honigstraße

ich stehe also in rheurdt schaephuysen und habe die handbremse angezogen. während der knapp einstündigen autofahrt ist ein paar mal die frage aufgekommen, ob sich der weg lohnt. alles ist in die erste dickwattige schwüle des jahres gehüllt. außerdem ist feiertag. der nachmittag wirkt ein wenig beleidigt darüber, seine einladung zur trägheit abzulehnen und ihn stattdessen mit aktivität zu füllen. nach einer strecke, die über den rhein, unspektakuläre landstraßen aber immerhin durch die alpen führt; mir den blick auf einige röhrend überholende heckscheiben mit tribal-aufklebern, erdbeerfelder und weiße waden in karierten dreiviertelhosen gewährt hat; mich mehrmals daran erinnert, dass er jetzt wohl da ist, der sommer 2020, erreiche ich eine steile einfahrt. es ist die auffälligste unebenheit, die aggressivste steigung, die mir in der region bisher begegnet ist.

jan kommt sie herunter und öffnet mir, er lebt hier mit niels. beide tragen kleidung, die worte wie „werkeln“ und „es gibt immer was zu tun“ nahelegen. während der nächsten zwei stunden zeigen sie mir ihren hof. relativ schnell muss ich feststellen, dass „hof“ nicht die richtige beschreibung für das areal ist, das die beiden – und seit kurzem auch jans mutter – ihr zuhause nennen. es klingt zu sehr nach landwirtschaft, nach nutztierhaltung, nach milchsteuer. was hier passiert, hat wenig mit pragmatik zu tun. die beiden haben sich – und es klingt so abgedroschen wie es wahr ist: ein kleines paradies geschaffen. neben dem haupthaus, das sie bewohnen, gibt es eine garage, ein etwas muffiges gästehaus mit sauna, das noch zum partyhaus umfunktioniert werden soll, und einen weiteren verschlag, hier ist gerade ein pfau drin, sagt niels und öffnet die tür, gibt den blick frei auf das dort ruhig und majestätisch thronende tier vor großen buntglasfenstern.

zwischen den gebäuden führt ein schmaler kiesweg durch bäume und brennholzstapel, es gibt eine wasserpumpe, wildwachsende blütenpflanzen, wildwachsende pflanzen ohne blüten, einen kirschbaum. am ende grenzt das grundstück an ein feld, man sieht nichts als feld. dahinter kommt nur noch holland, sagt jan. insgesamt laufen zwei pfaue über den hof, neben ihnen halten die beiden gänse und hühner, sie imkern, Honigstraße wurde der hof früher auch genannt. an der garage hängt noch das alte straßenschild. sie haben eine katze, einen hund, eine jugendliche gans, die sich verhält wie ein hund und uns während des spaziergangs auf schritt und tritt über das grundstück begleitet. sie hätte sich zu sehr an die beiden gewöhnt, sagen sie. auf der benachbarten wiese grasen zehn ziegen, das wäre praktisch, dann müssten sie die wiese nicht mehr mähen.

jan (38) ist polizist beim LKA und niels (32) ist arzt. sie haben sich vor fünf jahren entschieden, aus einem essener vorort aufs land zu ziehen. wobei das hier ja kein richtiges land wäre, sagt jan, man wäre schließlich schnell überall. er arbeitet weiterhin in duisburg, niels hat einen job in der gegend. beide kommen aus dem ruhrgebiet. ob ihnen etwas fehle, frage ich, wir stehen im riesigen bewaldeten gehege der hühner, das kaum ein gehege ist, sondern eher wirkt wie ihr eigenes  schattiges dorf. In der mitte steht der hühnerschlag wie eine kirche, im vergitterten krankenhaus unweit des zentrums päppeln sie lädierte hennen aus legebatterien auf und die küken tun ihre ersten schritte. um das areal baumeln leere weinflaschen in der luft. wenn man nur sie betrachtet und die dekoelemente, die sporadisch aber liebevoll-konsequent in gewächse, fenster, auf baumstümpfe oder zielsicher ins hoch gewachsene gras drapiert wurden, könnte man sich auf dem gelände eines kleinen, naturverbundenen festivals vermuten, auf dem verspielter bummeltechno läuft. wie, um das gegenteil zu beweisen, kräht einer der hähne laut.

nein, ihnen fehle nichts. sie wären auch in essen nicht diejenigen gewesen, die viel ausgegangenen sind, auf konzerte oder ähnliches. im ort gebe es außerdem musik-programm und manchmal kabarett, normalerweise zumindest, das würde ihnen reichen. außerdem bekämen sie hier fast täglich besuch aus der nachbarschaft, man wäre hier sofort integriert gewesen. zur bestätigung kommt kurze zeit später ihr nachbar vorbei, um frische eier abzuholen. natürlich hätten sie sich am anfang gedanken gemacht, sagt jan, so als homo-paar hier her und reden würden eh alle, aber das wäre nie ein größeres ding gewesen. als die leute gemerkt hätten, dass sie vegetarier sind, waren sie überraschter. und erst, wenn sie keinen schnaps trinken würden, meint jan, würde es problematisch.

als ich zurückfahre ist es abend, die luft nicht mehr ganz so feucht. mehr neue beobachtungen gibt die autofahrt für ein szenisches ende des textes nicht her. ich habe trotzdem gute laune, weil ich das gefühl habe, zwei menschen getroffen zu haben, die die frage nach dem „wie wir leben wollen“ für sich richtig beantwortet zu haben scheinen; die zufriedenheit ausstrahlen, ohne es darauf anzulegen. das finde ich selten.

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Von Menschen und Hasen

Päng….“Fuck!! Was war das!“, rufe ich in die leere Souterrain-Schreiberwohnung, um den Schreck loszuwerden. Das klang anders als die dutzend Blitze und Donner der letzten zehn Minuten. Die rollten durchs Tal und schienen in den Tannen der Hänge zu verhallen. Das gerade war ganz nah und ohne Hall. Nebenan. Und jetzt ein Krachen und Knistern wie hundert Feuerwerksböller in einer engen Straße. Mal sehen: eine schwarze Rauchsäule steigt auf hinter den Kiefernbüschen auf der anderen Seite der Wiese, zwischen der Bäumen. Da, wo der Bauernhof des Nachbarn steht. Der hatte heut Mittag noch noch bei 30 Grad in praller Sonne ein quer qualmendes Feuer auf der Wiese entfacht, Äste und Zeugs verbrannt. Der Rauch waberte wie Nebel rund um die Terrasse, wo der Herr Schreiber, ganz Klischee, doch lesen und ins Notizbuch kritzeln wollte. Ich machte die Tür zu.

Die Rauchsäule wird jetzt heller, dafür breiter. Der Schüttregen scheint dem Rauch nichts anhaben zu können. Ein Mann rennt mit schweren Schritten die Straße hoch zum Hof. Ein Auto fährt kurz darauf auch hinauf – und rast rückwärts wieder die Straße runter. Zwischen den Bäumen nun eine Flamme wie von einer riesigen Kerze, wohlgeformt mit einer Spitze. Das ist nicht mehr das Pöfken vom Mittag, in das der Bauer in seiner Latzhose auf eine Heugabel gestützt gestarrt hatte. Ich hatte gegrinst, weil man ja sagt, Klischees haben einen wahren Kern. Das hier war der Kern. Lebendig.

Was jetzt, nur ein paar Stunden danach brennt, ist vom Blitz getroffen der große Stall. Der helle Knall war der Treffer und was jetzt da kracht und pengt uns saust ist Dach und Wandverkleidung der Scheune. Meine Vermieter kommen auf die Terrasse, sie können die Flammen nicht sehen, gucken auf der Suche nach der Ursache des Knalls, ob die Solarpanelen auf ihrem Dach geborsten sind.

„Beim Nachbarn brennt es“, ruf ich von meiner Terrasse, etwas weiter unten. Sie sehen die Rauchsäule.
„Wir gehen ma kucken!“, sagt er in seinem ruhigen Sauerlländersingsang, nicht neugierig, sondern entschlossen. Ich sehe die beiden eine Minute später im Sturzregen über die leicht ansteigende Wiese Richtung Flammen gehen, während unterhalb zwei Traktoren schon wild rangierend Maschinen auf die Wiesen fahren, Autos ankommen in der Wiese parken, andere wegfahren, Leute die Straße hinauflaufen, hinter Büschen verschwinden, weitere Männer und Frauen in Gummistiefeln umeinander laufen.
„Mal meine Frau anrufen“, denk ich. Sie hatte mir vorhin noch Bilder von den Kindern aus dem Freibad geschickt, und später das Bild einer Gewitterwolke, vor der sie aus dem Bad geflohen waren.
„Hier brennt die Scheune nebenan!“, sage ich, „Ich schicke dir ein Foto“. Dann Rollenverwirrung. Fotografieren und prahlen, mein Gewitter ist krasser als dein Gewitter? Als entfernt die erste Sirene zu hören ist, gehe ich stattdessen rüber.

Das Feuer reißt Fetzen der Dachpappe in die Luft. Wie ein Vogelschwarm kreisen sie hoch über dem Hof im Himmel. Keiner fragt, was machst du hier. Alle machen was. Ich sehe meine Vermieter, die anderen Männer und Frauen, die nassen Haare an ihre Köpfe geklatscht, beschlagene Brillengläser, lappende T-Shirts und eine Stimmung zwischen konzentrierter Koordination und bereit zu tun, was nötig ist.  Wir schieben ratternd Kunststoffställe aus dem Stall nach draußen, die Männer holen die Kälber, zusammengedrängt in einer Ecke, zum Teil so klein, dass sie noch wackelig auf den Beinen sind. Die Augen groß, am Strick zerrend, werden sie nach draußen bugsiert. Wir schauen nicht nach links. Dann doch. Im Dunkeln  leuchten 1000 Glutpunkte wie eine übertriebene Weihnachtsinstallation bei einem bekloppten Amerikaner. Die Wand des Stalls, dahinter das Feuer. Nur das laute, unheimlich laute, Krachen und Sausen in der Scheune ist so gar nicht weihnachtlich.
Ein Mann kriecht in einen kleinen Stall, ein Hase kommt auf meinen Arm, flauschig, weich, mümmelnd – „Whatever!“ denkt er, denke ich. Etwas Stroh, Metallwanne, da hocken dann drei Hasen im Regen und bewegen sich nicht. Daneben die Kälbern, die ihre Köpfe in die kleinen Plastikunterstände schieben.

Die Feuerwehrmänner werden mehr. Warum gehen die alle so langsam, warum rennen die nie? Das verstrahlt in jedem Fall unheimlich Ruhe und Kompetenz. Sie beginnen mit dem ersten Wagen die Stallwand zum Wohnhaus hin zu wässern, damit das Feuer nicht überspringt, einige Männer mit Atemmasken arbeiten direkt am Feuer, stehen im Rauch wie in einem Tunnel, ein Leiterwagen wird ausgerichtet, ein Wasserwagen kommt an. Kurz beobachten einige von uns Helfern bloß.

„Ich wollt doch erst am Wochenende putzen“, scherzt die Bäuerin, plötzlich neben uns. Sie wird in den Arm genommen. Der Bauer fährt derweil weiter Zeug umeinander. Bauernkollegen, gerade vom Melken oder den letzten Arbeiten des Tages, noch in schmutzigen Hosen, sie wissen offenbar, was zu tun ist. Tun, was die Feuerwehr nicht tut, aber getan werden muss. Große Hände an großen Männern in ungewohnt wirkenden, eilgen Bewegungen. Die 40 Milchkühe stehen 200 Meter oberhalb auf der Wiese und käuen weiter, während hier unten ihr Winterquartier abbrennt.
Die Viehwirtschaft bringt nichts mehr in dieser Größe, hab ich die Tage schon gehört, die drei Söhne des Hauses wollen den Hof auch nicht übernehmen. Sie studieren. Haben anders im Sinn. Die Zeiten haben sich geändert. Jetzt tragen diese Söhne die Kälber und bringen Zeug aus der Scheune, fahren Traktoren und retten ihr zu Haus.

Noch mehr Feuerwehr, die Fahrzeuge kommen die schmale Straße gar nicht mehr hoch. 

Feuerwehrstau. Irgendwann stehen wir alle, die Bauern von anderer Höfen, die Nachbarn, die Hasen und der Buiterling-Schreiber an einem Nebengebäude gelehnt, starren in die Flammen, noch größer als zu Beginn. Sie fingern durchs Dach wie eine Hand in einem goldenem Handschuh, nach dem Himmel greifend. Fassaden und Teerpappe und Dachbalken pfeifen mehrstimmig, es knallt und Putz fliegt uns vor die Füße. Niemand spricht, der Regen prasselt, der Rauch ist orange und an den Rändern schwarz gerändert wie in einem Comic. Zeit zu gehen, bevor ich’s schön finde. Die Profis haben längst übernommen.
Beim Rückweg die Wiese hinunter, drehe ich mich um, Blaulicht vor pinkfarbenen Sonnenuntergangshimmel, tiefe Wolken über Tannenwipfeln, und ein Bussard, der in der Luft steht und Seins macht.

#stadtlandtext


Der Blitz schlug um viertel nach sechs ein. Zehn Minuten später waren die ersten Feuerwehrleute der Freiwilligen Feuerwehr aus Bödefeld da, nur so schnell, weil es bereits Abend war, und sie nicht bei ihrer eigentlichen Arbeit, sondern schon zu Haus waren. Aus den umliegenden Gemeinden rückten Züge nach, schwere Stiefel, kaum Geschrei, alles kontrolliert und gezielt, daneben das Tosen des Feuers. Noch um 23 Uhr fuhren Feuerwehrfahrzeuge an und ab.  Gegen Mitternacht sah ich ein paar Feuerwehrmänner in Reihe stehend etwas trinken, eine weiße Rauchsäule hinter ihnen. Noch am nächsten Morgen und den gesamten Tag über qualmte die Ruine. Dann kamen Bagger.

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