen bin, in verschiedene Wohnungen und in verschiedene Städte wie Bonn, Berlin oder auch Baku.

Aber irgendwann zog es mich dann doch wieder zurück in meine Siegerländer Heimat, wo ich jetzt rein zufällig in derselben Buschhüttener Firma arbeite, in deren Werkswohnung mein Leben dereinst begann.

Die Sonne scheint nun in mein Corona-Homeoffice und aus der Bluetooth-Box tönt „Here comes the sun, and I say: It’s all right“. Alles ist gut – eines Tages – bestimmt…, denke ich. „Alles wird gut“, sagte meine Mutter immer.

„Sun, sun, sun, here it comes“.

Ich muss jetzt den Tisch decken. Meine Tochter kommt gleich aus der Schule. Meine Sonne.

Mehr von Barbara Peveling