Mikroabenteuer

Den Begriff Mikroabenteuer lerne ich aus dem deutschen Fernsehen. Verzweifelte Städter lassen sich während der Corona-Pandemie ins Abenteuer schicken. Irgendwo in freier Natur, sollen sie unter freiem Himmel schlafen, Lost Spaces entdecken, Feuer ohne Feuerzeug oder Streichhölzer entfachen. Kurzum, Adrenalin pur, und das, obwohl sie eigentlich nicht wegkönnen, also jedenfalls nicht auf die Bahamas oder nach Kuba, in wirklich fremde Räume. Das Unbekannte, das Neue, das, was einem den Atem raubt, lässt sich auch vor der eigenen Haustür finden und damit bedrückende Sorgen, wie die Coronakrise in der wir uns derzeit befinden, für einen kurzen Moment vergessen.

Mein Mikroabenteuer beginnt an dem Parkplatz Kalberschnacke. Dort wartet Regine Rottwinkel. Die aus Bochum stammende Künstlerin leitet das Drolshagen Marketing, und hat mit ihrem Künstlerkollektiv aus 12 Frauen den Landartwanderweg KulTour gestaltet.

Landart ist wahrscheinlich die bisher demokratischste und nachhaltigste Form der Kunst. Die im Freien ausgestellten Kunstwerke sind allen Menschen zugänglich, in den meisten Fällen muss kein Eintrittsgeld gezahlt werden. Die KuLTour wurde durch das Werk von Künstlern wie Andy Goldsworthy inspiriert. Der britische Künstler benutzt für seine Werke ausschließlich Naturmaterialien, um vergängliche Werke darzustellen.

Kunstwerke, die dem Einwirken der Natur ausgesetzt sind, die Wind, Regen, Sonne und Schnee standhalten müssen, sind auch die Objekte, die auf dem rund 7 km langen Wanderweg der KuLTour zu entdecken sind.

Gleich zu Beginn begegnen wir einer Familie, ein kleiner Junge läuft neben uns her und kurz mit uns um die Wette. Er sei schneller, ruft er laut, bevor er staunend mit seinem Großvater vor dem Fischwarm stehen.

Fliegende Fische, die zwischen den Baumstämmen umher zu schweben scheinen. Lachend erzähle ich, wie meine Schwester und ich mal fast aus dem Picasso-Museum Antibes geflogen wären. Wir waren beide noch keine zehn Jahre alt. Der Fisch auf einem Teller hatte mich wahnsinnig frustriert. Ich fand, dass würde ich besser können, aber für meinen kindlichen Kreativitätsdrang gab es damals noch keine Ausdrucksmöglichkeit. Früher wurden keine Begleithefte für Kinder in Museen verteilt, in die sie malen können, oder kreative Führungen veranstaltet. Den Frust ließ ich an meiner kleinen Schwester ab und wenige Minuten später packte uns ein Aufseher am Schlafittchen, zerrte uns zu meiner Mutter und meinte, wenn sie nicht für Ruhe sorgen würde, wären wir in ein paar Minuten draußen. Meine Mutter sorgte für Ruhe, das Museum verließen wir nicht. Heute pilgere ich regelmäßig mit meinen Kindern zu Picassos Fisch in Antibes.

Landart erlaubt einen grenzenlosen Zugang zur Kunst und erlaubt genau in die Natur zu schauen, sie kreativ und spielerisch zu entdecken. Regine Rottwinkel erzählt, dass sie und ihr Team immer wieder damit beschäftigt sind, von Werken entwendete bunte Steine wieder einzusammeln oder neu zu gestalten. Aber das stört sie nicht, auch das gehört dazu. Immer wieder begegnen wir kleinen Kreationen, auf Baumstämme gestapelte Steine oder Tannenzapfen, hinterlassen von Menschen, die sich von der im Ort steckenden Kreativität haben anstecken lassen. Und so wird der KuLTour-Rundweg zu einem Gesamtkunstwerk, dass sich ständig verändert, erneuert und vergeht.

In diesem Jahr sind zwei KuLTische hinzugekommen, ein von der EU gefördertes Projekt. Die Tische sind aus sehr altem Sandstein. Sie laden wandernde Gäste zum Verweilen ein. So kann, wer will, sitzen, die Berge des Sauerlandes betrachten oder mit dem CR-Code auf den Tafeln, Texte zur Erzähltraditionen verschiedener Kulturen herunterladen.

 

Zu einem der bekanntesten Earth-Work Künstlern, wie Landart auch bezeichnet wird, gehören sicherlich Christo und Jeanne-Claude. Christo verstarb nur einen Tag bevor ich zusammen mit Regine Rottwinkel die KuLTour entdecke. Sein Projekt, den Triumphbogen in Paris zu verpacken, wird trotzdem im nächsten Jahr noch durchgeführt werden.

Denn manchmal überdauern auch Landart Kunstwerke ihre Schöpfer und existieren weiter, wenn ihre Kreateure schon längst nicht mehr sind. So wie die Kunstwerke an den Wänden der Grotte von Lascaux.

Und so ist ein Mikroabenteuer zu erleben auch nur eine weitere Metapher für die Vergänglichkeit, mit der wir uns, wie Goethe schon schrieb, tagtäglich befassen müssen, sonst sind auch wir nur ein trüber Gast – Auf der dunklen Erde.

In Südwestfalen und im Sauerland gibt es übrigens eine ganze Reihe von Kunstwanderwegen.

 

Mehr von Barbara Peveling