Die Tafeln finde ich schrecklich

Trotz Wind kannst du mich hören, ist das erste, was Thomas in mein Mikro spricht. Es ist selten, dass der erste gesprochene Satz auch der Satz ist, mit dem der Text beginnen wird. Aber das wusste ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht.

Wir sind hier übrigens im Deilbachtal, sagt Thomas. Er kennt das Deilbachtal sein Leben lang, weil seine Eltern hier als frisch Verliebte schon spazieren gegangen sind, eine dieser Geschichten, mit denen man als Kind aufwächst. Thomas stammt aus Ronsdorf, ich sage Ro:nsdorf, Rоnnsdorf heißt es, mit kurzem o, sagt Thomas, aber er sagte es nicht so patzig, wie der Satz vermuten lässt. Er sagt es so freundlich-sachlich, als würde er sich selbst verbessern. Heißt es eigentlich auch Remscheid-Honnsberg, frage ich, aber da, erklärt Thomas, sagt man komischerweise Ho:nsberg.

Wir laufen jetzt ins Ruhrgebiet, aber du wirst es nicht merken.

Hier war einmal die Deilbacher Mühle. Thomas deutet auf ein verfallenes Grundstück, das Reste eines Gebäudes erkennen lässt. Das hat dann ein Investor gekauft und schwupp, ist es abgebrannt. Es war wirklich ein sehr schönes Lokal und hier hinten, man sieht das heute nicht mehr, war ein kleiner Teich mit Bötchen drauf, da sind wir mit meinen Eltern öfter am Wochenende gewesen. Was der Käufer offenbar nicht wusste: dass das hier Landschaftsschutzgebiet ist. Was bedeutet, man darf zwar Bestehendes erhalten, darf aber nicht neu bauen. Seitdem steht Thomas‘ Kindheitserinnerung als trauriges Gerippe in der Landschaft.

Wir kommen am wunderbar gelegenen Hotel Pax vorbei, in dem vor allem Monteure untergebracht sind. Da könnte auch ein schönes Hotel stehen, aber wir sind uns einig, dass man sich auch für die Monteure freuen kann, dass die mal schön untergebracht sind, hier im idyllischen Deilbachtal. Jetzt wird es gleich ein bisschen unbequem, sagt Thomas, aber er meint nicht unser Gespräch, sondern dass wir einen zugewachsenen Trampelpfad entlang laufen müssen.

Wir sind jetzt in Westfalen und sprechen über den gesellschaftskritischen Aspekt der Sozialpädagogik. Thomas hat mir geschrieben, dass er bei einem kirchlichen Wohlfahrtsverband im Kreis Mettmann arbeitet, für Menschen in vielerlei Krisensituationen.

Nur Klempner sein reicht nicht, sagt er. Wir müssen schon auch an den Bedingungen etwas verändern, zugunsten unserer Leute. Die selbst keine laute Stimme haben. Die brauchen uns, damit sie gehört werden. Muss man nicht, frage ich, vielleicht auch dafür sorgen, dass sie. Mit ihrer eigenen Stimme gehört werden.

Wir sprechen etwas abgehakt, weil wir einen steil nach oben verlaufenden Pfad hochwandern. Die Gegend heißt nicht umsonst Elfringhausener Schweiz.

Oder das, sagt Thomas. Das ist. Die Königsklasse. Darum geht’s auch. Aber es gibt dennoch viele, die. Unsere Stimme als Unterstützung brauchen. Man muss, sagt Thomas, aber immer auch das eigene. Tun überprüfen, damit man. Nicht zu paternalistisch wird. Das ist die große Gefahr. Dass wir unserem Helfersyndrom erliegen. Ständiges Thema in unserer Arbeit: Machst du’s für dich oder. Machst du’s für die Leute? Ohne Reflexion kannst du diese Arbeit nicht machen.

Da oben das Haus, sagt Thomas und wir bleiben stehen, das ist ein legendäres WG-Haus, da gibt es viele Geschichten. Ein großer Hund läuft hin und her und bellt aufgeregt, als er uns sieht, als würde er alle Geschichten über dieses Haus auf einmal ausplaudern wollen.

Was sind denn so die gängigen Motive, um Sozialarbeiter:in zu werden?
Ich will Menschen helfen, ich will, dass es den Menschen besser geht, altruistische Motive. Alles ehrenwert, um diesen Beruf anzufangen, und trotzdem muss man irgendwann überlegen, warum man etwas macht, und warum man etwas anderes nicht macht, und diese Motive immer wieder überprüfen.

Warum teilen wir unsere Gewinne nicht?

Beim Abhören der Aufnahmen kommt mir der Gedanke, wie seltsam es doch eigentlich ist, dass nur in den helfenden Berufen selbstreflexives Handeln gefragt ist. Wäre es nicht gut, wenn auch Menschen, die in der Wirtschaft, Politik oder Verwaltung arbeiten, zur Selbstreflexion angeleitet würden? Ich stelle mir vor, wie der Vorstand der Deutschen Bank, der Lufthansa oder von Amazon einmal im Monat ihre Motive überprüfen würden: Warum zahlen wir unseren Mitarbeitern so wenig, dafür unseren Aktionären so viel? Warum teilen wir unsere Gewinne nicht, fordern aber für unsere Verluste staatliche Unterstützung? Was ist in unserem Leben falsch gelaufen, dass wir uns nur für unseren eigenen Profit interessieren? Was macht es mit uns, wenn wir keine Steuern zahlen, aber von den Steuern anderer profitieren?

Aber natürlich hat Thomas Recht, wenn er sagt, dass es wichtig ist, die Hilfesuchenden in ihrer Autarkie zu unterstützen und mit ihnen zu erarbeiten, was sie selbst wollen. Helfen, um eigene Bedürfnisse zu befriedigen, könnte dem im Weg stehen.

Lebenserwartung Obdachloser ist 30 Jahre kürzer

Ich habe, sagt Thomas, großen Ärger bekommen, weil ich die Tafeln ganz schrecklich finde. Diese Almosengaben, das finde ich so entwürdigend. Und wenn sich die Pelzmäntelchen dahinstellen und abgelaufene Joghurts verteilen. Das bringt mich in Rage. Damit habe er sich im Kreis Mettmann nicht nur Freunde gemacht, meint Thomas. Glücklicherweise vertritt aber sein Spitzenverband dieselbe Auffassung. Die Grundsicherungssätze müssen so sein, dass man davon leben kann, und wenn das so wäre, bräuchte in Deutschland niemand Almosen. Ich finde, wir sind ein sozialer Rechtsstaat, und wenn wir das sind, müssen wir auch Butter bei die Fische tun, sagt Thomas und der Kies unter unseren Füßen knirscht, wir laufen jetzt auf einem breiten, flachen Weg.

Es wird Unterschiede immer geben, aber mit aktuell 150 Euro im Monat für Lebensmittel und nicht-alkoholische Getränke, und allein das ist schon ein Hammer – und man hört jetzt deutlich die Verärgerung in Thomas‘ freundlicher Stimme – da kannst du ja mal versuchen, klar zu kommen, insbesondere, wenn du Alleinlebender bist. Das ist deutlich teurer, als für eine Gruppe einzukaufen. Und wenn du dann nicht Haushalt gelernt hast und nicht kochen kannst und dir immer das Fertigzeuch kaufen musst, ne, muss ich glaub ich gar nicht ausführen. Ich finde es unwürdig, dass wir uns in dieser Sache auf die Tafeln verlassen.

Irgendwo knallt es

Die Lebenserwartung von Wohnungslosen, sagt Thomas, ist im Schnitt 30 Jahre kürzer. Viele sehen aus wie 75 und sind noch keine 50. Das liegt natürlich auch an den Begleiterscheinungen wie psychische Erkrankungen, Alkoholismus und all die schönen Dinge, die man bekommt, wenn man auf der Straße lebt. Und oft ist es natürlich auch andersrum, das ist ja auch zum Beispiel das bekannte Drama der Veteranen in den USA, wo Kriegstraumata nicht selten zu Obdachlosigkeit führen.

Da, wo das Windrad ist, da gehen wir hin, sagt Thomas. Wir schauen in die Landschaft und finden sie schön. Irgendwo knallt es. Weil jetzt der Knall gerade ist, mein Vater ist 93, sagt Thomas, ab und zu hole ich ihn ab, dann fahren wir schon mal hierher und erzählen uns immer die gleichen alten Geschichten und eine Geschichte geht so: In den letzten Kriegstagen lagen da die Amerikaner und da die Deutschen oder andersrum und haben sich hier nochmal bekriegt. Da sind so einige Höfe in die Luft gegangen, weil die Dummies vom Dach aus die Amerikaner beschossen haben und die haben einfach den Panzer draufgehalten haben und dann war der Hof weg.

Das kann man sich gar nicht vorstellen, wenn man eine so friedliche Gegend sieht, dass hier mal ein Krieg getobt hat.

Wir gehen hier um die Ecke, sagt Thomas, weil da vorne kommen wir gleich wieder runter und ich finde es immer doof, einen Weg zweimal zu gehen. Geht mir genauso, sage ich. Wir keuchen wieder ganz schön, offenbar geht es wieder bergauf. Ich bin studierter Sozialpädagoge, sagt Thomas, bin aber schon seit vielen Jahren äh also, ich bin Funktionär. Er lacht, und tatsächlich klingt er ein bisschen verschämt. So ein Begriff, vor dem ich mich früher geekelt hätte, fügt er zur Erklärung hinzu. Aber ich bin schon seit 25 Jahren in der Geschäftsleitung des Kreiscaritasverbandes, das heißt, ich bin nicht der Geschäftsführer, der ist noch eins drüber, aber eben in einem Gremium, das heißt Geschäftsleitung. Mein Bereich ist Integration und Rehabilitation; Integration, das sind alle Dienste, die mit Zuwanderern zu tun haben oder mit Flüchtlingen, zum Beispiel geht es da um Integrationshilfe und -beratung, wenn man bürokratische Probleme hat; und Integrationsagentur bedeutet, dass wir Anti-Rassismus-Projekte machen, Demokratieförderprojekte, im weitesten Sinne Bildungsarbeit.

Unten saßen die Junkies, und oben saßen wir

Und Rehabilitation, also Wiedereingliederung, da komme ich eigentlich her, weil ich Leiter der Suchtberatungsstelle war, damals ein 2-Mann-Betrieb, und einer davon war ich. Als ich da anfing, war das Büro im zweiten Stock direkt am Jubiläumsplatz und es passierte den ganzen Tag: nichts. Ganze 40 Kontakte im Monat, und das bei zwei Sozialarbeiter-Stellen. Unten saßen die Junkies, und oben saßen wir und schauten aus dem Fenster. Wir sind Caritas, was ist das denn für eine Haltung?, dachte er sich. Das war gar nicht so unüblich zu dieser Zeit, dass eine Beratungsstelle so hochschwellig auf Termin arbeitet. War halt so. Ich habe dann mit den Leuten Kontakt aufgenommen, mich um Streetwork gekümmert und das Angebot nach und nach ausgebaut, Suchtprävention in den Schulen, Elternabende, einen alten Postbulli für den Streetworker gekauft, da konnten die Leute, wenns regnet, reingehen, Mittwochs gabs Suppe, und nach und nach ist da ein lebendiger Ort draus geworden.

Mein erster Arbeitstag war, als ich da ankam und nichts zu tun hatte, und das hatte mit Arbeit ja gar nichts zu tun.

Noch keinen einzigen Bollerwagen gesehen, komisch, ist doch Vatertag heute, meint Thomas. Vielleicht schaffen die es nicht bis hier hoch, glaube ich. Wir machen eine kleine Pause, Thomas hat nichts zu trinken mit, er hat sich voll auf den Berger Hof verlassen. Aber heute ist es ziemlich heiß und wir haben noch eine halbe Stunde dorthin und so teilen wir das Wasser solidarisch.

Mögen die Leute Supervision?

Wir sprechen über Supervision, die in der Regel einmal im Monat stattfindet oder bei schlimmen Ereignissen, da erhöht man schon mal die Frequenz. Mögen die Leute Supervision?, frage ich. Die meisten schon, sagt Thomas. Sie empfinden das als Entlastung. Aber es gibt auch immer welche, die das ablehnen, die den Eindruck haben, man will ihnen zu persönlich aufs Fell rücken, weil, sagt Thomas, das hat schon etwas mit der Persönlichkeit zu tun, da zeigt man schon was von sich. Und dann gibt es die, die sich regelrecht entblößen, das ist dann auch anstrengend für die anderen.

Gibt es in der Pflege auch Supervision? Nein, sagt Thomas. Warum eigentlich nicht?, frage ich, pflegen stelle ich mir auch als sehr belastend vor. Es gäbe auf jeden Fall gute Gründe, das zu machen, meint Thomas. Aber warum es das nicht gibt oder ob es das nicht vielleicht doch in bestimmten Situationen gibt, kann ich dir gar nicht genau sagen. In meinem ersten Beruf war ich selbst Pfleger, in der Psychiatrie, und da gab es Supervision tatsächlich. Es war allerdings die bestgehasste Stunde. Da kam so ein Supervisor, ein renommierter Analytiker, den hatte der Chefarzt besorgt, und der setzte sich hin, sagte kein Wort, eineinhalb Stunden lang war Dampf in der Hütte, keiner wusste, was das sollte. Wir hatten immer das Gefühl, der sollte uns aushorchen.

Thomas zeigt auf die andere Seite, das da drüben ist übrigens Gelsenkirchen, die Schalke-Arena. Ich bin erstaunt, so nah an der Zivilisation sind wir hier, oder was man darunter versteht. Denn auf unserer Seite weiden Pferde und Schafe und sogar Esel, die ich sehr liebe, und zu meiner Belustigung höre ich mich selbst in den Aufnahmen wiehern, als wir an den Tieren vorbeigehen, und Thomas lacht höflich.

Ach, mein jüngstes Baby, das muss ich dir noch erzählen, sagt Thomas. Ich habe nämlich meine Diplomarbeit über Vergewaltiger geschrieben, also nicht über die Opfer, sondern über die Täter. Seit einigen Jahren machen wir nun Täterarbeit, mit rasant steigenden Zahlen. Ein Angebot für Täter von häuslicher Gewalt, das sind in der Regel Männer, aber auch 10-15 Prozent Frauen, Leute also, die sich nicht im Griff haben und ihre Partner:innen verprügeln. Zu uns kommen eher die leichteren Fälle, wobei mir schon schlecht wird, wenn ich höre, was die gemacht haben, das möchten wir alle nicht erleben.

Täterarbeit ist der beste Opferschutz

Was ich so spannend an dieser Arbeit finde, ist, dass wir so viele Selbstmelder haben. 30 bis 40 Prozent melden sich selbst, es gibt da zwar sicher auch einen extrinsischen Druck, zum Beispiel, dass das Jugendamt sagt, du darfst deine Kinder nicht mehr sehen. Aber immerhin: Sie kommen freiwillig zu uns. Es ist ja nicht einfach, darüber zu sprechen, was man gemacht hat, sich dem Schrecken zu stellen. Die sind ja nicht als Monster auf die Welt gekommen, aber haben sich wie Monster verhalten, das muss man schon so sagen. Wir haben mehr Nachfrage, als wir bewältigen können.

Viele sagen, ich bin mir selbst nicht geheuer, die sagen zum Beispiel, ich liebe meine Frau, ich liebe sie wirklich, sie soll bloß nicht mehr so oder so sein. Thomas lacht ein Lachen, in dem tönt das ganze Wissen über die Absurdität der menschlichen Gefühle. Also, wenns gut läuft, stellen die Leute sich dieser Auseinandersetzung, aber, sagt Thomas, das muss man auch sagen, es gibt immer auch welche, die abbrechen und sagen, das habe ich mir aber ganz anders vorgestellt. Die Leute kommen übrigens aus allen Schichten, wir haben Polizisten gehabt, Rechtsanwälte, auch einen Chefarzt. Die sitzen dann alle in einer Gruppe. Wir machen nur Gruppenarbeit; wenn du in so einer Runde sitzt, dann hast du zehn Spiegel. Die sagen dann, jaja, das kenn ich auch, das ist doch Bullshit, du redest dich doch nur raus.

Täterarbeit, sagt Thomas, ist der beste Opferschutz.

Wir sind nun am Berger Hof angelangt, und hätten wir nicht gerade die Schalke-Arena gesehen, würde ich mich in Oberbayern wähnen oder in Südtirol. Es ist schon Nachmittag, deshalb essen wir was Warmes, nämlich Frikadellen, und ich lade Thomas ein, du machst schließlich bei meinem Projekt mit, sage ich. Thomas lacht und sagt, gut, dann nehme ich das an.

Bonustrack: Versuch, ein Huhn zu fotografieren

Weiterführende Links zur Straße der Arbeit

Wanderung von Velbert-Langenberg durchs Deilbachtal
Übersichtskarte (Sauerländischer Gebirgsverein, Bergisches Land)

Mehr von Ulrike Anna Bleier

Das Ganze in der Welt Unterschiedliche

Treffpunkt ist der Busbahnhof in Hückeswagen. Rudi und der WDR sind schon da. Rudi bekommt ein Mikro von mir, das ich an seinem Hemdkragen befestige, und ich bekomme ein Mikro von Daniela, die für die Lokalzeit Bergisches Land einen Beitrag über die Straße der Arbeit macht. Zu dritt ziehen wir los Richtung Wupper.

Rudi ist ein Fan von Gernstl unterwegs und auch vom Gipfeltreffen, das sind Formate des Bayerischen Rundfunks, in denen übers Leben geredet wird. Über das Leben im Leben und die Orte im Leben und die Krisen im Leben. Der DJ Ötzi zum Beispiel, sagt Rudi, war ein ungewolltes Kind aus einem One-Night-Stand. Er war sogar mal obdachlos. Aber er hat was draus macht, das finde ich stark. Auch Rudi hat eine Zeitlang in Bayern gelebt, im Allgäu.

Als ich später die Aufnahmen abhöre, sagt Rudi beiläufig, jetzt müssen wir durch die Wupper, und ich weiß nicht mehr, was er damit gemeint haben könnte. Jedenfalls sind wir nicht durch die Wupper gegangen.

Aufnäher mit der Schere aufschneiden

Ich bin nicht mehr der Arbeiter, der ich einmal war, sagt Rudi. Ich komme aus einer Arbeiterfamilie, wo Schicht gearbeitet wurde, von beiden Elternteilen. Wir waren vier Kinder. Wenn meine Kumpels am Wochenende ins Schwimmbad gingen, musste ich regelmäßig bei der Heimarbeit helfen. Heimarbeit, das bedeutet nicht, das Geschirr in die Spüle zu stellen oder den Rasen zu mähen – das bedeutet, Kugelschreiber zusammenzubauen oder Schrauben abzuzählen und in Tüten zu packen. In Rudis Fall hieß Heimarbeit, für ein Textilunternehmen Aufnäher mit der Schere auszuschneiden. Meine Mutter war recht streng und schon damals bin ich in bestimmte Vorstellungen gepresst worden, zum Beispiel durfte ich – trotz Empfehlung – nicht das zehnte Schuljahr machen, sondern musste in die Lehre gehen. Bei einem Raumausstatter sollte ich eine kaufmännische Ausbildung absolvieren, allerdings hat dort das Handwerkliche überwogen, erzählt Rudi. Statt Betriebswirtschaft und Buchhaltung zu lernen, musste er mit zu den Kunden und später auch tageweise auf Montage fahren.

Verantwortung zu tragen, das stand in seinem Leben immer im Vordergrund. Es fehlte aber in allem die Leidenschaft. Ich wurde immer in Stress gebracht, sagt Rudi. Auch die letzten 30 Jahre als Fußbodenleger, da war ich nur unterwegs, viel auf Montage, viele Stunden auf der Autobahn, und es wurde immer mit dem spitzen Bleistift abgerechnet. Weil wir im Akkord waren, sind irgendwann auch die Gelenke in Mitleidenschaft gezogen worden, so dass ich lange von Schmerztabletten gelebt habe. Er hat Fußböden verlegt, PVC, Teppichböden und so weiter, das geht auf die Knie. Operationen und viele Krankzeiten folgten.

Montage und Akkordarbeit, sage ich, das ist aber eine krasse Kombination.
Ja, krass, oder?, sagt Rudi, er sagt es wie jemand, der von einer gelungenen Flucht erzählt, der sich gerade noch in Sicherheit gebracht hat.

Die Zeit, die er auf der Autobahn verbracht hat, wurde nicht als Arbeitszeit verrechnet. Das ist es ja, sagt Rudi, das Ganze in der Welt Unterschiedliche. Über diesen Ausdruck denke ich noch lange nach. Es schließt so viel mit ein: die Ungleichheit, den Zufall, die Willkür, mit der Privilegien verteilt werden. Aber es schwingt auch die Hoffnung mit, irgendwo in dieser Unterschiedlichkeit doch noch seinen Platz zu finden.

Haus an der Bevertalsperre

Du hast übrigens deinen Schuh offen, sagt Rudi. Auf den Aufnahmen gibt es seltsamerweise keine Anhaltspunkte dafür, dass ich den Schuh wieder zubinde, ich höre meine Stimme sagen, ich hatte heute morgen keine Zeit mehr, sie richtig zu schnüren.

Innerhalb der Familie hat ihn vor allem die Rolle als Ernährer unter Druck gesetzt. Man war immer kaputt, immer fertig, da blieb nicht viel Luft, um freundlich und nett zu sein. Als die Kinder aus dem Gröbsten raus waren, hat er darüber nachgedacht, kürzer zu treten.

Keiner weiß mehr weiter

Ich bin dann irgendwann aus dem Handwerklichen rausgegangen und wollte meine Erfahrungen in die Bauleitung einbringen. Doch in der Position zwischen Geschäftsführung, Architekt und den Handwerkern, die man anleiten muss, da bin ich dann irgendwann zusammengebrochen, und hatte viele Auszeiten.

Auch mit seiner neuen Partnerin und in der Patchworkfamilie blieb alles beim Alten. Du verbindest mit Arbeit sehr stark auch eine soziale Rolle, oder?, frage ich, und Rudi sagt, ja. Die aber meines Erachtens zulasten der Arbeitnehmer geht, zu ihrer Unzufriedenheit, was sich dann auch zuhause widerspiegelt, in Frust. Wenn du dann nach einem Arbeitstag mit viel Lärm und Hektik auf der Baustelle nach Hause kommst, ist es auch zu Hause laut, heutzutage hat jeder eine Musikanlage und einen Fernseher und es dröhnt und schallt. Das zu kombinieren mit Ich-will-jetzt-mal-abschalten, mich auf morgen konzentrieren, das hat mich in Phasen gebracht, die nahe am Burnout waren, natürlich auch in Zusammenhang mit den Belastungen, die es in meiner Kindheit gab, sagt Rudi.

Beim Abhören der Aufnahme muss ich plötzlich an Rolf Dieter Brinkmann denken, an sein Buch Keiner weiß mehr, das mein Hirn immer ergänzt mit weiter. Keiner weiß mehr weiter. Auch wenn es da die Frau ist, die das Geld brachte, die für ihn unerfüllbare Rolle des Familienvaters klebt bei Brinkmann an jedem einzelnen Buchstaben wie ein böser Spuk*. Von so einem Unbehagen erzählt auch Rudi jetzt, mit der reflektierten Klarheit dessen, der ausgestiegen ist.

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*Der böse Spuk, der ein Leben lang an meinen Fersen klebt nannte der Kulturwissenschaftler Mark Fisher seine Depression, die er stets in einem politischen Kontext der vom Kapitalismus erzeugten gespenstischen Lebenssituation betrachtete.

Weniger Konsum, weniger Arbeit

So hat Rudi sich mir nämlich auf Facebook vorgestellt: als Aussteiger. In einem Artikel der Westdeutschen Zeitung über Die Straße der Arbeit – die paradoxerweise in der Rubrik „Freizeit“ erschien – stand, dass ich mich auch für die Arbeit interessiere, die nicht ausgeübt wird. Und für die Menschen, die diese Arbeit nicht ausüben. Für Leute wie Rudi.

Was könnte man denn ändern, damit Eltern nicht so belastet werden? Das ist ein schwieriges Thema, sagt Rudi. Ich weiß es nicht, im Nachhinein kann ich eh nichts mehr ändern. Es geht halt immer mehr in den Tunnel hinein, dass Arbeitnehmer ausgenutzt werden, sagt Rudi, dem am Ende nur noch blieb, eine Auszeit zu nehmen. Und in dieser Auszeit hat er im Allgäu gearbeitet, bei der Lebenshilfe im Kleinwalsertal. Zumindest wollte er an einem Ort sein, an dem es schön ist, mit dem er positive Erlebnisse wie Urlaub, in der Natur sein verband. Er hat dort in einer Holzwerkstatt behinderte Menschen betreut. Da hat er zum ersten Mal gemerkt, wie zufrieden Arbeit machen kann. Mit Menschen, die einem das Glück zurückbringen, durch ein Lachen zum Beispiel, sagt Rudi. Und als meine Batterien wieder aufgeladen waren, war auch klar:

Ich will in dieses alte System nicht mehr rein.

Wir haben alles gehabt, Urlaub, Auto, dies und das; seit 2015 aber, seit meiner Rückkehr, lebe ich wie ein Student und gehe einem Job nach, der mir Zufriedenheit bringt. Das heißt: Ich gebe das Tempo vor, ich gebe die Ziele vor, ich bin zwar als One-Man-Power auf mich allein gestellt, da ich aber nicht mehr diese materiellen Ansprüche habe, muss ich auch nicht mehr so viel Leistung bringen.

Wie man so ein Modell auf die Arbeitsgesellschaft umsetzen könnte, da ist er überfragt. Unternehmen müssen schließlich wirtschaftlich denken, müssen Einnahmen haben, nur diese Einnahmen, sagt Rudi, die gehen, so sind meine Erfahrungen, zu Lasten der Arbeitnehmer. Als Gegenleistung kann sich jeder eine Freude machen, indem er in einen Kik reingeht oder in einen anderen Billigladen und sich an materiellen Dingen befriedigt. Da müsste es, so Rudi, mal einen Schritt zurück gehen, und er würde sich gerade von der grünen Politik wünschen, diese Thematik anzugehen. Demokratie kann ja nicht nur darin bestehen, dass jeder jederzeit irgendwas konsumieren kann. Da werden Jobs angenommen, für die Leute 200 Kilometer am Tag auf der Autobahn unterwegs sind – für einen Minijob. Und dafür stehen sie dann in Neuss, Düsseldorf oder Wuppertal stundenlang im Stau. Für 450 Euro! Da muss mal was im Arbeitsleben passieren!, findet Rudi.

Zwei Handwerker

Weniger Konsum, Arbeitstempo selbst bestimmen, Ziele selbst definieren – das könnte man doch durchaus auch gesamtgesellschaftlich ausdiskutieren. Weniger Kaufangebote, dafür mehr Mitbestimmung im Arbeitsleben.

Schutzengel liefen top in der Corona-Zeit

Rudi ist davon überzeugt, dass wir viele Dinge gar nicht vermissen würde. Außerdem würden wir das globale Müllproblem lösen. Vielleicht passiert das ja, irgendwann. Vielleicht auch nicht, zumindest ist unser jetziges System keins, in dem ein Alternativmodell vorstellbar ist.

Für sich selbst hat Rudi einen Weg gefunden. Man muss in sich selbst verliebt sein, findet er. Er lebt jetzt von seiner Holzkunst, die er auf dem Markt in Schwelm verkauft. Was stellst du da her, frage ich, und Daniela, die uns die ganze Zeit von Weitem gefilmt hat, ist auch neugierig geworden. Ich fertige in meinem Atelier Holzdekore, sagt Rudi. Die fertige ich aus Massivholz oder was ich halt so bekomme oder im Wald finde. Einfach geschnitten, geschliffen, bearbeitet mit dem Werkzeug, das ich zur Verfügung habe. Was zum Beispiel top lief in den Corona-Monaten, sind Schutzengel. Es gibt Leute, die sagen, es gibt sie, und es gibt Leute, die sagen, es gibt sie nicht. Auf jeden Fall ist ein Markt dafür da.

Seine Urlaube verbringt Rudi in der Bretagne auf dem Fernwanderweg. Dafür braucht er nicht mehr als 150 Euro die Woche für Mitfahrgelegenheit und Verpflegung. Geschlafen wird im Zelt. Auto hat er nicht mehr, aber man kommt auch so von Wuppertal nach Schwelm. Er ist Teil einer privaten Carsharing-Gruppe, das geht letztlich aber auch nur, wenn nicht jeder einen straffen Zeitplan erfüllen muss.

Auf den letzten Kilometern nach Wipperfürth denken wir darüber nach, wie stark ungesunde Arbeitsstrukturen auch unsere privaten Beziehungen beeinflussen. Die Unzufriedenheit bringst du nach Hause mit, sagt Rudi. Bei ihm war es so, dass für seine beiden langjährigen Beziehungen wenig Raum blieb, und dass es auch für ihn selbst wenig Freiraum in den Beziehungen gab. Denn das hängt ja irgendwie zusammen: nur wer selbst genügend Freiraum in seinem Leben hat, ist auch in der Lage, anderen Freiraum zuzugestehen. Und war nicht Raumausstatter Rudis Lehrberuf nach der Schule?

Auf der Straße der Arbeit von Hückeswagen nach Wipperfürth

Da! Da vorne, ein Hase, sagt Rudi. Und wirklich, ein großer grauer Hase hoppelt uns entgegen und als er uns bemerkt, springt er ins Feld und ist weg. Kurz darauf sehen wir einen Fuchs. Krass. Nein, es ist kein Fuchs, es noch ein Hase. Vielleicht ein Familienmitglied? Wusstest du, sagt Rudi, dass Rehe bellen. Rehe bellen, echt? Ja, wenn sie Angst haben. Als ich diese Stelle später in den Aufnahmen abhöre, bin ich etwas skeptisch, so dass ich Rehe bellen google. Tatsächlich: Rehe können bellen. Man nennt das in der Jagdsprache schrecken. Sie tun das, um ihr Territorium akustisch abzugrenzen oder um Artgenossen vor Gefahr zu warnen. Und ganz besonders fasziniert mich ihre Taktik, im Chor zu bellen, um ein angreifendes Raubtier zu verwirren.

Pünktlich zu unserer Ankunft in Wipperfürth zieht sich der Himmel zu und es fängt an zu regnen. Wir haben jetzt Lust auf ein Eis, finden eine Eisdiele und bestellen uns einen Walnuss- und einen Erdbeerbecher. Ich lade Rudi ein und Rudi schenkt mir ein Holzdekor: einen Handschmeichler in Form eines kleinen Kreuzes.

Weiterführende Links zur Straße der Arbeit

Die Straße der Arbeit III von Hückeswagen nach Wipperfürth
Übersichtskarte (Sauerländischer Gebirgsverein, Bergisches Land)

Mehr von Ulrike Anna Bleier

Plan B (Teil II)

Ah, diese Aussicht, sagt Tina und ich höre beim Abhören der Aufnahmen, wie sie in großen Schlücken Wasser aus ihrer mitgebrachten Flasche trinkt. Wir schauen auf die Wupper und sprechen über einen Begriff, der seit der Coronazeit in aller Munde ist: Systemrelevanz. Tina ist, wie bereits in Teil I erwähnt, nicht nur Literaturwissenschaftlerin, sondern auch Leiterin der Zentralen Studienberatung an der Uni Wuppertal. Wir sind für alle Fragen rund ums Studium da, sagt Tina, vor allem dann, wenn’s schwierig wird.

Die Arbeit als Studienberaterin ist eine pädagogische Arbeit, denn es geht darum, junge Menschen von einem Bildungsabschnitt in den nächsten zu begleiten. Die Beratung richtet sich an Studierende, aber auch an Schülerinnen und Schüler. Gerade im ersten Prozess mit den Schüler:innen geht es immer auch ein bisschen um Selbsterfahrung, darum, wie man mit Selbstzweifeln umgeht oder auch der Klassiker: Ich kann alles ein bisschen, aber nichts so richtig. Wir werden ja hineingeworfen, in die Freiheit der Berufswahl, zu Engels‘ Zeiten war das noch anders, da wurde man in sein Milieu hineingeboren. Heute ist dagegen vermeintlich alles in unserer eigenen Verantwortung, wir stecken in keinem Wertekorsett mehr.

Industriemuseum Wülfingfabrik

Passend zum Thema bleiben wir nun stehen und diskutieren, wie wir gehen müssen und wo wir stehen. Zuerst hat die eine recht, dann die andere, dann gehen wir in die eine Richtung und dann doch in die andere. Dann kehren wir um. Wir sind über die Nase gelaufen, höre ich Tina in meinen Aufnahmen sagen, was für ein Satz, denke ich.

Biographiearbeit und Arbeitsbiographien

In der Corona-Zeit ist die psychologische Beratung, die auch zur Studienberatung gehört, sehr in den Fokus gerückt, wir haben zusätzliche Stunden angeboten und den Service aufgestockt. Was heißt es, wenn ich mich einer Gesellschaft nicht zugehörig fühle? Arbeit ist ja nur eine Facette im Leben. Wir sprechen mit den Studierenden auch über deren Lebenskontext. Ich nenne das Biographiearbeit, sagt Tina, und ich sage, lustig, bei der Straße der Arbeit geht’s um die Arbeitsbiographie. Das ist jetzt das Komplementär dazu.

Wie läuft denn so eine Studienberatung ab? Es geht vor allem um Reflexionsprozesse: Was habe ich als Kind werden wollen, was macht mir Freude, gibt es Vorbilder? Aber auch: Was gibt es für Hinderungsgründe, zum Beispiel im Ausland oder was mit Tieren, da heißt es dann Ach nö, dafür muss ich ja Medizin studieren. Oder lange ins Ausland ausgehen, das kann ich nicht. Manchmal reicht es aber auch vom Numerus Clausus her nicht oder es gibt sonstige Ausschlussgründe, die gegen ein bestimmtes Studienfach sprechen. Und dann schauen wir nach Alternativen. Es ist ja eh ganz gut im Leben, einen Plan B zu haben.

Wir sind beide der Meinung nach, dass der Plan B eines der wichtigsten Dinge überhaupt im Leben ist. Wer einen Plan B hat, kann mit Plan A scheitern und das absolut Ok finden.

Vielen sei das nicht wirklich klar, sagt Tina, sie glauben, es müsse alles immer perfekt sein, perfekter Urlaub, perfekter Körper, perfektes Studium, perfekte Familie. Und vergessen dabei, dass zum Leben eben auch ganz viele bescheuerte Tage dazu gehören, und ich sage, besteht nicht das ganze Leben vor allem aus denen?

Heilungsprozesse durch die Literatur

Vor ein paar Jahren hat Tina eine Zusatzausbildung im Bereich Integrativer Therapie mit Schwerpunkt Poesie- und Bibliotherapie absolviert, am Fritz-Perls-Institut, hier in Hückeswagen, direkt an der Bevertalsperre. Was ist das denn, frage ich. Etwas ganz Tolles, sagt Tina, da geht es um die Heilkraft der Sprache, des Lesens und des Schreibens, aber auch der anderen Künste. Das Lesen und Hören von literarischen Texten einsetzen in pädagogische Entwicklungsprozesse. Oder auch in Rekonvaleszenzprozesse. Ich habe schon in der Germanistik bemerkt, dass Literatur über die reine Ästhetik der Sprache hinausgeht. Es hat ein viel größeres Potenzial, um in andere Welten, Zeiten, an anderen Orten einzutauchen. Das gilt sowohl fürs Rezipieren als auch fürs Schreiben.

Der Weg, auf den wir nun einbiegen, ist alles andere als perfekt. Wäre dieser Wald ein Zeitabschnitt, wäre er einer der bescheuerten Tage. Umgefallene Bäume, über die wir steigen oder unter denen wir herkraxeln müssen, Gestrüpp, Wurzeln, kleine Äste, die sich in die Haut bohren. Mein Oberschenkel blutet. Auf den Aufnahmen sage ich tapfer, lass uns noch ein paar Meter versuchen. Tina ist skeptisch, möglicherweise denkt sie schon an den Plan B. Der würde lauten: umkehren. Ich aber kehre ungern um, denn wer A sagt, muss auch B sagen, jaja, ich weiß, dass das falsch ist, aber was heißt schon wissen. Nach weiteren zehn Minuten Kraxelei lasse ich mich dann doch überzeugen. Beim Weg zurück sehe ich, wie sich ein dünnes, schwarzes Kabel über eine gefallene Buche schlängelt. Lustig, denke ich. Sieht aus, wie das von meinem Aufnahmegerät.

Wo Riesen Mikado spielen

Es ist nicht nur das Kabel, es hängt sogar noch das Aufnahmegerät dran, das auf der anderen Seite der Buche pendelt. Pendelfriedrich lässt grüßen. Das Mikro und mit ihm der Rest muss sich von Tinas Kragen gelöst haben, als sie an einem Ast hängen geblieben ist. Zum Glück sind wir umgekehrt, sage ich. Und denke, vielleicht muss man erst scheitern, um etwas wiederzufinden, von dem man gar nicht wusste, dass man es verloren hat.

Manchmal muss man auch erst scheitern, um danach den einfacheren Weg zu sehen. Zu sehen, dass auch auf der Straße der Arbeit ein Plan B existiert. In unserem Fall beginnt Plan B etwa 20 Meter vor den ersten Baumleichen. Er führt uns steil, aber elegant durch den Wald, vorbei an dem Chaos aus Stämmen und Sträuchern, die von oben aussehen, als hätten gelangweilte Riesen Mikado gespielt. Und hinter jeder Lücke glitzert die Wupper auf ihrem Weg nach – ja wohin eigentlich? Nach Leverkusen, sagt Tina, dort mündet die Wupper in den Rhein.

Hier lesen Sie Teil eins der Wanderung mit Christine Hummel

Weiterführende Links zur Straße der Arbeit

Die Straße der Arbeit II von Radevormwald nach Hückeswagen
Übersichtskarte (Sauerländischer Gebirgsverein, Bergisches Land)

Mehr von Ulrike Anna Bleier

Am schwärzesten Fluss der Welt

Wir sitzen – zusammen mit Else Lasker-Schüler und Friedrich Engels –, auf einer Brotzeitbank an der Wuppertalsperre. Der Fotograf der Bergischen Morgenpost möchte, dass wir uns umdrehen und lächeln, er macht Witze, aber wir lächeln nicht, weil wir die Witze nicht verstehen, dann lächeln wir doch noch und er drückt im richtigen Moment ab.

Auf der Straße der Arbeit ziehen wir alleine weiter. Wir, das sind Dr. Christine Hummel und ich. Kannst Tina sagen, sagt sie, und es ist ganz leicht mit Tina und mir, als würden wir uns schon ewig kennen.

Der schmale Fluss ergießt bald rasch, bald stockend seine purpurnen Wogen zwischen rauchigen Fabrikgebäuden und garnbedeckten Bleichen hindurch.

Friedrich Engels, Briefe aus dem Wuppertal

Wir haben etwas gemeinsam, stellen wir fest: Wir gehen eine Strecke ab. Ich die Straße der Arbeit, und Tina die Wupper, den Fluss der Arbeit. Den Begriff hat Else Lasker-Schüler geprägt, die wahrscheinlich ihr Herz ins Fließen brachte, als sie ihr Schauspiel Die Wupper schrieb. So formuliert es Tina in einem Aufsatz über die Dichterin, die in Wuppertal geboren und aufgewachsen ist und in Jerusalem starb. Tina ist Literaturwissenschaftlerin und schreibt selbst literarische Texte. Außerdem hat sie eine Zusatzausbildung im Bereich Poesie- und Bibliotherapie und leitet die Zentrale Studienberatung an der Uni Wuppertal.

Schiefer

Mit anderen Künstler:innen hat sie 2022 ein Stück über die Parallelen von Friedrich Engels und Heinrich Heine inszeniert, eine „feuilletonistische Hommage“ haben sie es genannt. Man kann Engels‘ Briefe aus dem Wuppertal, in denen es um die Arbeitsbedingungen hier im Bergischen geht, ganz wunderbar verzahnen mit Heines Text über die Schlesischen Weber, erzählt Tina. Teilweise waren die kaum auseinander zu halten.

Guck mal, sie zeigt auf einen Felsen, da ist Schiefer. Ist auch in der Wupper, deshalb ist die an vielen Stellen so grau. Mit diesem Schiefergestein sind die charakteristischen Häuser im Bergischen Land verkleidet.

Die Weber, das sind die, die noch zuhause arbeiten, aber unter dem Lohndumping ihrer Auftraggeber leiden, die Arbeiter aus dem Wuppertal sind die, die bereits in die Fabriken gehen. Die Weber verkaufen ihre Stoffe nicht mehr selbst, sondern müssen sich den Monopolisten beugen, die die Preise bestimmen. Man könnte das als Subunternehmertum bezeichnen. Eine Art Ich-AG-Modell würde man heute dazu sagen. Hört sich nach Selbstbestimmung an, ist aber auch Ausbeutung.

Lange Anna, Pendelfriedrich und die Sonntags

Wir laufen den Fluss der Arbeit entlang, dem man heute seine Geschichte nicht mehr anmerkt, es ist erst Mitte Mai, aber gefühlt schon Mitte Juli, das Gras steht hoch, die Insekten schwirren.

Es gibt wenig expressionistische Texte, die ein so eminent sozialkritisches Potenzial haben wie Die Wupper. Die Sprache, der Slang!, ruft Tina begeistert in den Wald. Und die Figuren! Es gibt zum Beispiel einen Exhibitionisten, dem hängt immer was aus der Hose. Kuddelfritz oder Beutelfriedrich oder so. Wie hieß der nochmal. Zum Glück hat Tina auch ihren Aufsatz von 2009 dabei, da muss der Name ja drin stehen. Auf den Aufnahmen höre ich, wie unsere Schritte sich verlangsamen, dann Pause. Knistern. Pendelfriedrich heißt er, sagt Tina. Überhaupt die Namen. Die lange Anna. Amadeus mit dem gläsernen Herzen. Das sind die Leute von der Straße. Und dann gibt es die Industriellenfamilie. Die heißen Sonntag – sie leben auf der Sonnenseite. Und bei Gerhart Hauptmann heißen die Dreißiger. Wieso Dreißiger? Vielleicht, weil die Arbeiter immer das dreißigste Teil von ihrem Arbeitslohn abgeben mussten?, überlegen wir. Aber später schreibt mir Tina, ne, damit hatte das nichts damit zu tun.

Die Begriffe Arbeitgeber und Arbeitnehmer sind eigentlich diametral entgegengesetzt, diese Überlegung stammt von Engels, sagt Tina. Denn der Arbeiter gibt ja etwas her, nämlich seine Arbeitskraft, und der Arbeitgeber nimmt etwas, nämlich die Arbeit. Wir sprechen über den pietistischen Hintergrund der Frühindustriellen, die von sich selbst das Bild hatten, der Region und den Menschen etwas abzugeben vom eigenen Wohlstand. Sie betrachteten sich entsprechend als Wohltäter, nicht als Ausbeuter. Aus einem solch widersprüchlichen Elternhaus stammte auch der junge Engels und entwickelte aus solchen Eindrücken seine Philosophie – was ihn in späteren Jahren allerdings nicht daran hinderte, die elterliche Fabrik in Manchester zu leiten und am selben Ausbeutungssystem zu partizipieren, das er anprangerte.

Eine böse Arbeitermär

Ein Kapitel für sich sind Engels und die Frauen. In England war er mit Mary Burns, einer Irin, liiert, und nach ihrem Tod mit ihrer jüngeren Schwester Lizzy Burns – fast so, als seien die beiden Frauen austauschbar. Auf die Frage, was er nicht mag, antwortete Engels einmal: unordentliche Frauen. Dass er andererseits der erste war, der das Verhältnis von Mann und Frau als Ursprung der ausbeuterischen Menschheitsbeziehungen definierte, passt paradoxerweise sehr gut dazu. Ausbeutung, sagen wir, ermöglicht eben auch die Kritik an der Ausbeutung. Im Gebüsch raschelt es, vielleicht eine Maus oder ein Feldhase, vielleicht aber auch Slavoj Zizek, der gerade ein Hegelgebet spricht.

Als eine böse Arbeitermär hat Else Lasker-Schüler ihr Theaterstück Die Wupper bezeichnet. Im Gegensatz zum großen Bruder Rhein, der von Hölderlin besungen, mit der Romantik und dem Rheingold und so angenehmen Dingen wie Weinanbau assoziiert wird, ist es um das Ansehen der Wupper schlechter bestellt. Sie sei vor allem durch Industrieprozesse gekennzeichnet, sagt Tina. An der Wupper-Quelle in Wipperfürth war sie selbst noch nicht, das steht aber noch an. Sie will nämlich den gesamten Fluss abwandern und erschreiben, will dort Eindrücke sammeln und diese sowohl literarisch als auch literaturwissenschaftlich verarbeiten.

Am schwärzesten Fluss der Welt, der Wupper, lernt man erkennen, welche Menschen leuchten. Der Himmel fällt herab von Schieferklippen. Immer gähnet schläfriger Tag sein Regenlied.

(Else Lasker-Schüler, Die Wupper)

Zum Beispiel hat sie sich in Radevormwald von der ehemaligen Wülfing-Tuchfabrik inspirieren lassen. Da war so ein großes blaues Schild, hast du das auch gesehen? (Ich habe es natürlich nicht gesehen.) Man konnte darauf die ganze Stadt sehen, die um die Fabrik herum gebaut war, erzählt sie, das Mädchenwohnheim, die Metzgerei, allerlei Geschäfte. Die Menschen haben in der Tuchfabrik gearbeitet und ihr dort verdientes Geld gleich wieder in den Wülfing-Geschäften ausgegeben. Ich stelle mir das so vor wie Toyota-City, sagt Tina. Wie funktioniert denn Toyota-City? Da gibt es Toyota-Kaufhäuser und Toyota-Fitnesstudios und Toyota-Restaurants und alles Geld bleibt im System. Guck mal die dicke Kuh und der schwarze Rabe, sagt sie und deutet auf die Wiese, an der wir vorbeigehen. Wir schauen der dicken Kuh und dem schwarzen Raben zu, die uns mit Nichtbeachtung strafen. Und welche Form werden deine Wupper-Texte haben?, frage ich. Weiß ich noch nicht genau, lautet die Antwort. Ich denke über Haikus nach.

Das Industriemuseum in der ehemaligen Tuchfabrik Wülfing wurde von ehemaligen Mitarbeitern gegründet. Eines der schönsten Museen, die ich jemals besucht habe.

Schon einmal hat Tina literarische Texte zur Wupper zusammengetragen und zum Jubiläum der Uni Wuppertal herausgegeben. Damals wurde die Uni 30, jetzt wird sie 50. Die Zeitschrift ist leider vergriffen. Sie hat damals auf bestehende Texte zum Arbeiterfluss zurückgegriffen: Nietzsche hat sich in einem Brief geäußert, Kant hat sich geäußert über die Städte an der Wupper, auch Ortheil kommt vor. Oft sind es nur ein paar Zeilen, was sich aber durchzieht sind: Schiefer, Fabrikgebäude, Werkstätten. Und die Kluft reiche Fabrikbesitzer, arme Leute.

Beim Abhören der Texte höre ich ab hier: Vögelzwitschern und Schweigen. Und ich erinnere mich, dass wir an einer Stelle vom Weg abkamen und über umgefallene Bäume steigen mussten.

Wie ich diese Geschichte nun beenden soll, weiß ich noch nicht. Was vielleicht daran liegen mag, dass sie nicht zu Ende ist. Teil 2 handelt deshalb von Plan B, von dem Tina sagt, jede und jeder sollte ihn haben.

Lesen Sie hier Teil 2 (Plan B) der Geschichte.

Weiterführende Infos über die Straße der Arbeit

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Ich möchte mich nicht vergessen

Alfred ist ein Kundschafter, sagt Tina und ruft: Alfred! Alfred bleibt zwar stehen, aber ohne sich umzudrehen. Er hat die Aufgabe, vorne zu sein und zu gucken, sagt Tina.

Alfred ist ein Therapiehund. Tina setzt ihn ein, wenn sie zu ihren Patienten ins Pflegeheim geht; die Patienten lieben ihn. Nicht, weil er so verschmust ist, das ist offenbar nur meine eigene Vorstellung von einem Therapiehund. Sondern, erklärt mir Tina, weil er so geduldig ist. Und weil ich anhand seines Verhaltens Dinge erklären kann.
Was denn zum Beispiel? Zum Beispiel komme ich mit Alfred ins Patientenzimmer. Alfred beachtet den Patienten gar nicht, sondern schaut aus dem Fenster. Typisch, sagt der Patient. Für mich interessiert sich niemand, nicht einmal ein Hund.
Vielleicht liegt es ja gar nicht an Ihnen, sage ich dann. Vielleicht liegt es daran, dass sich ein Hund zunächst einmal für die Vorgänge da draußen interessiert. Viele Patienten erkennen dann, dass jeder eine eigene Perspektive hat. Selbst ein Hund. Und umso mehr freuen sie sich dann, wenn Alfred sich streicheln lässt, das mag er nämlich auch gerne.

Für den Spaziergang mit Tina habe ich die Straße der Arbeit verlassen, wir gehen durchs Neandertal wie auf einem endlos grünen Teppich aus Wald und Wiese und sprechen über ihren „seltsamen“ Karriereweg. Sie kommt aus der Nähe von Bad Münstereifel, und hatte überhaupt keinen Plan, was sie mal werden wollte. Das war die Zeit, in der man Frauen in Männerberufe holen wollte, da sagte mein Lehrer, dat wär doch wat für dich, Tina. Ja, dat wär was für mich, – aber mehr aus dem Stolz heraus, das er mich da drin gesehen hat, schiebt sie hinterher; und in ihrer Stimme schwingt dieser Stolz noch immer mit, aber auch die Distanz der Jahre und wie sie ihr jüngeres Ich ein bisschen belächelt, auf eine freundliche Art.

Wieso denn nicht die große weite Welt?

Sie kommt aus einer Handwerkerfamilie und das Burschikose des Handwerks strahlt auch Tina aus. Zunächst hat sie bei einem Bauschreiner ein Praktikum gemacht, aber das war mit harter, körperlicher Arbeit verbunden, mit sehr viel schwerem Tragen. Also half sie lieber beim väterlichen Betrieb mit, der auf das Bauen von Gartenhäusern spezialisiert war, sie strich die Häuschen an und suchte sich dann einen Ausbildungsbetrieb in der Nähe. Einen, den ich mit dem Mofa erreichen konnte. Das Praktische stand im Vordergrund.

In Bad Münstereifel ist sie immer an einem Reisebüro vorbeigelaufen, da hätte ich gerne gearbeitet, aber das hätte ich mir nie zugetraut. Ich komme vom Dorf, was soll ich da den Leuten erzählen von der großen weiten Welt?, ruft ihr jüngeres Ich, das die Antwort schon weiß, und Alfred, der die Antwort noch nicht weiß, dreht sich um zu uns und schaut erstaunt: Wieso denn nicht die große weite Welt?

Bleib lieber bei dem, was du dir zutraust, sagte Tina sich und schloss ihre Ausbildung als Anstreicherin ab. In den zwei Jahren, die ich dort gelernt habe, hatte ich jeden Montag eine Magenschleimhautentzündung. Jeden Montag morgen war mir schlecht, weil ich mich wieder mit dem Meister auseinandersetzen musste. Der war nicht bösartig, aber er wollte mich erziehen. Wie man richtig zu sein hat. Zum Beispiel, dass man nicht reden darf auf der Arbeit. Ich hatte mal eine Suppenterrine dabei und die Leute nach heißen Wasser gefragt, für so etwas habe ich sofort eins auf den Deckel bekommen. Ich sollte möglichst unsichtbar sein.

Alfred komm, ruft Tina und wir biegen ab und laufen in ein Dorf, von dem ich später, als ich den Text schreibe, keine Ahnung mehr habe, wie es dort ausgesehen hat. Tina und Alfred kennen den Weg, in meiner Erinnerung gehen wir eine lange Schleife und überall duftete es nach Blumen, Gras und Moos. Und nach Hund, denn als wir Pause machen, darf ich Alfred streicheln und mit beiden Händen fest in sein dichtes Fell greifen und ihn kraulen. Er lehnt sich an mein Bein und lässt seine Zunge aus dem Maul baumeln.

Das Kind im Brunnen

Mein damaliger Freund studierte Maschinenbau in Aachen, also saß ich da mit dem Studienbuch und dachte, was studierst du denn jetzt? Bei Sozialarbeit blieb sie hängen, das Fach erschien ihr machbar, wie Tina sagt. Warst du die erste in der Familie, die studiert hat?, frage ich. Ja klar, sagt Tina und beschreibt, wie sie sich im Sekretariat anmeldete und schon bei der Frage: Sozialarbeit oder Sozialpädagogik überfordert war. Wo ist denn der Unterschied? Und bekam zur Antwort: Wenn das Kind in den Brunnen gefallen ist, stehen die Sozialpädagogen herum und fragen, wie konnte das nur passieren? Die Sozialarbeiter fragen, wie kriegen wir das Kind wieder heraus.

Sie entschied sich für Sozialarbeit.

Wir lachen.

Nach dem Studium fing sie in einem Wohnheim für psychisch erkrankte Menschen an, und da war ich total erstaunt, wie meine Kolleginnen sich über Menschen austauschten. Wie sie über Methoden und theoretische Behandlungsansätze sprachen. Es reichte nicht, Sozialarbeiterin zu sein, man musste sich auch so verhalten! Das war mir vollkommen fremd, diese Erkenntnisse hatte das Studium in mir nicht hervorgerufen. In Psychologie hatte sie einen Professor, der tiefenpsychologisch gearbeitet hat – auch mit uns Studentinnen und der hat einfach bei jeder Frau vorausgesetzt, dass es da etwas gibt in ihrer Kindheit, wovon sie nichts weiß. Dass da was mit euch passiert ist, das ihr gar nicht wisst! Da kommst du, sagt Tina, als ungepelltes Ei natürlich ins Grübeln, wer könnte das gewesen sein, wer könnte mir etwas angetan haben? Natürlich hat es auch bei einigen gestimmt, denn die Wahrscheinlichkeit ist schon recht hoch, dass eine Frau Missbrauch oder andere Gewalt erfahren hat. Mir aber hat es ein schlechtes Gewissen gemacht, als würde ich keine Verantwortung übernehmen wollen, für das, was mir vermeintlich passiert ist.

Trotz aller vermuteten Unzulänglichkeit stellte sie bald fest, dass sie mit ihren Patient:innen sehr gut zurecht kommt und schnell Zugang zu ihnen hat.

Wahrscheinlich, sagt Tina, weil nicht alles, was mir erzählt wurde, gleich eine Methode nach sich zog.

Sie hat, denke ich beim Abhören der Aufnahmen, die Fähigkeit, Ironie so zu verpacken, dass es sich absolut nicht ironisch anhört. Man könnte auch sagen, sie verzichtet auf die Methoden der Ironie, sie ist es einfach.

Eigentlich ist der Mensch immer falsch

Mit ihrem Mann ist sie schließlich nach Mettmann gezogen, wo sie in der Tagespflege für Psychisch Erkrankte arbeitete. Da ging es vor allem darum, dass die Leute in eine Tagesstruktur kommen und nicht wieder in eine Depression verfallen. Sie vielleicht sogar wieder fit für den Arbeitsmarkt werden. Dass sie sich überhaupt wieder als wertvolle Menschen fühlen, obwohl sie ja dem Arbeitsmarkt nicht mehr zur Verfügung stehen. Das ist nämlich stark miteinander gekoppelt. Es ist Wahnsinn, sagt Tina, wie schnell du aus so einem Rasterleben heraus auf eine schwarze Seite fällst, wenn du nicht mehr genügst.

Wir gehen über ein offenes Feld, ich höre den Wind, der ins Mikro pfeift. Bei den Bewerbungstrainings wird einem vermittelt, dass es an einem selbst liegt, wenn man keinen Job bekommt. Wenn du so und so auf dem Stuhl sitzt, dann wird das nix. Eigentlich ist der Mensch immer falsch, deshalb musst du ihn formen, dann ist er richtig!

Es heißt ja immer Psychisch Kranke, aber das ist eigentlich falsch. Sie sind ja nur er-krankt, vorübergehend erkrankt. Dann lassen wir sie halt mal so, wie sie jetzt gerade sind! Sie hat zum Beispiel im Sommer Weihnachtslieder abspielen lassen, um den Besucher:innen zu zeigen: Verrückte Zeiten. Nicht bekloppt, nur verrückt! Da ist sie wieder, denke ich begeistert, diese sehr spezielle ironiefreie Ironie.

Es ist wichtig, dass ich mit dabei bin

Alfred, der Saunickel, ist verschwunden. Tina ruft nach ihm, aber er kommt nicht. Der merkt natürlich, die ist am Quatschen, da schau ich lieber mal selbst, wo was los ist.

Der Tod ihres zweiten Kindes stürzte sie in eine schwere Krise. Aber es musste weitergehen, nur wurde das Weiter immer schwerer. Die Trauer begleitete die ganze Familie, wir waren irgendwie gedämpft, sagt Tina. Dann starb der Vater, der Schwiegervater, die Mutter. Da war der Ofen dann langsam aus. Sie machte eine Mutter-Kind-Kur und kam dort das erste Mal mit Kunsttherapie in Berührung. Ich kann aber nicht malen, sagte sie. Egal, sagte die Therapeutin. Sie malte die Familie: die Kinder, den Mann, die Eltern, die Schwiegereltern. Fertig?, fragte die Therapeutin. Fertig, sagte ich. Und wo sind Sie?, fragte die Therapeutin. Da habe ich, erzählt Tina, einfach vergessen, mich selbst mit auf das Bild zu malen.

Kalkofen im Neanderthal, wurde 1672 zum ersten Mal urkundlich erwähnt.

Das war für mich der Schalter. So möchte ich nicht leben. Ich möchte mich nicht vergessen. Es ist wichtig, dass ich mit dabei bin. Und es war toll zu merken, dass ich mich über das Malen offenbar so tief ausdrücken kann. Dass da eine Wahrheit ans Licht kam, die mir nicht bewusst war. Und dafür muss ich noch nicht mal gut malen können.

Da ist der Alfred ja wieder, haste gut gemacht, sagt Tina, weil Alfred zurückgekommen ist. Wir gehen runter ins Tal.

Sie begann eine Ausbildung als Kunsttherapeutin. Ihr Mann unterstützte sie und sie stürzte sich mit vollem Elan in die neue berufliche Richtung. Im ersten Jahr war es vor allem Selbsterkunden. Und sie lernte, wie man ein echtes Feedback gibt: nicht bewerten, nicht interpretieren. Nur beschreiben. Was sehe ich? Wie ist das Bild gemacht? Das musst du üben, sagt Tina, bis du das verinnerlichst.

Schau mal, ein Reiher. Wir bleiben stehen. Hier ist beim letzten Unwetter ein Junge schwer verletzt worden. Ein Baum ist umgefallen und hat den Jungen beim Radfahren erwischt. Eine große Baumlücke klafft auf der Seite des Weges, und auf der anderen Seite, parallel zur Düssel, sieht man die Leitplanke, die erneuert worden ist. Oft läuft sie hier mit Alfred entlang, bevor sie ins Hospiz geht, wo sie seit 13 Jahren als Kunsttherapeutin arbeitet. Die Sozialarbeit ist quasi im Rucksack mit dabei.

Zusätzlich hat sie noch einen Honorarjob im Krankenhaus, doch da hat sie kürzlich gekündigt. Um Coronapatienten aufnehmen zu können, hatte das Krankenhaus die Palliativstation einfach geschlossen! Zack!, ruft Tina empört. Die Betten wurden für Coronapatienten vorgehalten – aber es lag ja keiner drin. Und dafür wurde monatelang eine Palliativstation geschlossen! Ich finde das so falsch, sagt sie. Und loyal sein zu können, das ist für mich die Grundvoraussetzung, um irgendwo zu arbeiten. Wenn ich in einem System nichts ändern kann, dann will ich wenigstens das System nicht weiter stärken. Bewundernswert, sage ich. Naja, das war schon ein ziemliches Hin und Her, sagt Tina. Und finanziell desaströs.

Und Alfred? Als die Familie sich entschloss, einen Hund zu bekommen, wollte sie wissen, wie so ein Hund funktioniert und hat mit ihm eine Hundetherapieausbildung gemacht. So ein Elo ist wirklich ein fantastischer Hund, sagt sie. Der strahlt dich nicht den ganzen Tag an, aber das würde mir auch ziemlich auf den Geist gehen.

Alfred nimmt sie nicht nur zur Kunsttherapie mit, sondern bietet auch den Hundeführerschein im Kindergarten an. Die Kinder lernen zum Beispiel, wie man sich verhält, wenn man Angst hat. Weglaufen und schreien ist das Gegenteil von dem, was man tun sollte. Ach, denke ich, hätte ich das als Kind auch gelernt!

Alfred ist mit einem anderen Hund beschäftigt und reagiert nicht auf Tinas Rufen. So eine Hundebegegnung ist eben interessanter, sagt Tina. Wenigstens hat er keinen Jagdinstinkt und läuft keinen Wildtieren hinterher.

Die Kinder waren nicht angeschaltet

Das könntest du ja auch ausbauen, das Hundetraining, sage ich. Nö, sagt Tina prompt. Das ist viel zu anstrengend. Auch für Alfred. Wenn dann fünf Kinder den Hund streicheln, sage ich: So, jetzt wechseln wir mal, wer will denn mal der Hund sein? Und der, der besonders doll war, bekommt dann die Rolle vom Hund und dann merkt er schnell, dass er das schon nach 20 Sekunden nicht mehr sein will. Siehste, so geht’s dem Hund auch. Das kommt gut an, aber ist sehr anstrengend. Du hast den Hund, du hast die Kinder – und du hast die Erzieher.

Bei der letzten Prüfung ist es wirklich schlecht gelaufen. Die Kinder waren gar nicht richtig angeschaltet. Manche können noch nicht mal die Leine richtig halten. Keine Körperspannung, das merkt der Hund sofort, dann geht der weg. Dann muss ich denen erst mal beibringen, wie man eine Verbindung herstellt. Wie man eine Beziehung aufbaut.

Denn eine Leine halten, das bedeutet letztlich: den Kontakt halten, zum Hund, aber auch zu sich selbst.

Weiterführende Links zur Straße der Arbeit

Wanderung durchs Neandertal entlang der Düssel
Übersichtskarte (Sauerländischer Gebirgsverein, Bergisches Land)

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Der Arbeitsvorbereiter (Teil I)

Ich fahre mit dem Bus nach Müllenbach, Fahrtzeit: 21 Minuten. Über Nacht hat es geschneit, die kahlen Hänge sehen gespenstisch aus. An der Haltestelle Dorfmitte muss ich aussteigen. Vom Bus aus sehe ich Marc schon in der überdachten Bushaltestelle stehen.

Müllenbach ist die Wiege der Straße der Arbeit. Marc zeigt mir das Haus der Geschichten, das Haus, in dem bis vor wenigen Jahren Harry Böseke, Erfinder der Straße der Arbeit und Autor des gleichnamigen Buches, gewohnt hat. Einmal im Monat kamen die Leute nach Müllenbach, um antiquarische Bücher zu leihen oder zu tauschen, Lesungen und Vorträge zu hören, es gab Kaffee und Kuchen. Es war immer was los. Auch Marcs Mutter war im Haus der Bücher aktiv gewesen. Es gibt in der Gegend kaum jemanden, der Harry Böseke und das Bücherdorf nicht kannte. Als Harry starb, starb mit ihm auch das Bücherdorf. Nur seine Bücher gibt es noch. Und die Straße der Arbeit. Und auf der laufen wir jetzt Richtung Börlinghausen.

Metamorphosen eines Familienbetriebs

Marc ist gelernter Industriemechaniker, das ist ein Schlosserberuf in der Industrie, er hat nach Lehre und Gesellenprüfung verschiedene Weiterbildungen und schließlich auch seinen Meister gemacht – der klassische Werdegang, sagt Marc. In den letzten 30 Jahre war er durchgehend in der Industrie tätig. Die Industrielandschaft hat sich stark verändert in dieser Zeit, viele Firmen haben Personal abgebaut oder ihre Produktion in andere Länder ausgelagert, und entsprechend oft hat auch Marc das Unternehmen gewechselt. Im Laufe der Zeit ist er von der Herstellung in die Konstruktion und Planung aufgestiegen. Aktuell arbeitet er in der Arbeitsvorbereitung und plant und steuert die Prozesse. In diesen Bereichen ist immer stärker digitalisiert worden. In der Firma, in der ich den Beruf gelernt habe, gab es EDV bereits in den 1990er Jahren, das waren riesige Apparate, die hatten diese 13-Zoll-Monitore in Gelb, grüne Schrift, keine Grafik. AS400 hießen die. Davor gab es eine Lochkartenanlage, das habe ich aber selbst nicht mehr miterlebt.

Seit zwei Jahren arbeitet er in einem Unternehmen, das Bremsbeläge für Lkw herstellt. Schon sein Vater war dort 45 Jahre lang angestellt. Damals war es noch ein Familienbetrieb. Der hat dann aber einige Metamorphosen durchgemacht, wurde an einen Konzern verkauft, dann an den nächsten Konzern. Aber es gibt das Unternehmen immer noch, und durch einen Zufall ist Marc nun ebenfalls hier gelandet. Er steht allerdings nicht mehr selbst in der Halle, sondern steuert die Arbeitsvorbereitung und Fertigungssteuerung. Weil diese Prozesse mit SAP gesteuert werden, unterhalten wir uns die nächste Viertelstunde über Fußball und den FC Hoffenheim, deren Hauptsponsor der Gründer von SAP Dietmar Hopp ist.


Hier könnte ein Exkurs darüber stehen, ob man Fußball als Arbeit bezeichnen kann.

Marc hat die Wanderroute, die ich ihm gemailt habe, komplett abgespeichert und weiß auswendig, wie wir gehen müssen. Eine perfekte Arbeitsvorbereitung.

Wir hatten früher deutlich mehr Industrie hier in Marienheide, sagt Marc, das waren Quoten von 70 Prozent im verarbeitenden Gewerbe, mit Fabriken, die 600 bis 700 Angestellte beschäftigten. Er fasst die Geschichte der Arbeit im Oberbergischen so zusammen: Früher gab es hier überwiegend Landwirtschaft, dann haben die Leute in den Gruben und Steinbrüchen gearbeitet, nach dem 2. Weltkrieg sind sie in die Fabriken gegangen. Deshalb war Arbeit für Marc, der hier aufgewachsen ist, immer etwas, das mit Handwerk und Herstellung zu tun hatte. Erst in den letzten 30 Jahren ist der Dienstleistungssektor dominant geworden.

Wo die Wupper noch Wipper heißt

Seine erste Stelle hatte er in einem Betrieb, der Laden- und Betriebseinrichtungen herstellte, Regale aus Metall zum Beispiel, für Supermärkte. Schon sein Opa und seine Mutter arbeiteten in dieser Firma, allerdings nicht zur selben Zeit wie Marc. In der Abteilung, in der Marc gearbeitet hat, wurde viel geschweißt. Wir haben das Material zugeschnitten, das waren Stahlprofile, die wurden geschnitten, gebohrt, geschliffen, alles in klassischer Handarbeit, sagt Marc und ich sehe Marc in einer sehr großen Fertigungshalle mit hohen Decken stehen und schweißen, hämmern und schleifen und an einer Wand sehe ich, wie immer mehr Regale dazukommen und nun sehe ich eine Kette und dann mehrere Regalketten, und plötzlich stehen die Regalketten nicht mehr in der Fertigungshalle, sondern im Supermarkt, im Lidl, denn ich denke bei Supermarkt immer Lidl, weil ich mal neben einem gewohnt habe (Damals als die Verkäuferinnen bei Lidl noch die Preise aller Produkte auswendig wussten, was ich immer bewundert habe.)

Wir sind mittlerweile in Börlinghausen und schauen uns die Quelle der Wupper an, die man vor dem Restaurant „Zur Wupperquelle“ besichtigen kann. Wobei, sagt Marc, dies hier nur die stilisierte Quelle der Wupper ist. Denn die Wupperquelle speist sich eigentlich aus drei Dutzend Mulden auf der anderen Seite des Hauses. Hier in Börlinghausen heißt die Wupper übrigens Wipper, erst ab Wipperfürth-Ohl heißt sie dann Wupper.

Wann hat es aufgehört mit dem Schnee?

Wir sprechen über den Schnee. Auf den Aufnahmen, die ich von unserem Gespräch gemacht habe, kann man das Knirschen unserer Schritte auf den gefrorenen Wegen hören. Müllenbach war mal ein Wintersportzentrum, erzählt Marc, es gab Skilifte, es gab sogar eine Sprungschanze hier, aber das war noch vor meiner Zeit, sagt Marc, in den 1920er Jahren. Ich weiß nicht genau, wann es endgültig aufgehört hat mit dem Schnee, sagt Marc. Anfang der 1990er Jahre kaufte man noch eine neue Pistenraupe, aber schon bald schneite es nur noch selten. Und dann noch seltener. Der Skilift ist inzwischen abgerissen.

Wir suchen die richtige Abzweigung, um zur Brucher Talsperre zu gelangen, ich kenne das hier ja seit Jahrzehnten, sagt Marc, aber ohne Bäume sieht alles ganz anders aus. Ich bin ja mit diesen Fichtenwäldern aufgewachsen. Die Fichten nannte man auch Preußenbäume, weil die Monokultur eine Idee der Preußen war.

Naja, immerhin ist jetzt die Aussicht besser. Man kann zwar nicht ganz bis nach Preußen schauen, aber immerhin bis nach Westfalen.

Der Arbeitsvorbereiter, Teil II lesen Sie hier

Weiterführende Links zur Straße der Arbeit

Die Straße der Arbeit III von Müllenbach nach Wipperfürth-Ohl
Übersichtskarte (Sauerländischer Gebirgsverein, Bergisches Land)

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