Vergangenheit ist ein fremdes Land (Teil II)

Frau Rademacher, was haben Sie selbst denn so gearbeitet? Allet möjliche, sagt sie. Beim Hitler, sagt sie, musste man ja das Pflichtjahr verrichten, das galt für alle Mädchen und Frauen unter 25 Jahren, da ist sie bei einem Bauern gewesen zum Unkraut rupfen, Heu machen, Gaben binden, Kühe melken, dem Schwein die Läuse ablesen, dicke schwarze Läuse, sagt Frau Rademacher und gruselt sich immer noch.

Der Bauer hatte einen Zwangsarbeiter, einen Polen, der hieß Kasimir, 18 Jahre alt, ein netter Kerl, sagt Frau Rademacher, der musste die schwere Arbeit machen. Aber als der Krieg zu Ende war, war auch der Kasimir weg, und da habe der Bauer, der an Rheuma litt, sie gefragt: Meenste, Anneliese, du könntest mit dem Aujust über den Acker und eggen und walzen und das Feld fertig machen? Er hat ihr den dicken Ochsen einspannt und ihr gezeigt, wie man mit der Egge übers Feld läuft. Da war sie gerade 15 geworden.

Mit dem Ochsen – der hatte nur ein Horn, das andere hat er sich abjestoßen jehabt – ist sie auch nach Ehreshoven, zur Mühle, um einen Sack Weizen gegen Mehl und Brot zu tauschen. Der Ochse wollte nicht immer da hin, wo sie hinwollte. Aber am Ende ist immer alles gut gegangen.

Nur für den Zwangsarbeiter, den Kasimir, ist es nicht gut ausgegangen. Den hat sie ein paar Wochen später auf der Straße gesehen, in einer amerikanischen Soldatenuniform. Und noch später hieß es, er sei erschossen worden.

Auf die Geschichte mit dem Kasimir kann ich mir nicht so ganz einen Reim machen. Aber auslassen will ich sie nicht, denn zur Straße der Arbeit gehört auch die Zwangsarbeit. Und die ging selten gut aus, wie der Film „Die letzten Opfer der Gestapo“ aus dem Jahr 1946 zeigt. Allein im Zwangsarbeiterlager in Loope waren rund 240 Menschen interniert. Viele Arbeiter:innen wurden hingerichtet oder starben bei Fliegerangriffen, da sie keinen Zugang zu Schutzräumen hatten. Gedenktafeln und Gräber russischer und ukrainischer Zwangsarbeiter:innen im Oberbergischen zeugen davon.

Es hätte auch anders kommen können

Anneliese Radermacher, gelernte Hauswirtschafterin, als junge Ehefrau im Waschhaus ©Radermacher
Anneliese Radermacher, gelernte Hauswirtschafterin, als junge Ehefrau im Waschhaus

Nach dem Krieg hatte Anneliese die Wahl zwischen Hauswirtschafterin und Verkäuferin. Sie wurde Hauswirtschafterin. Sie war bei einem jungen Paar angestellt, das zog schon bald nach Düsseldorf und nahm sie mit. Einmal im Monat durfte sie heim. Da sagte die Hausfrau eines Tages, das ginge so nicht mehr, mit einmal im Monat nach Hause fahren. Ab sofort nur noch alle drei Monate. Aber die Eltern waren dagegen, kommt gar nicht in Frage, dass du noch seltener kommst. Gott sei Dank, sie waren auf ihrer Seite.

Mit 24 hat sie geheiratet. Die ersten Jahre ihrer Ehe hat sie noch bei einer Buchbinderei in Engelskirchen gearbeitet. Ich hab noch richtig dat Buchbinden jelernt, falzen, zusammentragen, einhängen und wat allet ze don war. Arbeitszeit: von 7 bis 16 Uhr in der Buchbinderei, danach Haushalt und Kochen, und am Wochenende die Wäsche. Mit über 30 hat sie ihren Sohn bekommen. Der ist der beste Sohn der Welt. Den Sinn fürs Handwerkliche hat er von ihr. Ihr Mann war mit 16 Jahren hinterm Gewehr an der Bevertalsperre gelegen, in den letzten Kriegstagen. Der konnte sein Leben lang nur noch Büroarbeit verrichten und arbeitete bei der Kreisverwaltung. Vor sieben Jahren ist er gestorben. Sein Zimmer ist jetzt ihr Arbeitszimmer geworden.

Ob sie eigentlich gerne studiert hätte, frage ich sie. Das Zeug dazu hätte sie wohl gehabt und auch den Wissensdurst. Sie winkt ab, wer weiß, ob nicht alles anders gekommen wäre, hätte sie studiert. Da verstehe ich, dass „Es hätte anders kommen können“ auch „Es hätte schlechter kommen können“ bedeuten kann.

Omas gesammelte Werke

Vor lauter Quatschen haben wir Kaffee und Kuchen vergessen, der im Wohnzimmer bereit steht auf dem hübsch gedeckten Tisch. Sie gibt mir vier Servietten mit. Kann man ja immer mal brauchen. Und Bücher gibt sie mir mit: Die Straße der Arbeit von Harry Böseke. Die Erinnerungen von ihrem Großvater mit Zeichnungen von Michael Schenk. Eine blaue Ladde mit teil handschriftlichen Aufzeichnungen: Omas gesammelte Werke, steht drauf. Selbst aus der Handschrift singt der Bergische Dialekt.

Ich laufe quer durch den Wald auf den Spuren von Anneliese Rademachers Geschichten. Ich begegne niemandem. Selbst das Ausflugslokal Bergische Schweiz hat geschlossen. Die Ziegen blöken verärgert, weil ich nichts für sie dabei habe, außer das bisschen Schweiß auf meinen Handflächen.

Vergangenheit ist ein fremdes Land (Teil I)

Weiterführende Links zur Straße der Arbeit

Die Straße der Arbeit von Schloss Ehreshovern zur Grube Kastor (Rundweg)
Übersichtskarte (Sauerländischer Gebirgsverein, Bergisches Land)

Mehr von Ulrike Anna Bleier

Vergangenheit ist ein fremdes Land (Teil I)

Am Montag bin ich bei Frau Radermacher und am Mittwoch gehe ich die Orte ihrer Kindheit ab. Und es ist alles genau so, wie Frau Radermacher gesagt hat: die Grube Kastor mit der Schwungbrücke davor. Das Eisenerz, das das Wasser rostbraun färbt. Die Bahngleise in Ehreshoven, das Schloss, von dem mir später jemand erzählen wird, dort würde „Verbotene Liebe“ gedreht. Oder sind es „Gute Zeiten, schlechte Zeiten“?

Frau Radermacher hat bei der Zeitung angerufen und mitgeteilt, dass sie mit mir sprechen möchte, ich möge sie anrufen. Am Telefon beschreibt sie mir den Weg: am Kreisverkehr die dritte Ausfahrt, auf der rechten Seite das sechste Haus. Als ich ankomme, steht sie vor dem Haus und weist mich in den Parkplatz ein.

Frau Radermacher in ihrem Arbeitszimmer

Frau Radermacher spricht druckreif und bergischen Dialekt, der sich immer ein bisschen anhört, als würde man während des Redens heimlich singen.

Wir fangen ganz vorne an. 1900 haben die Großeltern geheiratet. Der Großvater war neben der kleinen Landwirtschaft vor allem im Erzabbau tätig. Überall im Aggertal gab es Gruben und Bergwerke: Kastor, Bliesenbach, Silberkaule, Lüderich, Kaltenbach und da oben bei Engelskirchen gab es auch noch eins. 1906 wurde in Niederhof die Grube Bruno erschlossen. Frau Radermacher selbst hat als Kind noch die Masten gesehen, aber nicht mehr die Loren. Kennen Sie die Schwungbrücke an der Grube Kastor, fragt sie mich. Die gibt es bis heute noch. Die hängt in den Seilen und sie schwingt auch ein bisschen, da hat man die Gleise drauf gelegt und so konnte man die Loren über die Agger fahren, um das Erz auf die Züge zu verladen. Die Eisenbahn ging damals nur bis Ehreshoven. Heute fährt hier die RB 25 von Lüdenscheid nach Köln.

Mietfreiheit und eine Kuh

In Bliesenbach, wo sie mit ihren Eltern wohnte, gab es alte Stollen, da lass man reinjehen, sagte ihre Freundin zu ihr, und dann sin wir in die alten Bergwerksstollen reinjekrochen, meine Freundin und ich, kamen da plötzlich die Fledermäuse, da waren wir aber schnell raus, sagt Frau Radermacher und lacht herzlich.

Der Großvater arbeitete als Stellmacher, Hauer, Schachthauer, Zimmermann, Schreiner, Aufseher und Pumpenknecht. Mitte 50 war er bereits Knappschaftsinvalide, die schwere Arbeit hatte ihm eine Staublunge und Tuberkulose eingebracht. Die Versicherung hat ihn ein Vierteljahr in Kur jeschickt, nach Ronsdorf, dat müssen Sie sich mal vorstellen, dat et dat damals in den 1920er Jahren schon jab. Als die Grube Bruno zwei Jahre später wieder geschlossen wurde, übertrug man ihm die Aufsicht über den stillgelegten Betrieb. Einigen Bauern in der Umgebung war wegen des Betriebs das Wasser versiegt; sich um den Schriftverkehr mit den Klägern zu kümmern, gehörte ebenfalls zu Willhelms Aufgaben. Zum Wohnen stellte man ihm ein Kohjödchen zur Verfügung – dat saat Ihnen jetzt nix – aber ein Kohjödchen beinhaltete alles, was eine Kuh braucht: Stall, Wiesen, Ländereien. Wie schreibt man das denn? KOH-JÖDCHEN, dat is en Kuh-Gut, im Bergischen sagt man Jödchen, und da durfte er bis zu seinem Lebensende wohnen.

Mietfreiheit und eine Kuh statt Rente, wer weiß, vielleicht kommt das alles wieder.

Krieg, Brände, Hochwasser, Sturmschäden

Der Großvater, obschon ein einfacher Bergmann, war sehr belesen und hat alles in einem Büchlein aufgeschrieben. Sie zeigt mir das Büchlein. Erinnerungen, Wilhelm Kippels, 1873-1936. Bearbeitet und herausgegeben von Peter Wicharz 1984. Am Abend kamen oft die Männer aus der Nachbarschaft vorbei und da hieß es dann, der Kippels Willelm tut verzälle. Sie zeigt mir die Illustration im Büchlein, wie sie selbst bei ihren Großeltern am Tisch saß, mit Zöpfen und angewinkeltem Bein, denn so saß sie immer da, wenn der Großvater gruselige Geschichten erzählte.

Die Erinnerungen lese ich in einer regnerischen Nacht, der Großvater ist ein echtes Schreibtalent. In die autobiographischen Erlebnisse sind Sagen und Legenden aus dem Aggertal gewoben, gespickt mit historischen Ereignissen wie Krieg, Brände, Hochwasser, Sturmschäden.

Wenn sie bei den Großeltern war, wohnte die kleine Anneliese im Weeterzimmer, sie war gerne da, bei den Großeltern, es war wie ein zweites Zuhause dort. Weeter, so sagte man im Bergischen, das heißt Mädchen. Bei Wikipedia lese ich später nach, dass die Mundart zwischen Bergisch Gladbach, Siegen und Gummersbach als südbergisch oder ostripuarisch bezeichnet wird, und ich erinnere mich an das Gefühl, irgendwo in einem sehr fernen Land zu sein – weniger lokal als zeitlich. Die Vergangenheit ist ein fremdes Land, diesen Satz gibt es bestimmt schon, und nun sitzt er hier neben mir, im Arbeitszimmer der Frau Rademacher in Kürten. Sie ist 90 Jahre alt und ich bin begeistert, dass sie ein Arbeitszimmer für sich allein hat, eins, in dem nicht gebügelt wird, sondern geschrieben, gesammelt, dokumentiert. Frau Radermacher ist eine Art Archivarin geworden und wie jede Wissenschaftlerin hat auch sie den Antrieb, ihre Forschungsergebnisse veröffentlicht zu sehen und so am Diskurs teilzunehmen.

Jemand ruft an und bedankt sich für die Gedichte. Frau Radermacher schreibt nämlich nicht nur Lebenserinnerungen und Leserbriefe, sondern auch Gedichte, für sich und für andere und zu besonderen Anlässen. Manche Gedichte werden gedruckt, zum Beispiel in den Kürtner Schriften.

Das Erzähltalent hat sie vom Großvater geerbt, so viel steht fest.

Vergangenheit ist ein fremdes Land, Teil II

Weiterführende Links zur Straße der Arbeit

Die Straße der Arbeit von Schloss Ehreshovern zur Grube Kastor (Rundweg)
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