A Privileged Place

Ort: Münster | Datum: Sa, 10.06. – Fr, 01.10.2017 | Wetter: Entweder es regnet, oder …

Nairy Baghramian: Privileged Points. Hinterhof Erbdrostenhof, Münster. Skulptur Projekte Münster 2017.Ein Urzeittier. In Teilen. Wie ein aufgebockter Tausendfüßler harrt es im Hof. Ein Stück Saurierskelett. Gebrochenes Rückgrat. Zur Schau gestellt. Hinter Mauern und eisernen Toren, zu besichtigen, täglich von 10.00 bis 20:00 Uhr, freitags bis 22:00 Uhr. „Ich weiß, was das ist. Wie heißt das Tier nochmal?“ Trauben von Menschen stehen um das Grau herum oder sitzen auf dem Weiß. Picknicken. Pausieren. Führungen auf Deutsch, Englisch, Holländisch. Gezückte Smartphones. Ein vorübergehendes Labyrinth von abgestellten SP-Leihrädern.

Das neonrot leuchtende Logo weist den Weg auf den Vorplatz und in den Hinterhof. Von der Salzstraße oder vom Servatiikirchplatz aus durch ein Tor zu betreten. Die Skulptur im Freien. Die Verbindungsachse aber durchzieht das Portal, das Gebäude. Wer den Erbdrostenhof betreten will, läuft einen kleinen Schlenker. Die Skulptur bedeutet einen Umweg. Eine Verzögerung. Wenn auch nur minimal. Ein Guide im Regiestuhl – vor dem Gebäude, dahinter, bei Regen auch mal darin oder unter dem Balkonvorsprung des Saals. Ein Aufblicken vom gewohnten Weg.

„Eine Skulptur ist das, was im Wege steht“Ayşe Erkmen: On water. Stadthafen 1, Münster. Skulptur Projekte Münster 2017.

Nicht Touristin, nicht Einheimische, schaue ich den Suchenden beim Suchen zu. Der tastende Blick, der sich vom Stadtplan löst, über die auf Asphalt gesprayten Logos und Pfeile streift und die Straßenzüge und Gebäude mustert. Soll man ihnen sagen, wo die Skulptur steht? Schmunzeln. Und dann wieder Stirnrunzeln. Ob des ganz selbstverständlichen Betretens ansonsten anderen vorbehaltener, abgelegener oder unbeachteter Orte. Die Skulptur und ihre AnhängerInnen als Eindringlinge im Gewohnten, Ruhigen, Vorgeformten. Ziehen die Blicke auf sich. Noch immer wirken sie fehl am Platze. Ich versuche, Orte aufzusuchen, die mir weniger vertraut sind. An denen sie nicht wie Fremdkörper im gewohnten Bild wirken.

Mika Rottenberg: Cosmic Generator. Gartenstraße 29, Münster. Skulptur Projekte Münster 2017.Das Schild springt nicht ins Auge. Trotz leuchtendbunter Birnchen. Unweit des Asia-Shops wieder ein obligatorisches SP-Fahrräder-Labyrinth. Beim Betreten des Ladens zur Rechten eine Frau hinter der Theke. Ist sie Verkäuferin? Der Laden doch noch in Betrieb? In den Regalen stehen Produkte. Kitsch. Lametta, lachende Eier, Ananas-Schwimmreifen. Ohne die anderen, unsicher ein- und auftretenden Suchenden, hätte ich die Dame vielleicht gefragt, ob ich wirklich richtig bin. Mika Rottenberg: Cosmic Generator. Gartenstraße 29, Münster. Skulptur Projekte Münster 2017.Ob ich einfach so eintreten darf. Nur, um mal zu gucken. Schmale Gänge. Regale bis zur Decke. Spinnweben wiegen sich im Takt des schwenkenden Standventilators. Im verdunkelten Raum zur Straße hin schaut man in die Röhre. Bis nach Mexiko.

„Kunst als Ausflug?“

Kunst im öffentlichen Raum. Skulpturen auf dem Weg zur Uni, dem Weg zur Arbeit, dem Weg zum Einkaufen. Was passiert, wenn man sie vom Sockel hebt? Macht es sie nahbarer? Oder senkt es die Hemmschwelle? An der Promenade im Schatten des Buddenturms rollen die Köpfe, kriecht fremde Farbe den Rücken hinauf. Oder die sandfarbene Museumswand, außen, neben der Treppe. „Die Schlange wurde nach Drinnen verlegt.“ Vielsprachige Schlange von Menschen. Schilder wie im Freizeitpark an der Hauptattraktion. „Ab hier noch 30 Minuten.“ Freier Fall? Loopings? Endzeitstimmung ohne Eis! Unweit des Aasees Sprünge im LED-Panel. Ei Arakawa: Harsh Citation, Harsh Pastoral, Harsh Münster. Wiese vor Haus Kump, Mecklenbecker Straße 252. Skulptur Projekte Münster 2017.Harsh Münster? Den Weg übers Wasser versperren des Nachts Metallzäune mit spitzen Zacken.

Was geht, was kommt wieder – nur woanders – und was bleibt? In vier oder fünf Jahren könne man erst etwas über die Wirkung der diesjährigen Skulptur Projekte sagen, so der künstlerische Leiter Kasper König in einem Interview mit Ulrike Timm für den Deutschlandfunk. Als ich nach dem Abbau der Skulpturen erneut den Weg zum Erbdrostenhof einschlage, ertappe ich mich dabei, wie ich einen kleinen Schlenker laufe. Statt den geraden Weg zu nehmen. Ich blicke auf.

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12:54 Uhr, Essen Museum Folkwang

Stille, ein Gefühl des Aufgeregtseins, des Entrücktseins, des Dort-, nicht des Hierseins. Lesesaal, Ruhesaal. Möbel im Bauhausstil, klare Farben, zurückgenommen; niemand da. Das Surren einer Anlage, scheinbarer Wind, Zäsur: das Knarzen des Stuhles beim Hinsetzen, Zurücklehnen. Die Suche nach exakten Beschreibungen, nach Worten, die das begreifen, was ist. Kein Geruch, aber der Wunsch nach Strenge, die Möbel: herausgerissen aus einem Schlaf. Keine Begriffe für Klarheit, keine Worte für Glasfenster und Kuben. Ein, ein, aus, atmen. Die Finger in das Polster drücken, Knautschzonen ausmachen, versuchen, Struktur zu erfassen. Warten, bis jemand kommt. Darf jemand kommen? Ist es erforderlich, dass jemand kommt? Muss es zwingend ein ‚zu zweit‘ geben im Raum? Aber dann auch: Muss es Raum geben? Dazu, entfernt aus dem Off: „Wie weit muss in die Vergangenheit zurückgegangen werden, um die jüngste Vergangenheit vergessen zu können?“* Der Blick in den Hof, hier: gewölbt, Skulptur. Einzelne Wirbel der Skulptur mit den Augen abtasten, fühlen, wie es sich fühlen könnte. Der Wunsch nach Nahtlosigkeit, und dann doch: nach einem ‚zu zweit‘, und keinem Raum. Der bewusste Griff nach Übereinstimmung, dem Weltverständnis in einem Satz: „romantisch überzeichnete Ausdrucksmittel“ und „magische[r] Realismus.“**

Und dann, ganz abrupt, geht von links die Tür auf. Ein Mann betritt den Raum. Er trägt einen schwarzen Anzug und einen verkabelten Stöpsel im Ohr. Er schaut verwundert, nickt dann unmerklich, lässt die Tür ihr Übriges tun, geht durch den Raum, seine schwarzen Schuhe quietschen, er schaut auf den Boden, er bleibt unvermittelt stehen, scharrt mit dem linken Schuh, nachdrücklich, es geht nicht weg, er wartet, entscheidet, belässt es, geht weiter, öffnet die Tür – und zwar eine andere. Sie fällt krachend ins Schloss. Irgendwo wird gelacht, und jemand sagt: „Ach komm. Das ist doch Gelsenkirchener Barock.“*** 13:11 Uhr


Quellen der Zitate in der Reihenfolge ihrer Erwähnung:

*Peggy Buth: Leute wie wir. Altenessen, Karnap, Rheinhausen, Marxloh, Bredeney, 2017. 3-Kanal-HD-Projektion, Farbe, S/W, 2-Kanal-Stereo Sound.
**Ausstellungstext im Raum Neue Sachlichkeit, Sammlung Museum Folkwang. Vollständiger Satz: „Sie (die Vertreter der Neuen Sachlichkeit, Anm. d. V.) nutzen romantisch überzeichnete Ausdrucksmittel und entwickeln einen magischen Realismus.“
***Annett Gröschner, Autorin.



>Museum Folkwang<

Das Museum Folkwang in Essen. ©mhu
Das Museum Folkwang in Essen. ©mhu
Die Architektur des Museum Folkwang in Essen ist eine einnehmende. Die Klarheit des Gebäudes lässt Raum für die Kunstwerke, die Inhalte, die KünstlerInnen. Neben der ständigen Sammlung, die Malerei und Skulpturen des 19. und 20. Jahrhunderts beinhaltet, sind die Einzel- und Gruppenaustellungen immer auf der Höhe der Zeit. Mit dem 3. September enden die Ausstellungen von Arwed Messmer (RAF – No Evidence/Kein Beweis), Peggy Buth (Vom Nutzen der Angst) und San Francisco 1967 – Plakate im Summer of Love. Es folgt: Alexander Kluge (Pluriversum). Die Vernissage ist am 14. September, der Eintritt ist frei.

 

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