Balve sehen und sterben 

meine Seele schmerzt

nicht so sehr wie mein Fleisch

ich, in Feuer

wer mich liebt, löscht mich nicht

 

ganze Welten brennen ohne Dringlichkeit

warum nicht ich

Märtyrerin, Radikale, Heilige

wage es nicht, Wasser zu holen

 

wie Christus beende ich mein öffentliches Wirken

dies ist mein letztes Abendmahl

ich will weiße Hitze, weißen Wein

 

neugeboren, nichts, einhundert Jahre alt

was immer ich bin, bin ich für immer 

sorge dich nicht um die Flammen, mein Herz 

 

©lka

 

 

Ich stehe auf dem Galgenhügel in Balve und bin überraschend traurig. Es gibt aktuellere Grausamkeiten, warum beweine ich welche, die 400 Jahre alt sind. Vor mir die Hexenstele, ein Denkmal für die Opfer der Hexenprozesse in Balve. Um uns herum Grün.
Gerade bin ich den Hügel hinaufgelaufen, einen Waldweg entlang, gesäumt von Buchen. Sind genau diesen Weg lange vor mir andere uneheliche Kinder mit verdächtig lockigem Haar gegangen? Wussten sie, was sie erwartet? Haben sie auf Rettung im letzten Moment gehofft?
Ich kann das nicht so stehen lassen. Ich muss glauben, dass einige von ihnen wussten, dass Zeiten kommen würden, wo wir mit Kopfschütteln um sie trauern würden. Später, im Zug, schreibe ich ein Gedicht für sie, schreibe ihnen ein bisschen Trotz zu, ein bisschen Stolz.

 

©lka

 

 

©lka
©lka
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In Balve, dem Zentrum der Hexenverbrennung im Herzogtum Westfalen, wurde circa einer von 20 Einwohnern als Hexe/r hingerichtet. Treffen konnte es jeden, von einfachen Kutschern bis zur Frau des Bürgermeisters. Nach Prozessen, natürlich alles streng nach Vorschrift und völlig ordnungsgemäß, wurden die Verurteilten auf dem Galgenberg verbrannt – nachdem man sie vorher bis zum Geständnis gefoltert hat.
Ein fun fact, der keiner ist: Entgegen landläufigem Glauben, fanden die Hexenprozesse nicht im Mittelalter statt, sondern in der frühen Neuzeit. Und noch ein Schenkelklopfer: Im Gegensatz zur Inquisition waren die Hexenprozesse kein rein katholisches Unterfangen, sondern auch bei Protestanten beliebt.
Ich starre lange auf die Stele, schaue dann kurz auf die Uhr. Meine Stadtkindnaivität – die Überzeugung, dass ich egal wann, egal wo, immer irgendwie nach Hause kommen würde – wurde mir hier in Südwestfalen schnell ausgetrieben. Und so renne ich frei nach Südwestfalens Motto „Harmonie zwischen Mensch und Natur“, schwitzend den Galgenhügel wieder hinab, um den letzten Zug zu erwischen.

 

Balve ist malerisch. Balve ist genau, was denke wenn ich „Sauerland“ höre. Fachwerk, Hügel, Christen. Es ist aufgeräumt, es ist beschaulich, man grüßt sich.
Erst am Bahnhof zurück, kommen Risse ins Bild. Ein paar Teenager stehen herum, prahlen mit Blackouts und Trinkfestigkeit, lästern über Mitschüler, hören Captain Jack (ist es ein Phänomen, dass die südwestfälische Jugend 90er Jahre Elektromusik mag, oder sind das hier Zufallsfunde? Falls jemand nähere Informationen hat, freue ich mich über Kommentare). Nach meinem Sprint und meiner Zeit an der Hexenstele, lehne ich an dem Wartehäuschen, höre verschwitzt und verstört zu.
Ein Mädchen mit blau gefärbten Haaren erzählt von Samstagnacht, erzählt, wie ihre Freundin ihr beim Kotzen die Haare halten musste. „Du verträgst halt nichts“; sagt der Junge, der für die Musik verantwortlich ist und erntet dafür einen Fausthieb gegen die Schulter. Ich freue mich für diese jungen Balver. Ich freue mich, dass sie sich daneben benehmen dürfen. Vor nicht allzu langer Zeit hätte das tödlich ausgehen können.

 

Nachtrag:

Wie lange muss es her sein, bevor wir das Leid anderer Menschen fiktionalisieren dürfen? Die Menschen aus Pompeji? Auf jeden Fall. Die aus dem Grenfell Tower? Auf keinen Fall. Ich entscheide, dass meine Schmerzgrenze auf jeden Fall nach 1666 liegt.

 

 

©lka

 

 

 

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