19:03 Uhr, lit.ruhr VA29

Das Gefühl ist groß, Bewegungen bleiben eingeschränkt, verzweifelt quillt die Emphase aus den Augen der Gedrängten. Noch im Rausch der Überhitzung wird Zorn gekauft, wie viel, wie viel, jetzt sagen Sie doch mal: wie viel? Aufregung sticht in den Fingern – da! Einband gerissen, ach, ärgerlich. In solchen Momenten gehen Leben zu Grunde. Schieben, warten, halten. Sitzt da Baselitz? Wo ist Kluge? Ich hab hier ’nen Kunstdruck, schon lange, den müssen Sie mir signieren!

Base
litz

Auster
litz

Die Litze. Geht es auch um Helden, Tyrannen, Übermenschen? Um die „Stunde, in der das ‚Ich‘ entsteht“?* Ach nein, um Schmutzseiten, vielleicht.

Heute fühlt es sich anders an. Papier, Geduld und das Buch nah am Herzen. Kluge?
Alte Körper drücken weich, das Stehen im Pulk ist ein unabweislicher Kommentar auf die Menscheitsgeschichte.
Etwas fällt, Köpfe senken sich. Nach unten.
Von unten.
„Strategie von unten“?**

Unten ist der Boden so nah, da ist der Boden Boden aus sich heraus.

„Ich wusste immer, dass es Sie gibt“, hat er zu ihm gesagt, die Hände gedrückt, dann den Zeigefinger gehoben: jetzt Puccini, jetzt Seite 96, jetzt. Aber jetzt steht er in der Tür, will nach links, wird nach rechts geschoben, sanft. Der Blick wirkt verwaschen, in Gedanken an das gerade Gewesene. Geräuschlos setzt er sich neben den routiniert signierenden Künstler. Ein Automatismus, dem Kluge noch nicht beigekommen ist. Kurz wird hier unterschrieben, dort. Eigentlich gehört er nicht an diesen, er gehört an einen Schreibtisch, einen Arbeitstisch. Umgeben von Büchern, Zeichnungen, Notizen, Musik. „Ohne Musik ist alles Leben ein Irrtum.“

Wir schauen uns an,
wir sind uns nicht sicher.

Momente, die vergehen. Momente, die bleiben. Ich nehme einen Namen mit. 19:07 Uhr

 


*Kluge, Alexander: Die Stunde, in der das ‚Ich‘ entsteht. In: Alexander Kluge: Das Labyrinth der zärtlichen Kraft. 166 Liebesgeschichten. Frankfurt a.M.: Suhrkamp Verlag, 2009. S. 23f.

**Kluge, Alexander: Der Luftangriff auf Halberstadt am 8. April 1945. Frankfurt a.M.: Suhrkamp Verlag, 2008.

„Das Problem ist, daß uns eines von Fontane trennt, neben dem vielen, was uns von ihm überhaupt nicht trennt: und das ist eine Radikalisierung aller Zeitverhältnisse. Fontane hat z.B. Bombenangriffe, die manchen Berlinern ja noch wohl in den Knochen liegen, nicht gekannt. Es gibt da, wenn man es bildlich ausdrückt immer zwei Strategien. Eine Strategie von oben und eine Strategie von unten. Über die Strategie von oben hat Clausewitz einiges geschrieben. Das ist die Strategie, die das Bomberkommando hat; und das hat ja auch die Mittel dazu. Was eine Frau mit zwei Kindern unten im Keller als Gegenwehr dagegenzusetzen vermag, das wäre Strategie von unten.“

>> Link zum Zitat
>>> Ein weiterer Link zum Thema „Strategie von unten„, wahllos gewählt.


>Alexander Kluge und Georg Baselitz auf der lit.ruhr<

Enkidu und Gilgamesch (2. und 3. von links). ©mhu
Enkidu und Gilgamesch (2. und 3. von links). ©mhu
Die Veranstaltung 29 (VA29) mit dem sperrigen Titel „Weltverändernder Zorn. Nachricht von den Gegenfüßlern. Alexander Kluge trifft auf Georg Baselitz“ des in erster Auflage ausgeführten internationalen Literaturfests lit.ruhr war einigermaßen gut besucht, was in Anbetracht der Tatsache, dass sich auf der Bühne im Museum Folkwang in Essen Urgesteine der jüngsten Kunst- und Kulturgeschichte befanden, für mich nicht ganz nachvollziehbar war. Einmal Alexander Kluge live erleben, das sollte man nämlich. Und Georg Baselitz ist auch ganz interessant. Ihr gemeinsames Buch heißt im Übrigen genauso wie die Veranstaltung und ist bei Suhrkamp erschienen. Und bis 7. Januar 2018 gibt die Ausstellung „Pluriversum“ Einblicke in die Arbeit von Kluge.

 

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17:38 Uhr, Mülheim (Ruhr) Hauptbahnhof

Schwer wiegt die Welt im Septemberregen. Eilig klatschen Schritte über den Bahnhofsboden. Pfützenphonetik und onomatopoetische Abwägbarkeiten; schon der Sommer hat kein Geheimnis daraus gemacht. In der Schleuse zwischen Hauptbahnhof und Einkaufszentrum wird auf die Ausgänge gestarrt. Sichtbare Bedenken. Da jetzt raus? Manch einer wartet. Lehnt sich an die Wand in der Nähe der Tür. Schon stehen in einer Reihe, voneinander abgesetzt: Frauen und Männer. Ihre Blicke sind auf die Smartphones in ihren Händen gerichtet, kaum einer schaut auf. Ihre Gesichter spiegeln die Emotionen eines langen Tages. Vielleicht hier eine Nachricht, da eine Absage. Verhaltensweisen. Öffentliche Zelebration eines In-Sich-Zurückziehens; es regnet in Schüben, das passt gut. Wieder ein Schwung Feierabendpendler, beladen mit Rucksäcken und Sorgen, auf dem Weg zum Parkplatz. Oder zum Bus.

Ein Mann, schwarz gekleidet, kurzes, blondes Haar, läuft eng an den Wand-Menschen vorbei. In Höhe der Frau, die als letzte kurz vor dem Ausgang steht, hebt er seine Hand und zieht sie im Vorbeigehen durch die Leere zwischen ihrem Gesicht und ihrem Handy. Die Frau schaut überrascht auf, irritiert folgt ihr Blick der sich entfernenden Hand, dann sieht sie ihn an. Er sagt etwas Unverständliches, sie lacht, er geht durch die Tür, ist fast um die Ecke, bleibt dann abrupt stehen, dreht um, geht ins Bahnhofsgebäude zurück und positioniert sich in einigem Abstand vor der Frau, die bereits wieder auf ihr Smartphone schaut.

„Hallo?“, sagt er. Die Frau guckt auf. Er legt den Kopf zur Seite, sagt: „Krass. Du hast wirklich so schöne blaue Augen.“ Die Frau lacht, lauter und voller als zuvor, der Mann lächelt. Dann macht er kehrt, und kommt nicht wieder. Die Frau schaut sich um, steckt ihr Handy in die Jackentasche, löst sich von der Wand, steht gerade. Ihre Augen funkeln. 17:42 Uhr


>Mülheim (Ruhr) Hauptbahnhof<

Regentage. Oder: Mülheimer Romantik. ©mhu
Regentage. Oder: Mülheimer Romantik. ©mhu
Der Hauptbahnhof in Mülheim an der Ruhr ist ein seltsames Konstrukt. Man kommt an, und findet den Haupteingang nicht. Man folgt dem Strom der PendlerInnen und Reisenden, die auf das direkt anschließende Einkaufszentrum zu gehen, und man merkt erst gar nicht, dass man sich mit jedem Schritt aus dem Bahnhof entfernt, aber in eine Richtung, in die man eigentlich gar nicht will. Der Mülheimer Bahnhof war wohl schon immer klein, unscheinbar. Seine Bahnhofsgeschichte ist eine traditionelle.  Da nun aber im Verlaufen auch das Entdecken liegt, ist der Mülheimer Bahnhof ein wunderbarer Ort für EntdeckerInnen.

 

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