TRANSFORMATION – doc / fest on tour

 

 

Stoffe, Stoffe, Stoffe…

Fäden. Geschichten. Erzählungen.

Von Tüchern und Webmaschinen

Von Filmen und Rollen

Früher und Heute

Noch mal hin und zurück

Eine Dekonstruktion

Die Fabrik, die Ruine, der Film

Die verlassene Tuchfabrik, eine Bühne

Das Tuchwerk, ein Museum

Mausetot

Filmrollen ausgraben

Die Transformation

Doc Fest on tour

Es lebe die Kunst

Fünfzehntausend Fabrikarbeiter einst

In Webereien, Spinnereien, Färbereien,

Mit Akkordarbeit

In der Aachener Tuchfabrik

Nun der Doc Film auf Reisen

Spinnt, webt, färbt neue Stoffe

Neue Geschichten für das neue Publikum

Im Dreiländer Eck

In der Grenzstadt Aachen zuerst

    

Backziegel ohne Dach

Ein Raum der Sehnsüchte

Eine Ruine

Spuren der Zeit ohne Brandstiftung

In sich versackte Vergangenheit

Träume unter offenem Himmel

Begegnung der Suchenden

Nach neuen Bildern, Tönen, Wörter

Nach Sinn der verlorenen Träume

Dokumentarfilmer auf Reisen

Wollen berühren, bewegen, beeindrucken…

Da wo das Leben stehen geblieben ist

In der Tuchfabrik

    

Eine kleine energische Frau gibt den Ton an

Herzliches Lächeln, dunkle Augen, warme Stimme

Miriam Pucitta, das südländische Blut in Aachen

Im Hintergrund schwebt ein weiser Hut

Maestro der Tour

Michael Chauvistré

Unruhig, still, nachdenklich

Er, der Cheffe, ist überall

Sein Blick hin und her

Sucht die Frau mit der warmen Stimme

Sie kommt sofort

Lächelt ihn an,

Umarmt seinen Leib und sein Leid,

Zerknittert der helle Leinenanzug

The Show must go on

 

Wie früher Schichtarbeiter

Drängt nun das Publikum

Vor dem Tor der alten Fabrik

Neugierig, bunt, jung, reif, groß, klein

Paare, einsame Seelen, Aliens, Eltern

Drei Kinder, zwei Hunde

Der weise Hut und die warme Stimme grüßen

Jeden persönlich, herzlich

 

   

In der Ruine duftet Kardamom und Zimt

Arabische Röllchen locken, ein Versprechen

Durstlöscher: Frischgezapftes, Wein und Wasser

Der Thekenchef, rund und grimmig, dient wortlos

Sein pummeliger Bub, ernst, schüchtern, genauso

Nur der quirlige Helfer mit dunklen Locken

Springt hin und her und lächelt bei jedem

Der Charmingboy, ein Araber,

Flüchtling aus Ramallah, erfahre ich später

Das Wort, zu anonym für soviel Licht in seinen Augen

Film. Blues. Ruine.

In der Ecke ertönt die Musik

Gitarre und Kontrabass

Gemeinsam

Raue, kratzige Stimme füllt die Ruine

Dringt ins Blut

Öcher Blues

Mit Dieter und Uwe

    
Eine vergessene Geschichte der Aachener Textilindustrie

Ein Sprung in die Vergangenheit

In der Maschinenhalle des Tuchwerks

Stoffe, Stoffe, Stoffe

The Show must go on

DOCFEST ON TOUR

In der Aachener Tuchfabrik

Die Transformation

Wo Weberei und Färberei jetzt schweigen

Spricht und spinnt „Dügün“ – Hochzeit auf Türkisch

Unter Kommando von Marcel Kolvenbach & Ayşe Kalmaz

 

Zwischen Museumsexponaten

In der Maschinenhalle der Tuchfabrik

Neue frische Filmbühne eingerichtet

Das Kinopublikum eilt in die Fabrikhalle

Wie früher Textilarbeiter

 

Stoffe, Stoffe, Stoffe…

Bunte, weiche, stramme Stoffe der Tuchfabrik

Heute Museumsexponate

Für Dokumentarfilme

…Kohle war gestern, Strukturwandel auch…

In grauer Gegenwart der verlorenen Jobs

Tanzen im weisen Tüll die rosa Träume der Einwanderer

Braut und Bräutigam aus Duisburg-Marxloh

Sie kräftig, kurvig, kerngesund, eine Türkin

Er, Türke, lächelnd, leger, logisch

Ein Elvis-Typ, der unter die Haube der Tochter seines Chefs will

Dügün – Hochzeit auf Türkisch

    

Happy End mit Vorahnungen und Zuschauerfragen

Vor dem Publikum stehen drei Männer und eine Frau im Rampenlicht

Marcel mit seinem weisen Stoff der Sehnsucht nach Glück und Heimat

Baris, ein kleiner Öztürk mit Feuer im Herz, Brückenschläger mit Insidercharme

Überall Zuhause, in Ost und West, zwischen den Welten, Türkei und Deutschland

Michael Chauvistré und Mirjam Pucitta, der Cheffe und seine Muse

Happy Endings Film mit Doc NaTour.

Nach der Hochzeit ist vor der Hochzeit

Nach dem Film ist vor dem Film

In der Ruine

Das arabische Versprechen duftet noch

Bier und Wein gehen zur Neige

In der rauen Stimme Blues

Bis zum Morgenrot

Unter Kerzen

In Vino veritas

 

 


Die Fotos:
Die Freie Fotografin Pascalina Vretinari hat das doc/fest am 24.06.2017 im Tuchwerk fotografisch dokumentiert.
www.vretinari.de
Ausnahme: Die drei Fotos während der Filmvorführung (unten im Text) stammen von Slavica Vlahovic.

Mehr von Slavica Vlahovic

HUNGER – Ein Schwabo beim „Sultan“ in Aachen

Aachener Bushof  an einem verregneten Juliabend. Ich vermesse die Koordinaten, registriere viele düstere Gesichter, lande beim „Sultan“ und stoße auf einen hungrigen „Agenten“ aus dem Schwabenland. Er will die Welt retten. Wie und vor wem will ich wissen.

Ihre Augen unruhig, hungrig… (c)SVl.

Am Fenster meines neuen, noch leeren, sperrigen Zimmers, erwische ich im verlassenen Hinterhof den traurigen Blick eines Clowns aus Kunststoff, der eingefroren auf einem wackeligen, ca. zwei Meter hohem Ballerina-Bein steht. Es ist die erste Stunde meines neuen Lebens in Aachen. Ich betrete die laute Straße, irre um den Block, steige in den Bus und lande mitten in Aachen, am „Bushof“, da wo im Minutentakt aus allen Richtungen Busse ein- und ausfahren. Mein Magen knurrt. Der „Sultan“, breit in rot gekleidet, zwinkert mir mit seinen Leckereien zu. An diesem Sonntagabend gegen 21 Uhr drängelt es sich vor dem Schnellimbiss. Ein Gewimmel aus Farben, Geräuschen und würzigen Düften. Am Spieß drehendes Fleisch. Junge Männer mit Bärten aller Sorten, kurz, lang, gepflegt, wild, stehen vor seiner langen Theke wie Soldaten. Ihre Augen unruhig, hungrig. Ich stelle mich in die Schlange.

„Vucko & Tito“

Er fällt mir sofort auf, ich glaube, ich ihm auch.

Sein dünnes, seidiges Haar um sieben Nuancen heller als der Rest der Köpfe, der in der langen Schlange wartenden Menschen, dreht sich unruhig hin und her. Sein Blick ist wach, sein Körper fit, ich schätze ihn auf 47.

Zwei kleine dunkelhäutige Mädchen in Sari-Kleidern, kaum größer als ein Stock, hüpfen um einen Mann im weißen Gewandt. Ihr Vater vielleicht. Oder Großvater, der sie, sobald sie ruhig sind, über ihre Köpfe streicht. Die Kinder studieren den Mann mit dem hellen Seidenkopf. Er registriert ihre Blicke und geht in die Offensive:

„Hi, little girls, do you come from India?“

„No, nooo…“ sagt die eine. „We come from Pakistan!“ ergänzt die andere:

„And you?“

„I´m German, I come from Stuttgart!“, höre ich ihn, seine Heimatstadt besonders betonen. Ein echter „Schwabo“ also.

Die beiden Mädchen hüpfen weiter, suchen nach neuen Wundern. Der Schwabe spürt meinen Blick im Nacken und nimmt jetzt mich in Angriff:

„ Die Tour der France macht hungrig, ne? Waren sie dabei?“

„Nein, leider knapp verpasst!“

„ Ach, Sie kommen auch nicht von hier?“ fragt er.

„ Nein. Ich komme aus Köln. “, höre ich mich behaupten.

„Aus Köln?“ Er misst mich längs und quer:

„Und ursprünglich?“.

Oh Gott. Ursprünglich? Eine schwere Frage für jemanden wie mich. Wo fange ich an? Das kann schnell eine lange Geschichte werden. Ein Vierteljahrhundert lang… In Sarajevo, damals Jugoslawien, kurz vor dem Krieg…Seitdem mag ich diese Frage nicht.

„Tschechien? Polen?“ höre ich den fröhlichen Schwaben raten.

Ich will es ihm und mir nicht zu schwer machen und mache es kurz: „Sarajevo, Ex Jugoslawien…“

„Ach… Vuckoooo! Titoooo!!“ grinst er.

Ich muss lachen. Mein früheres Leben skurriler zu assoziieren, könnte ich auch nicht. Der friedliche Wolf aus Sarajevo, das  lustige Maskottchen, das uns und dem Rest der Welt die beste Winter-Olympiade aller Zeiten beschert hat und das  Schlitzohr,  der Yugo-Cheffe, der Faschisten besiegt hatte, Stalin „Njet“ zu sagen wagte, uns  mit einer  kleinen Utopie, dem Selbstverwaltungs-Sozialismus der „Brüderlichkeit und Einheit“ jahrzehntelang verführte, auf dem internationalen Parkett zwischen Westen und Osten, Sozialismus und Kapitalismus wie keiner anderer tanzte, dem  die Königin Elisabeth eine gläserne Kutsche schenkte, Kennedy einen Chevrolet, Gaddafi ein Kamel und Gandhi zwei Elefanten. Damals glaubte ich, wir seien der Nabel der Welt…

„1A!“, sage ich, „Volltreffer!“

Wir sitzen danach wie alte Kumpels auf der langen Bank aus Sperrholz vor dem „Sultans of Kebab“ und verschlingen hastig unsere frisch erworbenen Leckereien. Er hält einen Döner in den Händen, ich Lahmacun und Ayran. Um uns summt es wie in einem Bienenstock. Das Nachtleben der jungen Menschen, viele Ankömmlinge unter ihnen, die vom Alter her unsere Kinder sein könnten, beginnt gerade jetzt und hier. Mit Hunger. Beim Sultan. Am Fließband. Sie reden laut, blicken ernst, viele sehen gestresst aus. Ich spitze meine Ohren: höre Arabisch, Persisch, Türkisch, und ab und an schnappe ich ein paar Wörter Deutsch auf:

„Ja, Bruder…alles…nix, hey Mann, kompliziert… “

Jung, hungrig, arbeitslos

Der Schwabe staunt:

„So viele junge Männer!“ Das wäre er auch noch mal gerne, so jung… aber nicht so arbeitslos!“

„Leider… man kann nicht alles haben!“ rezitiere ich die Standardweisheit meiner georgischen Freundin.

„ Ob die Jungs hier noch  die Kurve kriegen?“ rätselt der Schwabe.

„Sie schaffen das schon… keine Sorge!“  spüre ich in mir Angelas Zuversicht aufkommen.

„Wir haben das auch geschafft…“

Der Schwabe schüttelt besorgt den Kopf.

„Die Welt ist heute anders als damals, als wir noch jung waren…“ sagt er wehleidig. „… damals gab es noch Sozialismus…“ meint er.

Ich bin überrascht.

„Ach, das hört sich an, als ob Sie das kaputte System vermissen würden?“ frage ich ihn.

„Ja… im Sozialismus haben alle eine Arbeit gehabt, musste keiner auf der Straße betteln, und auf doofe Gedanken kommen. Und der Kapitalismus damals hatte ein Gegengewicht, musste sich anständig benehmen…“ sagt er.

Ich nicke.

„Leider fehlte im Sozialismus die Motivation….“ sagt er.

„… und die Demokratie!“ füge ich hinzu.

Das System, das  Bildung, Gesundheit und Gerechtigkeit nicht nur verspricht, vermisse allerdings auch ich!

„Jetzt sind der Westen und der Osten wieder vereinigt. Im globalen Raubzug des Turbokapitalismus. Der muss jetzt gegen ganz anderem Kaliber kämpfen: gegen den IS! Die Islamisten“, schwadroniert der Schwabe.

„ Vielleicht sind das seinen eigenen Auswüchse…“ höre ich mich sagen.

 Angst,  Ausländer, Agent

Der Schwabe und ich sitzen nun vor dem leeren Plastiktablett, unsere Mägen rülpsen vor sich hin, versuchen den „Sultan“ zu verdauen. Ich brauche einen Mocca und möchte den Schwaben einladen. Er blickt unruhig, wolle lieber woanders hingehen, sagt er. Hier habe er langsam Angst, gibt er zu.

„Angst?“ staune ich über seine Ehrlichkeit.

Ich verstehe. Wäre ich hier alleine, hätte ich längst das Weite gesucht. Mit ihm, dem redseligen Schwaben, der mir an diesem Sonntagabend ein wenig die Einsamkeit vertreibt, fühle ich mich sicher. Ich will hier und nirgendswo anders mit ihm, dem Schwaben, einen Kaffee trinken, um seinen und meinen Ängsten und all den jungen, ernsten Menschen, die hier bei „Sultans of Döner“ heute Abend ihr Stück Heimat gefunden haben, in die Augen zu sehen.

Ich will sie verstehen, diese Angst, die uns lähmt, trennt, die zwischen uns steht, wie ein Monster. Sie ist so menschlich, wie Sehnsucht und die Liebe, wie der Wunsch dazu gehören zu wollen.

„Keine Angst!“ sage ich dem Schwaben. „Ich bin bei Ihnen! Hier bin ich eine von ihnen, praktisch ihre Schicksalsschwester… die Ausländerin“.

Er lacht verunsichert, nimmt meine Einladung zögernd, aber mutig an.

Hinter der Mocca-Theke bedient ein hübsches Gesicht unter leuchtend blauem Kopftuch. Es lächelt schüchtern, als ein kräftiger, dunkelhaariger Junge in einem weiten, schwarzen, schweren Trainingsanzug mit den drei Streifen auf Deutsch bestellt:

„Einen kräftigeren Mocca als sonst bitte, ruhig ein Löffelchen mehr“.

Der Schwabe mustert den Jungen von oben nach unten, lacht als ob er einen guten Witz gehört hätte, und startet eine neue Recherche.

„ Neeeh, kein Türke, ich stamme aus dem Irak“, reagiert die schwarze Trainingsmontur.

Er sei vor zehn Jahren nach Aachen gekommen, erzählt er weiter, geflohen, damals im Krieg, als Saddam getötet wurde…

„Zehn Jahre ist auch dieser Krieg her?“ staune ich. „Oh, Gott!“

Die Rollen der Bösen

Warum ausgerechnet die Araber, die Rolle der Bösen jetzt schon solange so hartnäckig besetzen, frage ich mich.

Bei uns, damals in Sozialismus, waren die Araber die Guten, unsere Verbündeten. Zu uns kamen sie als Freunde, als Mitglieder der „blockfreien Bewegung“, um mit Tito die Welt zu retten… vor den Atombomben der bösen Russen und Amerikaner…  wie  früher vor den deutschen Faschisten, den „bösen Schwabos“ im 2.Weltkrieg. Bevor Tito mit Willy Brandt auf der Insel „Brioni“ kubanische Zigarren rauchten und Tito die deutsche Schuld an unserem Land  vergaß. Willy verwandelte dafür unsere Arbeitslosen in seine Gastarbeiter, unter anderem meine vier Onkel und meine Lieblingstante.

Mein  Vater hat bei  Gaddafi gearbeitet. Meine Nachbarin als Köchin bei Saddam. Said aus Palästina hat mit meinem Bruder in Sarajevo Architektur studiert. Mit Dollars, die seine Brüder in Amerika verdienten. Wenn Said sonntags zu uns kam, hat er zuerst mit unseren Vater eine Runde Schach gespielt. Der Papa wollte sein Arabisch auffrischen. Die Mutter hatte ihnen Tee serviert, den uns Djamal von seiner Mutter mit vielen lieben Grüßen aus Ramallah mitgebracht hatte.

Bosnien, das im Herzen Jugoslawiens und Europas lag, hatte die Tür zum Osten und zum Westen gleich weit geöffnet. Das Zusammenleben von Moslems, Christen, Juden und Atheisten war eine Selbstverständlichkeit. Die Andersartigkeit wurde mit Neugier und Herzlichkeit als Geschenk des Himmels gelebt.

Hunger & Spiele (c) SVl.

Das unser im Krieg verlorene Paradies haben nun die Saudis entdeckt. Dank Instagram, Facebook und anderen Internetnetzen kommen jedes Jahr mehr und mehr reiche Araber mit ihren verhüllten Frauen, Töchtern und Müttern nach Sarajevo, berichtet ein Kollege von „Oslobodjenje“, der Zeitung, für die ich früher auch geschrieben habe. „So viel Grün, so viel Wasser, weite Schatten, hohe Berge, leckere Speisen… alles zum Spottpreis… sie fühlen sich bei ihren Glaubensbrüdern, den bosnischen Moslems, einfach phantastisch!“

Der Schwabe mit seiner Tasse Mocca in der Hand fängt an, sich langsam beim „Sultan“ zu entspannen; er sucht uns einen freien Platz im inneren Bereich, geht leger durch den neonhellen Laden und setzt sich dann mutig direkt hinter eine Gruppe bärtiger Männer in Hochwasser-Hosen.

Warum musste der „Schwabo“ sich ausgerechnet an diesen Tisch setzen? Er glänzt sauber wie kein anderer. Es ist nicht zu übersehen, dass sich da sonst keiner hin traut. Nur wir beiden Narren – er Deutsch, ich Frau, im Alter ihrer Eltern – wagen es, sich so nah bei diesen finsteren Jungs niederzulassen.

Hoffentlich startet er jetzt keine neue Recherche. Die Jungs sehen nicht so aus, als ob sie Lust hätten, auf seine Fragen brav zu antworten, wo sie her kommen, wie lange sie hier sind, so wie vorhin die kleinen Mädchen im Sari, der Iraker oder ich.

Lange Bärte, kurze Hose, düstere Blicke

Besser er ist ein Agent und lauscht unauffällig, welche Pläne die bärtigen Jungs haben könnten. Das wäre gar keine schlechte Idee. Solche Jungs kommen ständig auf gefährlichen Ideen, die nicht nur ihnen schaden. Ich fange an, meine Ohren zu spitzen. Es muss arabisch sein, was sie sprechen. Ich erinnere mich an die Freunde meines Bruders in Sarajevo und frage mich, was wohl aus ihnen geworden ist und auf welcher Seite sie jetzt stehen.

Die düsteren Gesichter scheinen uns nicht ernst zu nehmen, sie schauen durch uns hindurch. Mein Blick schweift hin und her. Vom Schwaben, der entspannt mir gegenüber sitzt und seinen Kaffee schlürft und den harten Jungs, die er im Rücken und ich im Auge haben.

Ob die im Nahmen Allahs unschuldigen Menschen schaden wollen? Ob sie dabei sind, Terror vorzubereiten? Sind sie wirklich so böse, wie sie aussehen? Vielleicht haben sie selber Angst? Und wollen nur eines: sich Respekt verschaffen! Auf der besseren Seite des Lebens stehen, wie die gleichaltrigen Hipster, denen sie verdammt ähnlich sehen. Machen sie das böse Spiel, weil sie selber Angst haben? Weil sie nie dazugehören dürfen ?

„In der Zwickmühle“

Meine Gedanken sind wieder in Sarajevo. Bei den Arabern. Sie sind heute ein zweischneidiges Schwert in Bosnien. Sie bringen Geld ins Land, das Bosnien nötig hat, aber sie laufen mit ihren bis auf die Augenschlitze in Schwarz vermummten Frauen und einer Herde lauten Kindern durch das Land wie Außerirdische, ohne Kontakt zu den Einheimischen zu suchen. Wo sie hinkommen, herrschen neue Gesetzte, ohne Alkohol, Musik und Witze.

„Who pays, who says!“ sagen die bosnischen Wirte und zählen zufrieden ihre Dollars.

Die Araber „schwimmen“ im Geld, heißt es in Bosnien. Gegen den Araber als Touristen hätten sie nichts. Im Gegenteil. Geld ist das, was Bosnier an Arabern am meisten interessiert. Aber die Araber wollen mehr von Bosniern. Sie kaufen alles auf, was sie finden können: Immobilien in jeder Lage. Im großen Stil: Landflächen bis zu 10 Hektar und mehr! Den Preis bestimmen sie. Unter einen Dollar bezahlen sie pro Quadratmeter. Dahinter stecke ein Plan! vermuten die besorgten Bosnier.

Die bosnischen Muslime fühlen sich nun in der Zwickmühle. Von den Westeuropäern sind sie unter Generalverdacht als Muslime geraten und von den Arabern als schlechte Moslems ins Visier genommen, denen der „echte Islam“ beigebracht werden müsse.

Am Bushof. Beim Sultan. Am Fließband. (c)SVl.

Der Schwabe, nun mit fröhlichem Grinsen, scheint seine Angst vor Arabern gänzlich verloren zu haben. Er hat sich nun noch näher an die Gruppe der bärtigen Jungs in den kurzen Hosen und mit den düsteren Blicken gewagt. Ein Agent? Bond? James Bond? Der im Auftrag der Geheimdiensten seine Antenne  im „Sultan“ installiert? Um die gefährlichen Pläne der verlorenen jungen Männer rechtzeitig zu vereiteln?

Er liebe die Welt, sagt er. Seine Familie lebe seit 500 Jahren in Stuttgart, aber er sei lieber unterwegs. Früher als Schreiner, jetzt als Manager „bei Bosch“. Er habe sein Abitur auf dem zweiten Bildungsweg nachgeholt, dann BWL studiert. Wirtschaft dirigiere heute die Politik. „Früher war es andersrum“, palavert er.

Zu spät?

Die Teegläser der jungen Araber sind schon längst ausgetrunken, einer unter ihnen, der mit dem längsten Bart, hält gerade einen Vortrag; er blickt ernst, mürrisch, die anderen hören konzentriert zu, einer kaut an den Resten seines zusammengerollten Döners.

„Die könnten die Brüder von Che und Castro sein, wenn sie nicht so böse gucken würden“ will ich sie freundlich dekodieren, beiße mir aber auf die Lippen, schwärme lieber von Aachen, der Eifel und der Dreiecks-Region, in dem Deutschland endet und Europa beginnt, oder andersherum?

Er liebe diese Stadt „der deutschen Königen, Kaiser, Kurfürsten…“, leider sei er hier nur  unterwegs,  immer auf dem Weg nach Europa: nach Brüssel, Paris, London…, sagt der Schwabe und schaut durch die dicken Fensterscheiben auf die dunkle Strasse. Heute bleibe erzum ersten Mal  „beim Karl“ über  Nacht. Ganz in der Nähe vom Aachener Dom. Morgen gehe es weiter nach Luxemburg… Der Schwabe wackelt auf seinem Stuhl hin und her. Er hoffe, sagt er, dass die Welt noch lange so bleibe…

„So bleibt?“  staune ich.

„Die Welt darf nicht so bleiben!“ protestiere ich: „Die Armen können nicht immer ärmer und die Reichen nicht immer reicher werden!“

„Für die Veränderung ist es leider zu spät!“ sagt der Schwabe.

„Zu spät?“

Er sei seit zwanzig Jahren „global unterwegs“, er wisse, wie „die Bosse und Drahtzieher“ tickten:

„Keiner gibt etwas ab ohne Widerstand“ sagt er.

Ich nicke. Leider hat er Recht.

„Jede Veränderung bedeutet Krieg und Vertreibung!“ Sein besorgter Blick wandert durch die Sultan-Bude, die nach Knoblauch, Lamm und Frust riecht.

Ich schweige. Dem „Agenten vom Schwabenland“ muss ich heute Abend beim „Sultan“ zum dritten Mal Recht geben.

Vor einem Vierteljahrhundert habe ich mein Ex-Land und Ex-Leben im Krieg verloren. Seitdem kommt die Welt nicht zur Ruhe. Seit dem gab es den 11. September, Afghanistan, Irak, Israel, Libanon, Arabischer Frühling, Syrien… IS…

Die Weltretter

In dieser Nacht wälze ich mich auf der harten Matratze hin und her, die scharfe Sultan-Soße klettert bis zur Kehle, meine Augen wach wie die von Eulen kreisen über die kargen Wände meines neuen Zuhauses. Bevor der Clown aus dem Hof mit seiner dicken Träne auf Zehenspitzen in mein Zimmer reinkriecht, sehe ich weiß.

Auf Ski jage ich die bosnischen Berge herunter. Mit Tito und Vucko. In einer ungeheuren Geschwindigkeit fahren sie an mir vorbei. Der Schwabe und der Sultan folgen meinen Helden. Mit Kalaschnikows auf dem Rücken. Ganz hinten sehe ich auf wackeligen Beinen in Hochwasser-Hosen die bärtigen Jungs. Es sei ein Wettbewerb, um die Welt zu retten! höre ich die Donner-Stimme des großen Herrn vom Himmel über mir. Ich erschrecke, will los fahren, sehe wie meine Ski sich verknoten. Ich falle hart auf dem Boden und lande in einer weißen Wolke.

Mehr von Slavica Vlahovic

Im Spiegel – Träume & Albträume einer Stadt

Zwei Männer, zwei Gegenpole einer Stadt. Die Stadt, eine ungerechte Mutter, hat dem einem alles gegeben, dem anderen alles genommen. So schien es mir erstmals.

Ich bin neu in  Aachen. Mein erster Spaziergang geht durch die engen Gassen der Stadt, die mich, eine Fremde, ausgesucht hat, sie und ihre Region auf meine schräge Weise zu sehen und zu vermessen.

Mein Blick hüpft hin und her. An einer Fassade hängt ein in tiefen Gedanken versunkener Steinkopf. Ich nicke ihm zu und jage weiter die gepflasterte Straße entlang in Richtung des imposanten Gotteshauses im Herzen der Stadt. Die grauen Töne am Horizont überdecken die Sonnenstrahlen und spucken die ersten Regentropfen aus, die mitten auf meiner Stirn landen. Ich suche Schutz und lasse mich von einem geräumigen Feinkostladen mit großen Fensterscheiben und kleinen Leckereien in der Glasvitrine, kleinen Teigversprechungen in vier Variationen, verführen.

Monsieur Belgier mitten in Aachen

Als ich die Tür öffne, springt eine Mittdreißigerin mit kurzem Haarschnitt und zerknittertem dunklem Leinenanzug vom Stuhl auf. Ihr Blick wandert unruhig über die Straße, die gerade mit dicken Regentropfen gegossen wird. Sie zieht ihren kleinen Regenschirm aus der Tasche und küsst den Ladenchef zum Abschied auf die Wange. Er, gepflegter Vollbart und seidiges Haar in einen Dutt feingebunden, hält seinen Kopf so gerade, als ob zehn Kameras auf ihn gerichtet wären. Mit feinen, fast mädchenhaften Gesichtszügen und der dünnen blasen Haut wirkt er auf mich wie eine Trend-Wachsfigur aus dem Museum von Madam Tussaud. Als sein weibliches Pendant, die Kurzhaarige, die Tür hinter sich schließt, widmet er sich sofort mir. Selbstverständlich darf ich mich an den selben Stehtisch hinsetzten, den einzigen im Laden, an dem er kurz davor mit meiner Vorgängerin am Fenster saß.

Meine Augen kleben an der Glasvitrine mit den kleinen französischen Teilchen.

„Petit fours“… sagt er mit der Betonung auf der letzten Silbe.

„Meine eigenen Variationen“ fügt er stolz hinzu. Meine Zunge kreist um meine Lippen. Ich bestelle das Stück mit frischem Ziegenkäse und dem Feigenmus. Beide Geschmäcker in einem so kleinen Stück zu kosten, lässt mich vor Vorfreude auf dem Stuhl hin und her rutschen. Dazu eine rosa Limonade aus Belgien, Holunder mit kaum Zucker: Göttlich.

Der Chef, die graziöse Eleganz in Person, serviert mir das Teilchen auf einem alten, gemusterten Goldrandteller. Ich fühle mich wie eine Auserwählte.

Seine Mini- Ziegen-Feige-Leckerei, die vor mir auf dem dünnen vergoldeten Teller wie ein Bild liegt, traue ich mich kaum anzubeißen. Mit der Zier-Gabel seziere ich das Stückchen und lasse kleine Partikel in meinem Mund langsam zergehen. Das Teilchen wirkt wie Homöopathie. Meine Zunge spürt keine Ziege oder Feige mehr, sondern nur noch seinen Stolz, seinen Stil, seine Muße. Hier könnte ich genüsslich abnehmen, schießt es mir durch den Kopf. Nix verschlingen, sondern kleine Bisse verschmelzen lassen, sie gaanz laaaange kauen …

 Daniels Traum

Er steht vor mir wie ein Held auf der Bühne, sein Kopf leicht seitlich gebeugt, studiert meine Reaktion. Die ist üppig. Ich schnalze und schmelze vor Genuss.

Mein Blick wandert über die Wände und studiere den Rest seiner in den Vitrinen aus feinen Holz bis zur hohen Decke gestapelten Produkte. An zwei Wänden in groben Holzvitrinen wie Museums-Exponate präsentiert: sechs Käsesorten, Wurst, Wein, Marmeladen… fein drapiert mit handgeschriebenen Etiketten und mit stolzen Preisen geschmückt.

Hip und bieder: Feinkostladen, Café, Traumfabrik

Er scheint mit sich und der Welt völlig stimmig zu sein. Alles sitzt an ihm. Sein Geschäft, eine Bühne, die Mischung aus hip und bieder, Feinkostladen, Café, Traumfabrik, sein Werk. Alles seine Ideen und natürlich seine Handarbeit. Meine Neugier für die „One-Man-Show“ des um die dreißig Jahre jungen Unternehmers geht langsam in Bewunderung über. Das spürt er und wird gesprächig.

Seine Bärlauch-Butter und alle Pestos mache er immer selber, sagt er… Nach alten, guten Rezepten seiner belgischen Großmutter, die heute noch ein kleines Restaurant besitzt. Seinen Geheimort in einem schattigen Busch im nahliegenden Stadtwald, in dem „sein Bärlauch“ wächst, hat leider ein Obdachloser entdeckt. Der reisse sogar die Wurzeln raus, beschwert er sich empört.

Ich schmunzle. Auch meine Kölner Nachbarin kämpft jedes Frühjahr gegen eine Schar Koreaner, die sich an „ihrem“ Bärlauch vergehen. Und ich nehme den Türken aus der Kölner Südstadt sehr übel, dass sie mir jedes Jahr in „meinem“ Nippeser Tälchen Walnüsse vor der Nase wegpflücken.

Er lacht. Seine Zähne glänzen wie Perlen.

Alle seine Produkte, ob Bärlauch-Butter, Orangen-oder Feigenmarmelade stehen unter einem Label.

„Daniel heißt es“, sagt er, „wie ich“.

Er verkaufe sie jetzt auch im Internet. Weltweit. Geschäftlich sei er analog und digital, lokal und global unterwegs. Er sei eine Art „Taste -Botschafter seiner Heimat“. Belgien in Deutschland.

„Ach was?“ Ich bin irritiert. Mein erster Aachener Feinkostgastronom ein Belgier? Sein Deutsch klingt einwandfrei. Akzentfrei. Er lächelt. Seit 10 Jahren lebe er in Deutschland und habe seinen Akzent inzwischen abtrainiert. Vielleicht weil er von Anfang an in der Gastronomie gearbeitet habe und überwiegend Deutsch spräche. Nun sei er seit einem Jahr sein eigener Chef.

Ich bin beeindruckt. Und ein bisschen neidisch. Er imponiert mir und stellt mich in Frage. ‚Was wäre mein Traum’, frage ich mich.  Warum bin ich meinem Balkan-Akzent nach fast einen Vierteljahrhundert so hartnäckig treu geblieben? Um mit meinem ewig rollenden „rrrr“ und dem im Gurgel steckend gebliebenen „llll“ einheimische Ohren zu kratzen? Ich liebe gutes Essen, komme auch aus einer Gastronomen-Familie, aber beim Kochen werden meine beiden Hände links. Obwohl ich die besten Köche der Welt immer um mich hatte. Vielleicht deswegen?

Und während sich sein Ziegen-Feigen-Teilchen in meinen Magen bequem verteilen, erkämpft die Sonne wieder den Horizont. Bevor ich mich von dem stolzen Belgier verabschiede, der in Aachen, der deutschen Grenzstadt, seinen Traum lebt, kaufe ich noch eine sündhaftere teure Orangenmarmelade in einem Miniglas verpackt. Mein deutscher Mann wird sich freuen.

 

Toms Alptraum

Ich finde mich in den fremden Städten schnell zurecht. Leichter Gang, große Augen, verträumt.. „Leichte Beute!“, würde meine Mutter sagen. Und tatsächlich. Kaum habe ich mich fünf Schritte von einem belgischen Traum entfernt, sprich mich ein anderer Mann an. Sein Name ist Tom und er sucht eine Übernachtungsmöglichkeit.

Seine Augen sind ruhig und fragend, sein Bart dicht und so ordentlich gekämmt als ob er an seinem mageren Gesicht und an den dünnen Hals geklebt wäre. Er spricht leise, ich spitze meine Ohren, ich verstehe nur ein Wort:

«Herberge».

Ein altmodisches deutsches Wort, denke ich mir, das nach Armut und Knappheit riecht. Oder doch ein Retrowort aus der Hipster-Welt so wie „Heimathirsch“, „Hornochse“, „Fette Kuh“, „Dicker Hund?“, Namen der neuen Läden, die um mich herum wie die Pilze wachsen.

„Herberge“ – das Wort hat mit dem Partikel «her» und dem Nomen «Berg» wenig zu tun, oder vielleicht doch?

Den Mann hat gute Manieren, einen feinen Sprachduktus und coole Klamotten. Sein Karo-Hemd, seine braune Hose, alles sauber, gebügelt und solide. Er ist mager, seine dunklen Augen blicken unruhig.

‚Ein Hipster-Veganer vielleicht?’ schießt es mir durch den Kopf. So wie mein Neffe aus Berlin, der gerade sein Sieben-Tage-Hunger -Experiment beendet hat, um seinen Willen zu stärken und die Kontrolle über seinen 60 kg- Körper noch ein Stück mehr zu beherrschen.

„Ich bin hier neu. Mein erster Tag in Aachen!“ höre ich mich sagen. Es klingt wie die Offenbarung einer Kontaktsuchenden und als Entschuldigung zugleich.

„Ich weiß wirklich nicht, wo Sie hier eine ‚Her…berge’ finden könnten. Aber es gibt bestimmt ein günstiges Hostel in der Nähe oder eine andere Übernachtungsmöglichkeit… Warten Sie, der Mann hier im Laden kann Ihnen bestimmt besser helfen …“

Träume & Albträume einer Stadt

Ich drehe mich um und sehe hinter der großen Fensterscheibe Daniel, den Belgier, der in seinem Traumladen meinen leeren Teller gerade aufräumt.

„Neeein!“ wehrt der Mann mit dem dichten Bart meinem offensichtlichen voreiligen Ratschlag ab.

„Sie haben mich, glaube ich, nicht verstanden…Wo eine Herberge hier zu finden ist, weiß ich zu gut, leider fehlt mir das Geld… und wenn Sie so nett wären.. mich mit ein paar Groschen zu unterstützen…wäre ich Ihnen sehr dankbar.“ Die Worte sprach der dürre Mann noch leiser, beugte sich dabei wie verschämt ein Tick weiter nach unten.

Ich bin überrascht.

‚Hat ihm vielleicht jemand das Geld gestohlen?’ fragte ich mich. Die Aufmerksamkeit nimmt nämlich ab, wenn man mit einem leeren Magen kämpfen muss. Als ich einmal fasten wollte, hörte ich unterwegs plötzlich meine Großmutter, die nach saftigen Fleisch schrie, und habe meine Handtasche verloren. Die Stadtdiebe warten auf Naive, Abwesende, Zerstreute und die, die sich selbst bestrafen.

„Also Sie brauchen Geld? Wie sind Sie in diese Situation gekommen, wenn ich fragen darf?“

Fremde Menschen um Hilfe zu bitten, stelle mir nicht so einfach vor. Meine direkten Fragen, ohne lange um den heißen Brei zu kreisen, überraschen mich gar nicht mehr. Ein Neuling in der Stadt hat die Narrenfreiheit, darf wie ein Kind die Welt mit seinem «Warum» nerven. Tom und ich müssen uns nichts vorspielen. Als Aliens, die nicht dazugehören, dürfen wir die ganze Wahrheit schneller erfahren.

„Wollen Sie das wirklich wissen?“ fragt er.

„Und wie! Vor allem, weil ich Sie überhaupt nicht mit einem Bettler in Verbindung bringen kann.“

„Ich bin kein Bettler“ wehrt sich mein Gegenüber. „Ich spreche nur manchmal Menschen an, wenn ich glaube, sie würden mir vielleicht helfen wollen…“

„…ein Liebesdrama!“ sagt er nach einer kleine Pause, kratzt sich am Kopf, sein Blick schwebt über die Dächer. Er sei zwischen Weihnachten und Silvester vor seiner Ehefrau geflüchtet. Zuerst fand er Zuflucht bei seinen Freunden, nun wohnt er seit vier Monaten im Wald. In einem Zelt, am Rande der Stadt. Er versuche verzweifelt, wieder „die Kurve zu kriegen“. Einmal in der Woche dürfe er sich bei einem Priester duschen und die Klamotten waschen. Und wenn es ihm ganz schlecht gehe, sammele er Geld für die Herberge.

„Was ist passiert? Warum sind Sie von ihrer Frau geflüchtet? Und ausgerechnet mitten im Winter?“ frage ich wie eine Psychologin. Ich spüre wie mich seine Geschichte packt.

„Warum wollen Sie das alles wissen?“ fragt Tom.

„Weil das jedem passieren kann. Und weil ich das verstehen will. Und ich sie sympathisch finde.“ sage ich.

„O.K.“ sagt Tom.

Tom und seine Frau seien 17 Jahren eine Paar gewesen. Beide in Duisburg geboren und aufgewachsen. Vor drei Jahren hätten sie geheiratet und nach Aachen gezogen. Sie fanden in Aachen eine Wohnung und Jobs; er als Dachdecker, sie als Verkäuferin. Die Armut in Ruhgebiet dachten sie, für immer hinter sich gelassen zu haben. Doch der Winter hieß Kurzarbeit, er blieb zu Hause. Den letzten Herbst verlor auch sie ihren Job. Das Geld wurde knapp. Sie begannen sich zu zanken. Und das sei immer schlimmer geworden. Und es habe nicht aufgehört…

„Es gab keine andere Chance…als Fliehen…und das ist gut so.“

„Haben Sie Familie? Eltern? Geschwister, jemanden, der Ihnen helfen kann?“ frage ich weiter und überlege, was würde ich tun, wenn ich als Frau, als ausländische Frau dazu, in so einer Situation kommen würde. Ich würde meine Geschwister anrufen. Auch wenn wir uns seit Jahren zanken und immer seltener am gleichen Strick zeihen, würde ich sie um Hilfe bieten.

Seine Eltern seien beide tot und sein Bruder lebe weit weg, in Berlin. Sozialhilfeempfänger. Und auch wenn er in Aachen leben würde und einen guten Job hätte, würde er ihn nicht belästigen.

„Wir waren uns nie so nah…“ sagte er trocken.

„Ich verstehe…“

„Warum nicht zum Onkel Hartz gehen“, frage ich?

„Ich meine Hartz Vier? Deutschland ist Gott sei dank ein Sozialstaat. Keiner muss auf der Straße leben. Auch nicht im Wald leben. In einem Zelt. Wie auch immer?“

„Nein. Das will ich nicht. Das wollte ich nie. Aber es ist dazu gekommen“ sagt er geduldig. Seine Augen sehen sehr müde aus. Die Bürokratie in Deutschland sei hart:

„Harz IV ist für die Robusten, wissen Sie.“ meint er. Er gehöre leider nicht dazu. Er habe versucht eine Wohnung in Aachen zu bekommen, aber das scheint schwieriger zu sein als „einen Sechser im Lotto zu treffen“. Die Wohnungen, die Harz IV bereit wäre zu zahlen, gibt es in Aachen gar nicht mehr. Und ohne einen Job sei es praktisch unmöglich. Um einen Job wiederum zu bekommen, brauche er zuerst eine Adresse. Die er jetzt nicht habe, erklärt er mir und schaut mich so an, als ob er Mitleid mit mir hätte.

Langsam verstehe ich Tom und ich beginne mich, zu schämen, ihn mit so vielen Fragen belästigt zu haben. Doch eine Frage habe ich noch:

„Sie haben etwas erlebt, wovor jeder Angst hat: die Obdachlosigkeit. Sie sind, wissen Sie, uns allen jetzt ein Stück im Voraus. Jetzt wissen Sie, wie die Menschen wirklich sind. Wie die Menschen ticken, wenn sie ihre Masken abziehen, wenn Sie vor ihnen stehen, und sie nach Geld fragen?“

„Die Menschen sind mit oder ohne Masken gleich. Sie denken in Schubladen und urteilen schnell und moralisch. Manche beschimpfen mich, ich sei drogenabhängig, ein Alkoholiker, Lügner oder was auch immer. Manche bespucken oder verjagen mich und wollen mich treten und schlagen. Es gibt aber auch manche, die bereit sind mich mit ein paar Groschen zu unterstützen.“

„Die können dann aber die Schlimmsten sein. Die wollen alles ganz genau wissen… können gar nicht aufhören mit ihrer Fragerei… eine Qual …“

Meine Fragen sind um. Mein Blick klebt am Boden. Ich fühle mich ertappt und bin konfrontiert mit der Arroganz des Betrachtens.

‚Was mache ich hier, eigentlich?_ frage ich mich . ‚Wer bin ich überhaupt, um so unverblümt die Menschen auszufragen, in ihrem Schmerz, Traum oder Albtraum einzudringen? Sie beobachten, ihnen diese direkten Fragen zu stellen? Darf man das?’

Tom, der seinen Albtraum mit erhobenem Kopf wie Prometheus lebt, der den Götter Licht geklaut haben, um den Menschen Wahrheit zu schenken, hatte mich angesprochen, weil er eine Bleibe suchte und mich auf den Boden geholt. Für mich, in meiner Entdeckereuphorie war er ein Studienobjekt wie der Feinkost- Schönling aus dem Hipster Laden mitten in der Stadt.

Die Schreiberin hat sie beide unter die Lupe genommen wie Touristen die einheimische Aborigines im Busch.

Bevor ich meinen Blick von Boden erhebe, überlege noch kurz, was ich Tom geben soll… Einen Schein, 5er oder auch 10er hatte er bei mir längst verdient, ich befürchte aber, er könnte es als meine Überheblichkeit oder als mein Schuldgefühl verstehen. Ich bin eitel, und dazu die Enkelin meines Opas. Als der Schlitzohr sein eigenes Restaurant in damaligen Jugoslawien betrieb, stellte er uns Enkelkinder oft vor einer schweren Wahl, entweder das kleine Schein oder so viel Minimünzen aus einer dünnen Vase mit einer Hand zu greifen..   Ich will dem armen Tom in Ruhe lassen, wühle kurz in meinen Geldbeutel, drehe ihn um, bis die ganzen Münzen auf seine Hand fallen..

„Mach et juuut!“ verstecke ich meine Unsicherheit hinter dem lustigen kölschen Gruß.

„Du auch!“ sagt Tom, wirft einen kritischen Blick auf seinen Handfläche auf der meine Münzen als Zeugen der Peinlichkeit unserer kurzen Begegnung liegen, lässt sie klingend in die Hosentaschen gleiten, hängt seinen schweren Rucksack über den dürren Rücken und biegt mit schwerem Schritt in eine enge Gasse links. Ich drehe mich um, schwitze…

„Na, Alien, wo geht die Reise jetzt hin…?“

Ich nehme die umgekehrte Richtung, marschiere auf die schöne Aachener Kathedrale zu. Von einer seitlichen Fassade glotzt mich nun ein goldener Heilige mit dem Kreuz in einer Hand und dem Feder in der anderen? Als ob er fragen würde:

„Na, Alien, wo geht die Reise jetzt hin…?“

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Wie Aachen zu mir kam – Versagen, eine Vorgeschichte (4)

Folge 4 

Ob seine Frau für immer nach Peru geflogen sei oder ob sie doch noch zurück nach Deutschland komme, frage ich. Manni beißt sich auf die Lippen, zieht stumm seine Augenbrauen hoch. Das wisse er noch nicht, sagt er dann. Sie melde sich nicht mehr.

„Macht Dir keine Sorge.“ sagt Hannes.

„Sie kommt zurück. Alle Frauen kommen irgendwann zurück.“

Ich will lieber nichts dazu sagen.

„Von der Heimatliebe lebt man doch nicht ewig!“ sagt Hanni und versucht dann mit mir zu kokettieren:

„Tako je, ili?“ sagt er in meiner Sprache, was so viel heißen soll wie „Ist es so, oder nicht?“

Ich runzle die Stirn. Woher er meine Sprache kenne, frage ich.

Als junger Mann habe er auf dem wilden Balkan eine Zeit lang gelebt und dort auch studiert: Bulgarisch, Griechisch und Romanisch!

„Ach!“ staune ich. „So viele unterschiedliche Sprachen?“

„Natürlich ohne Abschluss!“ faltet er seinen Mund. Zählen kann er aber heute noch in allen diesen Sprachen. Den Balkan kenne er besser als seine eigene Tasche, sagt er. Irgendwann habe er die Chaoten satt gehabt.

„Verstehe… aber ich verstehe immer noch nicht, warum drei so unterschiedliche Sprachen?“ Griechisch, Bulgarisch und Rumänisch seien, auch wenn die Länder aneinandergrenzen, gar nicht verwandt… alle drei erfolgreich abzuschließen, würde ich sicherlich auch nicht schaffen können, höre ich mich das Verständnis für Hannes Balkan-Misserfolg zu zeigen. Warum habe er es sich so schwer gemacht hat, will ich wissen.

Aud der Spuren der alten Geschichte

„Ach, warum??“ Das sei der deutschen Geschichte zu verdanken, murmelt er. Er wollte weg aus Deutschland. Einfach weg. Irgendwo leben, wo man ihn nicht sofort in Verbindung mit dem Faschismus, mit der deutschen Schuld und all den Verbrechen des Zweiten Weltkriegs bringe. So sei er Ende der 80er unter anderen auch nach Sofia gereist. Vorher sei er viel im Westen unterwegs gewesen… Und egal wohin er ging, ob nach Holland, Frankreich oder England, habe man ihn überall sofort in Verbindung mit Hitler gebracht und mit seinem Verbrechen konfrontiert oder beschimpft. Er habe „die Nase voll davon“ gehabt; keine Lust gehabt, sich ständig schuldig zu fühlen, sich immer wieder entschuldigen und rechtfertigen zu müssen, dafür, was er selber gar nicht getan habe, wofür er nichts könne. Im Bulgarien habe man ihn kurz vor der Wende mit seinen „Vaterland-Sünden“ in Ruhe gelassen. Als Deutschen habe man ihn dort hinter dem eisernen Vorhang, „im kaputten Sozialismus“, eher mit dem deutschen Wunder, Wohlstand, Mercedes und der beliebten deutschen Mark assoziiert. So entdeckte er Stück für Stück den wilden Balkan: seine Wunderländer Jugoslawien, Bulgarien, Griechenland, Rumänien. Überall standen ihm die Türen offen.   Hanni hatte Freundlichkeit und das Interesse der „Balkanjeros“ an ihm und seinem Deutschland in vollen Zügen genossen. Die Bulgaren, Rumänen, Jugos, Griechen hätten sein Land bewundert und die deutsche Tugenden: Fleiß, Disziplin, Ordnung, von dem er in die Welt geflüchtet sei, gelobt. Alle wollten nach Deutschland. Hanni habe sich wie ein Prinz gefühlt und entschied sich mit 28 zu studieren… Sprachen. Auch um die „Balkanjeros“, seine neuen Freunde, die ihn einen neuen Blick auf sein Deutschland, geschenkt hatten, besser zu verstehen und zwar im Original, in ihren Sprachen. Dass die drei Sprachen aber so unterschiedlich seien, dazu jede schwerer als die andere, das habe er natürlich nicht sofort gewusst. Nach fünf Semestern habe er dann sein Traum an den Nagel gehängt…

Mein 1.Stammtisch

Hannes lebt heute alleine, ohne Frau und festen Beruf… Als Kölner Boheme scheint er sich äußerlich fröhlich und unbekümmert   durch die Tage zu schunkeln. Seine Aufgabe heute Nacht, seinen alten Kumpel Manni zu trösten, aber nimmt er sehr ernst.

Alte Freunde aufzurichten, die sich „Luxusprobleme wie Frau und Beruf leisten können“, das mache ihm „viel Spaß“, sagt er und grinst.

Also doch: Mujo und Haso, die sich in  Hanni und Manni verkleidet haben.

Manni, der Unglücksrabe, der Pendler zwischen Köln und Aachen, dessen Gedanken um seine geflüchtete peruanischen Ehefrau kreisen und sein zynischer Tröster, der Jugendfreund Hannes, bestellen uns allen noch eine Runde Bier.

„Etwas stärkeres, balkanisches…tschechisches bitte!“

Der Tscheche aus der Flasche macht aus uns Experten für alle wichtigen politischen Fragen der Zeit. Hanni stürzt sich auf Angela, `den Mafiaboss mit mädchenhaftem Lächeln, die alles schaffen will und dabei ihre Feinde meisterhaft verschwinden lässt`. Mein deutscher Mann lobt Martin, der mit ihm nicht nur die Partei retten , sondern auch die Gerechtigkeit in Deutschland wiederherstellen will.

„Vergiss es!“ sagt der kleine, dicke Hannes abwertend.

„ Gerechtigkeit ist mi DER Partei nicht mehr zu holen.“

Hannes ganze Familie habe traditionell seit Jahrzehnten Rot gewählt, jetzt seien sie aus Protest und Wut alle ausgestiegen.

Wohin seien sie übergelaufen, will ich fragen, beiße mir aber auf die Zunge. Wählen ist eine zu private Sache, erinnere ich mich. So wie Sex und Religion…

Die letzte  Folge: Verschwörung – analog – bei der Lesung in Aachen, das Bergfest, am 31. 08. 2017  

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Wie Aachen zu mir kam – Verzweiflung, eine Vorgeschichte (3)

Ach, Aachen

Folge 3 

Einer ist fast zwei Meter hoch, stechender Blick, kurzes dichtes dunkles Haar, Augenringe, tief gebeugt, um dem anderen besser folgen zu können. Der marschiert vorneweg, ist eine halben Kopf kürzer, dünnes Haar, spöttisches Lächeln und in den Hüften doppelt so breit. Er hat meine Handbewegung sofort registriert und nach einer kurzen Irritation und drei, vier weiteren Schritte, bleibt er mitten in der Kneipe stehen, der Lange auch, der Kurze dreht sich auf einmal um und geht entschlossen auf mich zu. Der Lange folgt ihn wie ein Schäferhund.

„Hi!“ sagte der Kurze.

Jetzt war ich verdutzt.

„Hi!“ grüße ich zurück, bevor ich nüchtern zugebe:

„Sorry, ich glaube, ich habe Euch mit jemandem verwechselt…

„Macht nichts!“ sagt der Lange: „ Seid ihr hier öfter?“

„Hannes!“ stellt sich der Spöttische mit den runden Hüften vor.

„Manfred“, der Lange mit dem leidenden Blick und fährt fort:

Er sei Privatdozent, unterrichtet an einer kleinen Wirtschaftsakademie in Aachen, wohne aber in Köln und sei jeden Tag auf Rädern.

„Was? Aachen? Schon wieder!“ hätte ich fast gerufen, schaffe aber doch meine Zunge im Zaum zu halten und höre mich nur sagen

„Ach, Aaaachen…!“

Aachen verfolgt mich jetzt auch. Überall. Zwei Tage, nachdem ich von meinem Glück erfahren habe, für ein Stipendium als Regionalschreiberin in Aachen ausgewählt worden zu sein, war ich in Düsseldorf bei einer Messe. Auf dem Weg zurück suchte ich die nächste Bahnverbindung nach Köln und stieg in einen Zug nach Aachen ein und verpasste Anschluss, landete in Mönchen Gladbach! Was natürlich meinen deutscher Mann bis heute amüsierte… Drei Tage später traf ich bei einer Lesung eine sympathische Dichterin aus Aachen, die mir versprach, „ihr Aachen“ zu zeigen, wenn ich in die Stadt ankomme. Vier Tage später begegnete ich bei einem Projekt im Seniorenheim einer älteren Dame, die mich mit den Projektteilnehmern zu sich auf ihr Zimmer nahm, um uns eine ganze Stunde vor ihrer dramatischen Kriegskindheit natürlich in Aachen zu erzählen…

Nun hat sich auch noch mein „Mujo“ als Köln Aachener-Tagespendler entpuppt.

Ein bisschen „blöd“ sei es schon, meint Manfred. Vor allem für die Beziehung… Seine Frau halte das manchmal nicht aus… Als er erfährt, wo ich herkomme, fragt er sofort, wie oft ich in meine Heimat fahren muss. Um bei mir zu bleiben…

„Sie meinen nicht verrückt vor Sehnsucht?“

Er nickt.

„ Na ja, mindestens ein Mal im Jahr. Zwei Mal wäre natürlich besser “, sage ich.

„Siehst Du!“ sagt der Hannes der heute Abend offensichtlich als alter guter Kumpel eine wichtige Rolle spielen darf. Er darf Manfred trösten.

Seine peruanische Frau ist verschwunden. Abgehauen, abrupt, aus heiterem Himmel… in die Heimat. Nach einem Streit, vermute ich. Manni kann seine Verzweiflung nicht verstecken. Und ich, eine fremde Frau, die noch bei ihrem deutschen Mann sitzt und mit ihm spricht und Kölsch trinkt, scheinen jetzt Mannis letzte Hoffnung zu sein…

nächste Folge: Versagen

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Wie Aachen zu mir kam – Verfolgung, eine Vorgeschichte (2)

Folge 2   

Tatort: Flora 6

Er, mein deutscher Mann, sitzt nun mir, seiner bosnischen Ehefrau, am Frühstückstisch gegenüber.  Ich höre wie er seinen schwarzen Tee, Marke Assam, den ich ihm wie schon seit Jahren extra stark zubereitet habe, schlürfe. Das leckere Müsli mit frischen Mango, Apfel und Bananen, klein geschnitten und mit echtem griecheschen Jogurt übergossen, den wir beide so lieben, hat er nicht berührt.

Er guckt mürrisch. Einen Löffel nimmt er verkrampft in die rechte Hand, mit der linken stützt er seinen schweren Kopf. Seine Gedanken an die seltsame Begegnung in der Kneipe an Vorabend mit den beiden Männern, die ihm seine bosnische Frau aus purem Leichtsinn, aus Versehen oder wegen ihrer völlig irrationalen Tagträumen angetan hat, scheinen ihn noch immer zu quälen.

Statt sich für sein brandneues Büchlein, gebunden in rotem Leinen und mit den drei eingravierten Buchstaben   und dem spannenden Text am Ende, den er auch noch nicht kennt, zu interessieren und sein neues politisches Engagement locker beim Bier zu bewundern, hat sie den wildfremden Menschen zugewunken und   die Geister gerufen, die sie nicht mehr so schnell los werden.

Seine Laune kippt; seine Hoffnung auf eine gerechtere, freiere und bessere Welt wurde gestern Abend wieder auf den Kopf gestellt. Nur weil sie, seine komische Frau, ihre beiden albernen Bosnier nicht nur in ihren Träumen überall vor sich sieht.

Ich kann mich von Mujo und Haso tatsächlich nirgendwo verstecken. Die beiden bosnischen Urgestalten verfolgen mich auf Schritt und Tritt. Ich sehe sie überall. Seit Jahren sitzen die beiden Bosnier in ihren schweren Trucks und machen Picknick zwischen zwei LKWs und grinsen jeden an, der vorbei geht. Vor ihnen zwei frisch geöffnete Dosenbier, drei Fleischkonserven, Brot und Schnaps. Sie steigen aus den überfüllten Balkanbussen aus, stecken sich eine Kippe in den Mundwinkel , schütteln ihre eingeschlafenen Beine in den Trainingshosen mit den drei Streifen, drehen die Köpfe hin und her und glotzen dann die Welt an, als ob sie sie zum ersten Mal sehen würden. Sie sprechen laut und lachen ständig als ob es noch wirklich etwa zum Lachen gäbe. An den Grenzübergängen nach Europa verwirren sie die EU-Beamten regelmäßig. Mit ihren lässigen Bemerkungen, schrägen Witzen und zweideutigen Augenzwinkern wissen die steifen EU-Herren nichts anzufangen. Sie nicken nervös und versteifen sich noch ein Tick mehr. Mujo, der Bosnier, sieht es und schämt sich, und glaubt, er müsse einen noch besseren Witz machen, einen, den der EU-Beamter vielleicht versteht…

Auch Haso, sein Freund, hat seine Kippe zwischen die Zähnen gesteckt und zündet sie gierig an. Nach der stundenlangen Fahrt durch die kurvigen Balkanberge und dem ewigen Entzug im Bus, will er den brennenden Tabak in seinem Mund in Medizin verwandeln. Ihre müden Augen umrandet von tiefen Falten und dunklen Schatten beginnen nach dem ersten tiefen Zug in alle Richtungen zu flattern. Unbekümmert und sehr selbstbewusst starren sie   die Welt an, ohne es zu merken, dass die Welt zurückblickt.

Gefangen in ihrer Rolle der Beobachterin…

Mein deutscher Mann ist ganz anders. Wie ein Philosoph denkt er ständig, was die anderen von ihm denken und bemüht sich, die Welt und mich von sich zu überzeugen. Nun zieht er sein rotes Parteibuch aus der linken Jackentasche. Er ist gerade in eine Geschichte eingestiegen, aus der die anderen wütend und enttäuscht rausmarschieren. Gerechtigkeit, Gleichheit, gleiche Chance und Bildung für alle! Seine alten Ideale schmücken die abgewälzte rote Fahne der Partei immer noch. Die Krise sieht er, mein deutscher Mann, als Chance! Als seine Chance. Er will jetzt der Partei unter die Arme greifen. Das mit Euphorie und Lust versuchen zu retten, was nicht mehr zu retten scheint, das liebe ich an ihm. Auch seine Treue den jungen Idealen, die er nun mit seiner frischen Reife unterstützen will, imponieren mir.

Der Phönix aus der Asche breitet seine Flügel aus, als die beiden glotzenden Männer mit tief in die Hosentaschen gesteckten Händen, hereinspazieren. Er erzählt, gerade aufgeregt vor seinen historischen Aufgaben, wie er mir, seiner bosnischen Ehefrau, eine  neue Perspektive öffnen möchte. Ich, die Schreiberin, gefangen in meiner neuen Rolle der Beobachterin,  fange auf einmal den Blick der beiden Männer und sehe, wie meine Hand wie von alleine sie grüßt…

Nächste Folge: Verzweiflung

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