Heimat-Hexen

Immer wenn es knallt, sitzt die Hexe in ihrer großen Wolke über unserem Haus und beim nächsten Leuchten fährt sie herunter, so viel ist sicher, direkt zu uns in die Höhle, die wir uns mit Decken unter dem Wohnzimmertisch gebaut haben. Hörst du den Regen, wie er gegen die Fenster schlägt? So spielten wir oft, meine Schwester und ich, wenn es ein Gewitter gab in dem Haus auf dem Hügel, wo wir aufgewachsen sind.

Wir spielten, um uns gegenseitig die Angst zu nehmen. Aber auch, um sie uns zu machen. Wir beschworen wilde Emotionen wie ein Mantra, damit wir unsere Gefühle, dieses unbekannte Territorium, lernten zu beherrschen. Wir behexten, verhexten uns gegenseitig und konnten dann später nicht einschlafen. Wir rieben uns an Widerständen, suchten nach Abwechslung und verbrannten unsere Kinderseelen daran. Wir gaben uns jeder vorbeischwirrenden Aufregung hin, weil das eben so ist bei Kindern und die Exzitation überhaupt das Leben erst lebenswert macht und die Hexe über dem Dach, fuhr definitiv beim nächsten Donnerschlag zu uns herunter und in uns hinein.

Jahre später saß ich auf einer sehr engen und unbequemen Holzbank einer Universität, an der schon Leute wie Ludwig Uhland studiert hatten und hörte eine Vorlesung über Hexerei in Zentralafrika. Auch die Menschen dort beschworen die Angst, befragten Orakel oder beschuldigten andere, gezaubert, oder sogar sie verzaubert zu haben. Als Evans-Pritchard 1937 sein Hexerei, Magie und Orakel bei den Zande herausgab, bestand seine für die Wissenschaft revolutionär gesehene Leistung darin, das magische Denken fremder Gesellschaften in seinem Bestand ernst zu nehmen. Das sind keine Wilden, die Denken auch, eben nur anders als wir! Das magische Denken lässt sich sozusagen mit dem rationalen Denken westlicher Gesellschaften gleichsetzen, es ist ihm nur ein wenig hinterher, anders eben. Dabei hat Evans-Pritchard auf die innere Logik des Glaubens an Hexerei und Magie hingewiesen, die in der Vorstellungswelt und der gesellschaftlichen Wirklichkeit vieler afrikanischer Gesellschaften einen festen Platz hat. Sein Werk wird noch heute als bahnbrechender Versuch gesehen, fremde Denksysteme auf die ihre eigene Logik hin untersuchen und damit ihre Vorrausetzungen explizit zu machen. Bei den Zande, erklärte Evans-Pritchard, diente Hexerei als Element, um unglückliche Erfahrungen im Alltagsleben zu bewältigen.

Orientalismus, würde Edward Said sagen und damit den Begriff bezeichnen, der die Art und Weise benennt, mit der westliche Denksysteme sich bemühen, dass ihnen Unbekannte, so genannte Fremde, zu kategorisieren. Eigentlich wollen wir im Westen ja verstehen, was wir nicht begreifen können, weil das Andere eben nicht zum eigenen Horizont gehört. Wir möchten ja nichts Böses sagen, nicht verletzen oder urteilen, wir sind bemüht wohlwollend und politisch korrekt zu sein, wenn anders schreiben, dann setzen wir logisch ein. Und alles ist gut? Traumpfade, hat Bruce Chatwin seinen Roman über die geistige Landkarte der Aboriginis genannt und doch an deren eigenen Kulturverständniss zu schmerzhaft vorbei geschrieben.

Als Ethnologie-StudentInnen in unserer engen Holzbänken, waren wir sehr bemüht, das fremde Denksystem zu verstehen und das, obwohl die Bänke sehrunbequem waren, aber eben doch sehr wichtig, weil Uhland, Walser und sonst wer schon hineingefurzt hatten. Indem die Dinge benannt werden, machen wir uns sie vertraut, übernehmen sie, wir eignen sie uns an, sei es die Hexerei der Zande oder eben die alte Holzbank von Uhland.

Irgendwann später tauchte Hexerei in Form eines kleinen Jungs mit Narbe auf der Stirn auf und machte Magie auch für Westler wieder salonfähig. Diesmal aber nicht in der realen, sondern nur in der imaginären Welt, für Minderjährige geeignet. Auch meine Kinder träumen davon, selbst magische Kräfte zu besitzen, rufen sich gegenseitig Zaubersprüche zu, am liebsten natürlich Avada Kedavra, und genießen dann, dass dabei einfach nichts passiert.

Die schwarze Magie, lateinisch maleficium, wird auch Schadenszauber genannt,  in den Büchern über die Frühe Neuzeit, der historischen Epoche, in der die sogenannten Zaubereiprozesse in Europa praktisch boomten, stand Schadenszauber meist an erster Stelle, war somit eine entscheidende Grundlage, damit jemand angeklagt, vor Gericht gebracht wurde. Selbstverständlich auch Tanzen in der Nacht. Dem Teufel begegnen, oder sich an Orten aufgehalten haben, an denen Vieh oder Mensch krank wurden, waren definitiv verdächtige Handlungen gewesen und führten meist zu Verhaftungen.

Wer von anderen angeklagt war, wurde mit dem Schandkarren abgeholt, durchs Dorf gefahren und vor Gericht gebracht. Anrüchig war in den vor allem ländlichen Gesellschaften jegliches von der Norm abweichendes Verhalten. Sex ohne Ehe zum Beispiel gehörte dazu, Menschen, die anders aussahen, eine Behinderung hatten, gerne wurden dann auch die Mütter angeklagt, so wie Trina Schmidt. Sie hatte zwei Kinder mit Gendefekt und wurde von ihrem eigenen Vater beschuldigt, diese verzaubert zu haben. Trina Schmidt fiel dem kurkölnischen Gericht in Bilstein zwischen 1629 und 1630 zum Opfer, in dieser Zeit wüteten die Zaubereiprozesse in Südwestfalen besonders schlimm. Ein Ort, der an diese Zeit erinnert ist der Hexenturm in Olpe.

Als Kind hatte ich immer Angst vor dem Hexenturm. Dabei wusste ich lange nicht mal genau wo er wirklich stand, ich vermutete, dass die Hexen hinter dem Gitter verbrannt worden waren, wo die Statuen der Heiligen standen, dann wieder dachte ich, dass es der Turm, an dessen Seite diese Steinfigur mit Flügeln hing, doch dieser niedliche Kopf an der Seite gehörte nicht zum Hexen- sondern zum Engelsturm. Der eigentliche Hexenturm stand weiter hinten, weniger nah am Kirchplatz als die anderen historischen Gebäude.

Gebaut wurden solche Türme ursprünglich als Teile von Stadtmauern. Begriffe und Bedeutungen wie Engel oder Hexe wurden ihnen erst später zugeschrieben. Sie wurden ihnen aufgrund von Ereignissen, Geschehnissen und Zufällen  im Laufe ihrer Existenz  angedichtet. Das Verhör eines Menschen, dem magischen Kräfte zugeschrieben wurde, bestimmte die Zukunft eines Ortes, genau wie Worten zwischen Menschen auch manchmal bedeutende Folgen haben können. Beschwörungen, Verwünschungen, Sprüche, spiegeln nur die Macht der Emotionen mit der wir unserer Angst zu begegnen suchen. Die historischen Orte erzählen vom Scheitern, der Scham und auch dem Leid, dass auf Zuschreibungen folgen kann.

So wie bei Dorothea Becker, die auch mal im Hexenturm verhöhrt wurde, als sie mehrmals der Zauberei beschuldigt wurde und am Ende die schrecklichen Prozesse doch überlebte, indem sie jede Anschuldigung  und der Folter zum Trotz beharrlich von sich wies. Sie gab nicht auf. Ihre Geschichte wurde von ihren Nachfahren aufgeschrieben.

Überhaupt, für Menschen, die schon seit mehreren Generationen in der Region leben, ist es nicht unwahrscheinlich eine Person zum Vorfahren zu haben, die in Zaubereiprozesse verwickelt war, wie Dorothea Becker. Und so gibt es praktisch zu dem in Forschung und Wissenschaft verbreiteten Wissen, eine weitere Produktion, ein indigenes Erschreiben des eigenen kulturellen Gedächtnisses, dass jenseits des öffentlichen Kanon stattfindet und in lokalen Publikationen zu seiner eigenen Sprache kommt. So wie der Roman Schattenbeschwörung von Paul Tigges, der die Geschichte der wegen Zauberei angeklagten Ursula Gerwe erzählt, zu dessen Nachfahren er gehörte.

Bei der Lektüre der Heimathexen wird mir die Diskrepanz bewusst, die im Umgang mit unserer eigenen Herkunft besteht. In unseren Breiten wird weiterhin oft das Bild der Frau als Hexe produziert, die irgendwie anders ist, gefährlich, Angst macht. Dabei gibt es längst Autoren aus dem Lokalen, die mit den Klischees zu den Hexenprozessen aufräumen. Irgendwie wie bei der Hexerei der Zande, der Blick von außen überschattet den von innen. Die indigenen Autoren stehen für Heimatverein mit Wanderschuhen. Das Heimatthema umgibt eine Aura der Scham und vielleicht steht hinter der eigenen Scham auch unsere Fernsucht, das Weite suchen, das Fremde beschreiben, mehr noch, es uns zu Eigen machen, weil an dem, was wir zu Hause haben, da hängt immer noch so ein komischer, alter Mief dran. Vielleicht ist es unsere Angst vor den Empfindungen, die in uns aufkommen, wenn wir uns unserer deutschen Vergangenheit ohne wissenschaftliche Distanz zuwenden. Dann fangen wir wieder an zu stammeln, zu beschwören, zu hexen und zu verhexen. Wir drehen uns weg, und halten unseren Blick weiter sehnsüchtig in die Ferne. Wir schreiben dem anderen zu, was wir uns daheim auch nicht wirklich erklären können. Hexen zum Beispiel.

Es knallt wieder über dem Haus auf dem Hügel. Die Traumzeit ist vorbei. Gleich kommt der Donner, hörst du ihn?

 

 

 

 

 

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Flecken

 

Wir waren  im Flecken. So heißt ein Stadtteil in Freudenberg, in dem nur alte Häuser stehen. Als wir dort rumliefen, räumte ein Mann vor seinem Haus ein paar Sachen zusammen und da er mich mit den Kindern Französisch sprechen hörte, wollte er wissen ob es uns hier gefallen würde und woher wir aus Frankreich kamen. Ich musste daran denken, dass vor mehr als zweihundert Jahren französische Truppen unter Napoleon in Freudenberg waren, wo sie plünderten, und im Siegerland selbst um ihre Kriegskasse beraubt wurden. Kein Mensch hat das noch erlebt, aber die Häuser im Flecken  schon. Ob sie damals auch so schweigend in ihren Reihen standen wie heute? Im Gespräch sagte ich zu dem Mann, dass mir sein Haus wirklich sehr gefallen würde und er meinte ja, früher, da hätten sie hier ein Geschäft gehabt, aber nun nicht mehr, seit seine Frau tot sei, fünf Jahre schon. Da stand dann plötzlich eine gewisse Traurigkeit mit uns auf der Straße und er meinte, er wäre ja nun schon alt, aber das Geschäft wollte er doch irgendwann wieder aufmachen, nur ginge das gerade nicht wegen Corona.

Ich habe gefragt, was sie denn verkauft hätten und er meinte Glas und solche Sachen und machte eine ausladende Handbewegung auf die Fensterfront. Hinter den putzigen Scheiben mit ihren gestickten Gardinen waren die Schatten von Figuren und Objekten zu sehen, es war Glas, aber auch Zinn, oder Stein, vielleicht sogar Eisen. Ich nickte, ließ meinen Blick über die Hauswand schweifen und meinte, es wäre sicher schön in so einem Haus zu leben.

Er machte eine zustimmende Bewegung, diesmal mit seinem ganzen Körper, und sagte schon, aber schön sei es doch überall auf der Welt, auch in Frankreich. Er wäre öfter mal das gewesen, früher, mit seiner Frau.

Stimmt, gab ich zu und wollte wissen wo.

An einem Ort im Süden, an der Küste, er nannte auch den Namen, aber wir sprachen nicht weiter darüber, denn die Kinder waren schon weiter gelaufen, standen mit schlackernden Armen auf mich wartend am Ende der Straße, doch sie waren es nicht, die mich weiter trieben, es war diese große Traurigkeit die unausgesprochen zwischen unseren Worten auf den Pflastersteinen stand und dort verharrte, wie die Erinnerung an all das, was war und niemals wieder sein würde und der Mann verabschiedete sich von uns, drehte sich, um wieder zurück in sein Haus zu gehen, und mir war, als ginge er gebückter als vorher, als wäre da eine Last, die er mit auf seinen Schultern zurück ins Innere seiner Wohnstätte nahm.

 

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Neue Orte „entwickeln“

NRW Geldern,

Dr. Ingrid Misterek-Plagge ist Geschäftsführerin des Kulturraums Niederrhein e.V., der aktuell das Residenzprojekt stadt.land.text NRW 2020 koordiniert. Der vorliegende Text ist aus einem Gespräch zu Care-Arbeit und Kulturförderung entstanden.

Am Niederrhein wächst und verändert sich die Förderlandschaft für Kultur ständig. Als Geschäftsführerin eines ländlich- urbanen Kulturraums hat Dr. Ingrid Misterek-Plagge täglich mit neu sich entwickelnden Formaten von Ausschreibungen und Veranstaltungen zu tun. Das Thema Care-Arbeit und künstlerische Förderung wird dabei sehr bewusst angegangen.

Beispielsweise wird gerade an einem Stipendienprogramm für AutorInnen und KünstlerInnen, gearbeitet, das sich um künstlerische Regionalforschung dreht und Care-Arbeit als elementaren Baustein des Angebots einbezieht.

Dabei will sich die Förderung nicht nur und ausschließlich auf Frauen konzentrieren. Auch für Männer müssen Strukturen geschaffen werden, die ihnen erlauben, Präsenz in Beruf und Familie miteinander zu vereinbaren. Angesprochen werden sollen auch KünstlerInnen, die vielleicht keine eigenen Kinder haben, sich aber um pflegebedürftige Angehörige kümmern. Diese müssen ebenso bedacht werden – genauso wie gleichgeschlechtliche Paare oder Menschen, die im Kontext einer Patchworkfamilie leben. Familie ist vielfältig und wandelbar. Als zentraler Teil der Gesellschaft hat diese auch eine wichtige Stellung im Leben von KünstlerInnen- und AutorInnen. Genau darüber, versichert die erfahrene Kulturförderin, Dr. Misterek-Plagge, denken Förderanbieter zunehmend nach.

In dem neuen cc-Ringenberg-Stipendium, das in diesem Jahr im Juni an den Start geht, wird beispielsweise die Residenzpflicht gelockert und durch eine Präsenzerwartung ersetzt.

Stipendiaten müssen nicht mehr als SchmuckerimitInnen ausharren, sondern können sich auch, sollte es notwendig sein, ins Homeoffice begeben und digital mit ihrem Aufenthaltsort in Kontakt bleiben. Eine Altersgrenze besteht nicht mehr, denn gerade die fällt oft in die Jahre der biologischen Reproduktion und bildet somit einen systematischen Widerspruch zur künstlerischen Reproduktion.

Kinder sind ein Bindeglied und Gewinn, besonders in einer ländlichen Region, und so kann auch die lokale Bevölkerung noch vom mitgebrachten familiären Anhang der Stipendiaten profitieren. Aber auch KünstlerInnen mit familiären Pflegeverpflichtungen werden in Zukunft mehr berücksichtigt. Ein finanzieller Sondertopf, der in Projekthaushalten eingeplant werden kann, sollte es KünstlerInnen und AutorInnen möglich machen, ihren Beruf in Zukunft besser mit Care-Arbeit zu vereinbaren. Zusätzliche Ausgaben in der Betreuungsarbeit können ebenso wie Fahrtkosten eingereicht und beglichen werden.

Ingrid Misterek-Plagge weiß, wovon sie spricht, auch sie hat Kinder und auch ihr hätte eine gerechtere Verteilung von Care-Arbeit in der Gesellschaft bei der Umsetzung ihrer beruflichen Karriere geholfen. Heute soll es kein beruflicher Nachteil mehr sein, Kinder zu bekommen, eine Familie zu haben, egal in welcher Sparte man arbeitet.

Im Bereich der Stipendienförderung gibt es eine große Vielfalt. Vielerorts werden Stipendien mit Aufenthalt angeboten, aber die Anbieter sind sich oft nicht bewusst, dass man es bei KünstlerInnen mit einer Berufsgruppe wie jede andere zu tun hat. Will heißen, Menschen mit Familie, die sich um Kinder kümmern oder Angehörige versorgen müssen. Hier sieht Dr. Misterek-Plagge einen wichtigen Einsatzbereich und Diskussionsbedarf. Sie ist als Geschäftsführerin einer erfolgreichen Kulturregion eingebettet in die europäische Kulturzusammenarbeit mit den benachbarten Niederlanden In grenzüberschreitenden Kunstprojekten lotet man gerade die Gelingensbedingungen erfolgreicher Stipendienangebote aus, um daraus einen Leitfaden für private oder kommunale Stipendienanbieter zu entwickeln.

Ein Sondertopf für den Care-Kontext bei Stipendiaten ist geplant. Und dafür ist es auch wichtig, so Dr. Misterek-Plagge, dass die Betroffenen ihre Bedürfnisse formulieren, dass auf Augenhöhe diskutiert wird, um endlich von dem Nimbus der „Genügsamkeit“ wegzukommen, der auf Seiten vieler Anbieter immer noch existiert. „Der Arme Poet“ von Carl Spitzweg steht hier als visuelle Metapher für den Schreiber, dem eine einfache Dachkammer ausreicht, um sein Werk zu realisieren. Dass dies nicht so ist und die Hartnäckigkeit des Mythos vor allem Frauen trifft, weiß Ingrid Misterek-Plagge ganz genau und so kann sich die Kunst- und Kulturszene glücklich schätzen, in ihr eine Verfechterin moderner Lebensansprüche für KünstlerInnen und AutorInnen zu haben.

 

 

Dr. Ingrid Misterek-Plagge

Die Bilder im Beitrag wurden von Dr. Misterek-Plagge zur Verfügung gestellt, Vielen Dank!

 

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Nachrichten aus der Mönchszelle

„Das Wesen des Menschen bei der Aufnahme sichtbar zu machen, ist die höchste Kunst der Fotografie.“ -Friedrich Dürrenmatt-

Sauerland Drive-by heißt eine seiner Serien, oder auch einfach Altena. Dirk Vogel beschäftigt sich in seiner Fotografie weniger mit der Frage nach Heimat, als der Welt, die ihn umgibt, oder „die Menschlichkeit des Augenblicks“, wie er selbst sagt, und damit Robert Frank zitiert, eine der Persönlichkeiten, die seine Arbeit inspiriert und beeinflußt haben.

Die Bilder von Robert Frank beschäftigen Vogel seit er 15 Jahre alt ist. Und seitdem ist er unterwegs, fotografiert die Welt, aus Südwestfalen heraus und auch darin wieder zurück. Immer mit einem Auge hinter der Linse. Dieses Motiv als Selfie ist sein Markenzeichen.

Mit 13 Jahren nahm Vogel durch Zufall die Kamera eines Freundes in die Hand und erkannte, dass die Welt durch die Linse plötzlich ganz anders aussah. Das war die Entdeckung des eigenen, autonomen Blicks. Dabei hat er niemals ein Hobby zum Beruf gemacht, denn es war immer eine Berufung für ihn, sich das eigene und in dieser Form, authentische Bild seiner Wirklichkeit zu machen. Die Einsamkeit ist und bleibt ein Grundthema für Dirk Vogel. Diese setzt sich auch in seinen Bildern fort, ob Altena, Sauerland oder Berlin, eine Stimmung des Verlassenseins steckt konstant in seiner Produktion und damit auch eine Suche nach der Grundfrage der Menschheit, unsere flüchtige Passage in dieser Welt.

 

Dirk Vogel ist hartnäckig in seiner Arbeit, er bearbeitet Themen über lange Zeit hinweg, Altena schon seit 2012 und er fotografiert analog. Die Dunkelkammer ist für ihn eine Mönchszelle, in der er sich die Fragen des Lebens und der Welt stellt. Die Antworten findet der Betrachter in seinen Bildern .

 

Vogels wichtigsten Arbeiten sind u.A. die Portraitsammlung jüdischen Lebens in Deutschland, der Bildband „Augenblicke – Portraits von Juden in Deutschland“ erschienen im Mosse Verlag, 2003 Berlin und der Bildband „Gesichter der Friedlichen Revolution“ 2011.

Der Alltag ist sein fotografisches Thema, er unterscheidet Foto von Bild. Das Letztere gibt Form und Inhalt wieder, öffnet eine eigene Welt. Und diese Welt ist Vogel konstant bemüht durch seine Linse zu fassen, sei es, in der Hauptstadt oder in der Provinz des Sauerlands, sein präziser Blick ist immer dabei. Denn schließlich, so sagt er, macht es keinen Unterschied, ob der Fotograf wie Michael Lange einen LA drive by in seinen Bildern festhält, oder einen Sauerland drive by, wichtig ist das Bild, das dabei entsteht, der Blick aus der Mönchszelle heraus.

Online Portofolio von Dirk Vogel.

  Dirk Vogel im südwestfälischen Sauerland

Alle Bilder in diesem Beitrag sind von Dirk Vogel.

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Mikroabenteuer

Den Begriff Mikroabenteuer lerne ich aus dem deutschen Fernsehen. Verzweifelte Städter lassen sich während der Corona-Pandemie ins Abenteuer schicken. Irgendwo in freier Natur, sollen sie unter freiem Himmel schlafen, Lost Spaces entdecken, Feuer ohne Feuerzeug oder Streichhölzer entfachen. Kurzum, Adrenalin pur, und das, obwohl sie eigentlich nicht wegkönnen, also jedenfalls nicht auf die Bahamas oder nach Kuba, in wirklich fremde Räume. Das Unbekannte, das Neue, das, was einem den Atem raubt, lässt sich auch vor der eigenen Haustür finden und damit bedrückende Sorgen, wie die Coronakrise in der wir uns derzeit befinden, für einen kurzen Moment vergessen.

Mein Mikroabenteuer beginnt an dem Parkplatz Kalberschnacke. Dort wartet Regine Rottwinkel. Die aus Bochum stammende Künstlerin leitet das Drolshagen Marketing, und hat mit ihrem Künstlerkollektiv aus 12 Frauen den Landartwanderweg KulTour gestaltet.

Landart ist wahrscheinlich die bisher demokratischste und nachhaltigste Form der Kunst. Die im Freien ausgestellten Kunstwerke sind allen Menschen zugänglich, in den meisten Fällen muss kein Eintrittsgeld gezahlt werden. Die KuLTour wurde durch das Werk von Künstlern wie Andy Goldsworthy inspiriert. Der britische Künstler benutzt für seine Werke ausschließlich Naturmaterialien, um vergängliche Werke darzustellen.

Kunstwerke, die dem Einwirken der Natur ausgesetzt sind, die Wind, Regen, Sonne und Schnee standhalten müssen, sind auch die Objekte, die auf dem rund 7 km langen Wanderweg der KuLTour zu entdecken sind.

Gleich zu Beginn begegnen wir einer Familie, ein kleiner Junge läuft neben uns her und kurz mit uns um die Wette. Er sei schneller, ruft er laut, bevor er staunend mit seinem Großvater vor dem Fischwarm stehen.

Fliegende Fische, die zwischen den Baumstämmen umher zu schweben scheinen. Lachend erzähle ich, wie meine Schwester und ich mal fast aus dem Picasso-Museum Antibes geflogen wären. Wir waren beide noch keine zehn Jahre alt. Der Fisch auf einem Teller hatte mich wahnsinnig frustriert. Ich fand, dass würde ich besser können, aber für meinen kindlichen Kreativitätsdrang gab es damals noch keine Ausdrucksmöglichkeit. Früher wurden keine Begleithefte für Kinder in Museen verteilt, in die sie malen können, oder kreative Führungen veranstaltet. Den Frust ließ ich an meiner kleinen Schwester ab und wenige Minuten später packte uns ein Aufseher am Schlafittchen, zerrte uns zu meiner Mutter und meinte, wenn sie nicht für Ruhe sorgen würde, wären wir in ein paar Minuten draußen. Meine Mutter sorgte für Ruhe, das Museum verließen wir nicht. Heute pilgere ich regelmäßig mit meinen Kindern zu Picassos Fisch in Antibes.

Landart erlaubt einen grenzenlosen Zugang zur Kunst und erlaubt genau in die Natur zu schauen, sie kreativ und spielerisch zu entdecken. Regine Rottwinkel erzählt, dass sie und ihr Team immer wieder damit beschäftigt sind, von Werken entwendete bunte Steine wieder einzusammeln oder neu zu gestalten. Aber das stört sie nicht, auch das gehört dazu. Immer wieder begegnen wir kleinen Kreationen, auf Baumstämme gestapelte Steine oder Tannenzapfen, hinterlassen von Menschen, die sich von der im Ort steckenden Kreativität haben anstecken lassen. Und so wird der KuLTour-Rundweg zu einem Gesamtkunstwerk, dass sich ständig verändert, erneuert und vergeht.

In diesem Jahr sind zwei KuLTische hinzugekommen, ein von der EU gefördertes Projekt. Die Tische sind aus sehr altem Sandstein. Sie laden wandernde Gäste zum Verweilen ein. So kann, wer will, sitzen, die Berge des Sauerlandes betrachten oder mit dem CR-Code auf den Tafeln, Texte zur Erzähltraditionen verschiedener Kulturen herunterladen.

 

Zu einem der bekanntesten Earth-Work Künstlern, wie Landart auch bezeichnet wird, gehören sicherlich Christo und Jeanne-Claude. Christo verstarb nur einen Tag bevor ich zusammen mit Regine Rottwinkel die KuLTour entdecke. Sein Projekt, den Triumphbogen in Paris zu verpacken, wird trotzdem im nächsten Jahr noch durchgeführt werden.

Denn manchmal überdauern auch Landart Kunstwerke ihre Schöpfer und existieren weiter, wenn ihre Kreateure schon längst nicht mehr sind. So wie die Kunstwerke an den Wänden der Grotte von Lascaux.

Und so ist ein Mikroabenteuer zu erleben auch nur eine weitere Metapher für die Vergänglichkeit, mit der wir uns, wie Goethe schon schrieb, tagtäglich befassen müssen, sonst sind auch wir nur ein trüber Gast – Auf der dunklen Erde.

In Südwestfalen und im Sauerland gibt es übrigens eine ganze Reihe von Kunstwanderwegen.

 

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Die Unsichtbaren

“This is how we do things around here.”

– Bright und Parkin, 1997

 

Sie waren silbern und glänzend wie Engelshaar. Sie waren auch sehr lockig. Aber hart waren sie und hatten schneidende Kanten. Sie lagen überall herum, auf dem Boden neben den Maschinen, auf der Ladefläche des Firmentransporters, sogar auf den Schuhspitzen der Männer, die die Schneidemaschinen bedienten. Ich kann mich so gut an diese Späne aus Metall erinnern. Als Kind wollte ich sie aufheben und sammeln, und sie Weihnachten an den Baum zu hängen.

Schau, sagte ich zu meinem Großvater, so haben wir schon das Lametta fürs Fest!

Er war nicht einverstanden. Er sagte mir, dass ich mit den Spänen nicht spielen sollte, sie seien gefährlich, sie würden mich verletzen. Ich durfte sie nicht anfassen, aufheben, schon gar nicht in meine Tasche stecken, sollte sie gefälligst auf der Erde liegen lassen.

Natürlich habe ich sie doch aufgehoben, mir die Taschen vollgestopft und damit gespielt. Selbstverständlich schnitten mir die harten Späne in die Finger. Ich habe es nie jemanden erzählt, denn ich hatte ja etwas Verbotenes getan. Aber ich habe doch immer weiter damit gespielt. Das Blut wischte ich am Stoff meiner Kleider ab und schwieg.

Manchmal sahen die Späne aus wie kleine, sehr spitze Nägel. Je winziger sie waren, umso schwärzer waren sie. Das helle, silberne Leuchten kam von der Masse und besonders liebte ich ineinander gedrehte Späne. Sie sahen aus wie lange Bohraufsätze oder auch wie kunstvolle Schrauben. Wahrscheinlich habe ich deswegen dem Großvater in meinem Roman, die Produktion von Spaneinsätzen für Bohrmaschinen angedichtet, weil die Späne, ihr Glitzern und die von ihnen ausgehende Gefahr, mir so sehr im Gedächtnis haften geblieben sind, genau wie dieser Brandgeruch, der vom Schneiden noch an ihrem Metall haftete.

Heute frage ich mich, ob mir auch verboten worden wäre mit den Spänen zu spielen, wenn ich kein Mädchen, sondern ein Junge gewesen wäre. Vielleicht hätte mich einer der Arbeiter an den Maschinen zu sich gerufen, mich vor sich aufgebaut und indem er meine Hand und meinen Körper gerade hielt, mir gezeigt, wie man Metall bearbeitet. Aber ich war ja ein Mädchen und der Arbeiter hätte sicher Ärger gekriegt. Vielleicht wäre es auch als wichtig angesehen worden, mir schon als kleiner Junge den Zusammenhang von Metall und Produktion zu erklären und nicht zu warten, bis ich größer würde, um sicher zu gehen, dass ich mich überhaupt für so etwas interessierte, denn Mädchen, interessieren sich ja für solche Dinge gewöhnlich nicht. Vielleicht hätte ich meinem Großvater und alles was er mit seinem, aus einem Fabriksken, entstandenen Industrieunternehmen präsentierte, näher sein können, wenn ich ein Junge gewesen wäre. Ich werde es nie wissen. Das Leben hat meinem Großvater keine Zeit dafür gelassen.

Die Industrie und vor allem der Bereich der Metallproduktion sind Männerdomänen. Gerade die heiße Verarbeitung von Stahl manifestiert alles, was gemeinhin mit dem Stereotyp Männlichkeit verbunden ist: Kraft, Schweiß, Schmutz. Bei der kalten Metallverarbeitung, sowie den Produktvertrieb sind Frauen schon eher anzutreffen. Doch in der Unternehmungsleitung, auf den Chefetagen sind sie weiterhin in der Minderheit.

Unsichtbar, würde Carolin Criado-Perez sagen. Sie hat ein umfangreiches Buch zu der Frage geschrieben, warum Frauen heute immer noch in so vielen Bereichen unsichtbar sind. Und ihre Antwort darauf: It´s a mans world!

Männer sind das Maß aller Dinge, die Welt ist nach ihren Bedürfnissen gemacht. Die Ansprüche der Frauen fallen schlichtweg unter den Tisch. Die empfohlene Raumtemperatur in Büros ist für Frauen zu kalt. Die Grenzwerte von Chemikalien zu hoch, die Sicherheitsanzüge zu groß.

Autos sind nicht sicher für Frauen, weil die Tests auf den Typ Mann laufen. Auch in der Metallindustrie ist die Infrastruktur männlich dominiert, für Frauen fehlt es zum Beispiel an Toiletten in Maschinenhallen. Frauen machen die Hälfte der Gesellschaft aus, sind aber meist unsichtbar, besonders wenn es um Führungspositionen geht.

Klar gibt es Ausnahmen, auch in der Unternehmungsleitung und mit der Zeit immer mehr Frauen, die sich an der Spitze eines Unternehmens durchsetzen. Marie Bilstein beispielsweise war eine Frau aus Südwestfalen, die diesen Habitus beherrschte und nach dem Tod ihres Mannes Ferdinand Robert Bilstein den Familienbetrieb übernahm. Sie lebte von 1848 bis 1924 und führte den Betrieb erfolgreich, bis einer ihrer Söhne diesen übernahm. Ihre Tochter war eine der wenigen Frauen im Kaiserreich, die Kunst studierten.

Auch Nina Patisson führt als Frau heute erfolgreich das internationale Unternehmen Bäumer in Südwestfalen.

Als Urenkelin des Gründers war es für Nina Patisson erst undenkbar, die Spitze des Unternehmens zu übernehmen. Eine Ausbildung im familieneigenen Betrieb, der damals von ihrem Vater geführt wurde, kam für sie nicht in Frage. Sie studierte in Deutschland und im Ausland, arbeitete  einige Jahre für ein Unternehmen in Paris, bevor sie auf den Ruf aus der Heimat antwortete. Nina Patisson hat es sicher nicht bereut und noch weniger das Unternehmen. Doch sie fing nicht als Tochter im Unternehmen an, sondern als eine unter Gleichen. Und diesen eusozialen Ansatz trägt sie auch in ihre Unternehmensleitung. Bei dem Siegener Recruiting Slam rappt sie sogar ihr Unternehmen vor.  Bei ihr sind bereits sechzehn Prozent der Mitarbeiter Frauen, was nicht wenig ist für die Metallindustrie. Den Habitus eines „Unternehmers“ erlernte sie am Vorbild ihrer Vorgänger. Obwohl zuvor immer Männer das Familienunternehmen leiteten, war es außer Frage die Tochter von der aktiven Nachfolge auszuschließen. Heute bereitet es ihr keine Schwierigkeiten, sich in ihrem Arbeitsalltag durchzusetzen. Nina Patisson definiert sich jenseits femininer Stereotypen wie Nagellack und Handtasche, sie inkarniert einen ganz eigenen weiblichen Führungsstil.

Die französische Sängerin Juliette Katz hat kürzlich ein Video veröffentlicht, indem sie eine beeindruckende Analyse dessen leistet, was sie als „eine Frau“ zu sein bezeichnet. In ihrem atemlosen Text berichtet sie, wie sie selbst über Jahre hinweg versucht hat, in eine soziale Schablone zu passen. Statt sich als Frau zu fühlen, empfand sie sich in eine Rolle gezwängt. Denn eine Frau, die sich zu sehr schminkt, ist provokant, einer Frau, die sich zu wenig schminkt, wird vorgeworfen, sich gehen zu lassen. Eine Frau, die sich aufstylt, will Männer anmachen, aber wenn Frau sich bequem ankleidet, hat sie keinen Stil. Juliette Katz weist darauf hin, dass Frauen sich zu oft von außen definieren lassen und dass es eigentlich darum geht, die freie Wahl zu haben. Frei zu sein, sich die Achselhaare zu rasieren oder eben nicht. Die Entscheidung über den eigenen Körper und das eigene Leben sollen Frauen genauso frei treffen können wie ein Mann.

Diese Freiheit fängt damit an, dass Mädchen und Jungen nicht nach geschlechtlichen Stereotypen erzogen werden, sondern als Menschen behandelt werden, die diese Welt  entdecken. Sie verdienen es, die freie Wahl zu haben, und das fängt schon mit den Gegenständen an, mit denen sie spielen.

 

Beitragsbild mit freundlicher Genehmigung der Albrecht Bäumer GmbH

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