abstand

das gefühl, es ist etwas los; so wie es als kind an weihnachten oder dem geburtstag war, ein bisschen beklommener vielleicht; die drei sekunden schlaftrunkenheit zwischen aufwachen und wach werden, wenn die synapsen noch nicht ganz verschaltet; es erst langsam ins bewusstsein sickert, was denn heute genau anders ist.

jegliche witze, die jemals über corona gemacht worden sind, altern über die woche sehr schlecht. während bäume, sträucher und narzissen ausschlagen, als wäre überhaupt nichts los, sich in mir trotz all der situation so etwas wie frühlingsgefühle aufbauschen, werden dinge, die bis vor zwei wochen zum guten, sozial akzeptierten ton gehörten, von tag zu tag verachtenswerter: rausgehen, freund*innen treffen, spaß haben. fast ein bisschen höhnisch klebt über den immer ernsteren, immer sorgenvolleren gesichtern der virolog*innen und politiker*innen, die ich nach wie vor wie in einem öffentlich-rechtlichen rausch inhaliere, der himmel, leider blau, leider klar und wolkenlos und einladend. die leute tun genau das, was sie nicht tun sollen, sie sind draußen, nehmen teil am einzigen event, das neben olympia noch nicht abgesagt werden konnte: sonne in deutschland. ihr bild, biertrinkend und unter leuten, landet unter umständen und ohne ihr wissen im internet, dem ort, wo sich dieser tage scheinbar der rest von ihnen aufhält und an dem, wie immer, schnell geurteilt und noch schneller verurteilt wird.

noch ist die ausgangssperre (ein wort das dunkel und trist ist, nach gefängnishof und aschenbecher klingt) nicht beschlossen, stattdessen ist isolation das MUST DO der stunde und mein meist gut kompensiertes, aber tief in sich drin sehr introvertiertes ich, freut sich fast ein bisschen über den auferlegten rückzug, den stillstand der welt. entschleunigung, runterkommen, kontemplation; zuhause bleiben, um leben zu retten. mehrmals am tag halte ich mir die absurdität meiner doppelten isolation vor augen: schreibresidenz in einem schloss, auf dem land und dann bricht die pandemie aus, na klar. mein privileg im sonst wankenden, bangenden kunst-, kultur-, und literaturbetrieb drückt ein bisschen, ich schiebe es weg, nehme das e-bike, die luft tut gut und bläst die gedanken an den virus kurzzeitig aus dem hirn; fühle mich sofort 30 jahre älter, fahre als sabine oder annette, die im alltag häufiger auf weleda-produkte zurückgreift, im „tour“-modus in den ort und aus dem ort heraus, bin in 2 minuten im nächsten naturschutzgebiet, schwitze überhaupt nicht. die wege sind flach, die landschaft weit, ich sehe auf meinen bisherigen touren mehr kühe, pferde, schafe und hühner als mein gesamtes leben in gentrifizierten vierteln diverser großstädte zuvor. pferde fand ich immer bisschen peinlich, mittlerweile schau ich auf ihre koppeln und denke manchmal „schön“.

mein lieblingsort diese woche, eine bauerschaft namens „berg“, fünfzehn minuten fahrzeit vom schloss. man fährt einen selbigen hoch (ohne anstrengung durch e-bike), durch ein waldstück, steht dann auf einer straße, die eher ein weg ist, zwischen drei bis vier weit voneinander entfernten bauernhöfen und einer einsamen bushaltestelle. außerdem, auffällig: ein sportplatz . über dessen eingang baumeln, so imposant wie in liebenswerter unbeholfenheit, die buchstaben des vereins (?) in der luft: HSC BERG. ich lasse den blick schweifen, er schweift wirklich, noch nie ist mein blick in solcher regelmäßigkeit  irgendwohin geschweift wie hier, atme ein, liebe immernoch alles.

noch etwas altert dieser tage schnell: meine fingerknöchel. generell scheinen die hände – neben klopapier –  viel über den deutschen umgang mit der krise zu sagen. durch die vielen waschungen einer verdörrten, teils blutigen wüstenlandschaft ähnelnd, klatschen sie sie zusammen, singen oder musizieren zu einem verabredeten zeitpunkt vom balkon, um dem kranken- und pflegepersonal zu danken und vielleicht auch ein bisschen für sich selbst. schon lieb, denke ich. es wäre noch cooler, wenn das personal ihren vermietern in den nächsten monaten einfach applaus vom balkon überweisen könnte, das denke ich auch, und rolle den berg wieder runter, an grasenden schafen vorbei, die abendsonne färbt ihre wolle ein bisschen rosa, zurück in richtung schloss.

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