Sieben: Freiherr

Ich bekomme Besuch, mit dem Auto fahren wir nach Brakel, es ist spät, zwei gelbrot schimmernde Augen an einer Kreuzung, graues Fell, ich glaube, es ist ein Dachs. Im Lidl leere Gänge, es ist kurz vor Ladenschluss und wir brauchen lange, es gibt alles und zu viel, es ist unübersichtlich, anders als bei Frischehandel Schäfer. Dann wollen wir essen, wir gehen die Straßen ab, manchmal finden wir ein Gasthaus, innen sitzen Männer an der Theke, die sich kaum rühren, die Tische sind frei, die Küche sicher schon zu, einmal eine Frau im beleuchteten Gang, die Köchin oder Wirtin, sie wischt sich die Hände an der Schürze und sieht müde aus. Am Ende sprechen wir ein Paar an, das den Hund ausführt, sie blähen die Backen, als wir fragen, wo wir noch etwas zu essen bekommen. Versucht‘s mal bei Avanti, dort vor, dann links. Danke, sagen wir, sehen zum Hund, der friert, es ist kalt. Wir passieren das Rathaus, eine Mischung aus Gotik und Renaissance, prächtig und stolz, die Fenster rötlich beleuchtet, dann finden wir den Imbiss, setzen uns auf abgewetzte Barhocker, der Pizzaiolo ist freundlich, knetet unseren Teig zurecht, ein Mann tritt herein, einmal wie immer, ruft er, der Pizzaiolo nickt, Pizza Cipolla mit extra Käse und extra Kapern. Korrekt, ruft der Mann, greift sich ein Bier aus dem Kühlschrank, trinkt, guckt aus dem Fenster. Als wir in Bellersen auf dem Parkplatz halten, springt etwas ins Gebüsch.

Am Morgen sitze ich am Roman, dann machen wir uns auf nach Marienmünster, gehen Umwege, passieren ein Gehöft mit hohen Scheunen, modernes Gerät steht darin. Entlang der Straße ein gedrungener Bau, die Mauern alt, ein Baum wächst aus dem Dach, vor einem Jahrhundert muss er hindurch gebrochen sein. Zwei ältere Herren stehen in der Einfahrt, einer von ihnen am Rollator, er trägt Jägerhut. Ich grüße, aber sie reagieren nicht. Dann, als wir vorbeigehen, ruft er: Guten Tag, sagt man! Ich drehe mich um, bin etwas ratlos. Ich habe doch Guten Tag gesagt! Achso, macht der Mann. Entschuldigung. Erst später wird mir klar, es war die Abbenburg, der Mann vermutlich August von Haxthausen.

Einige Tage später habe ich einen Termin mit seinem Sohn, Caspar Moritz von Haxthausen. Ich halte vor der Rentei der Abbenburg, steige aus, der Freiherr steht in der Tür, telefonierend, er grüßt mit einer Hand, winkt mich herein. Ich halte Abstand, eineinhalb Meter, weil man das inzwischen so macht, trete also zwei Schritte hinter ihm ins Gebäude, ein kühler Flur. Nach links ein weitgehend leerer Raum, an der Wand Bilderrahmen mit Pflanzendarstellungen, die einer französischen Enzyklopädie zu entstammen scheinen. Hinter der Schwelle liegen Dielen, die nicht knarzen, aber alt aussehen, von hier geht rechts ein Zimmer ab, das einmal als Speiseraum gedient haben könnte, aber es wirkt nicht bewohnt oder genutzt, eher wie die Landhausversion eines Besprechungsraumes, in den man sich nur setzt, wenn es wirklich sein muss, in der Mitte ein imposanter Tisch umstellt von ausgeblichenen Polsterstühlen, aus dem Fenster ein Blick auf die Weide. Hinter mir Schritte, der Freiherr tritt aus dem Büro. So, sagt er.

Wir gehen über den Hof, in der Wohnung ist es warm, zwischen Gebälk eine moderne Küche, er kocht Tee, schneidet Kuchen auf, dann setzen wir uns auf den Balkon, weil das vermutlich sicherer ist. Unten recht ein Arbeiter das Laub aus dem Gras, der Tee schmeckt eigenartig rauchig und scharf, zugleich ein wenig dumpf. Annette von Droste-Hülshoff nennt er nur Annette. In der Familie kursieren Geschichten, dass sie etwas eigen war, altjungfernhaft, erzählt er, aber er erinnert sich an die häufigen Besuche der Menschen in grauen und beigen Regenjacken, die, manchmal schon am Stock gehend, sich die Abbenburg ansehen wollten, manchmal auch den Steintisch im Garten, an dem Annette Das Geistliche Jahr geschrieben haben soll. Der steht dort drüben, sagt er, deutet mit dem Daumen über die Schulter.

In den Neunzigern sei der Bökerhof in einem miserablen Zustand gewesen, seine Eltern hätten ihn aufwendig renoviert, das kleine Museum eingerichtet, das heute schon wieder geschlossen ist. Damals kamen viele Menschen, ein Hype war entstanden wegen des Zwanzigmarkscheins, auf dem die Annette lockig und kühn in die Ferne blickte. Inzwischen hat das Interesse wieder etwas abgenommen. Ich vergesse zu fragen, was er von Karen Duve hält und ihrem historischen Roman, Fräulein Nettes kurzer Sommer. Der Arbeiter, in orangfarbener Reflektorenjacke, macht sich an der Hecke zu schaffen.

Die drei Lehen der Haxthausens in Abbenburg, Bökendorf und Vörden wurden durch die Stein-Hardenbergschen Reformen und die Bodenreform von 1949 geschmälert, der heutige Betrieb bewirtschaftet das, was von ihnen geblieben ist. Die Forstwirtschaft sei ein langsames Geschäft, erzählt er. Eine Eiche ernte man nach etwa zweihundert Jahren, sie wachse langsam, deswegen sei sie auch so fest, eigne sich bestens für Fachwerk, er zeigt auf die Verstrebungen am Balkon, von denen der Lack blättert. Aber industriell seien sie ein Albtraum, bei jedem Stamm müsse man schauen, wie man ihn zerteilen könne, oder ob. Eine Fichte dagegen wachse schnurgerade in die Höhe, die könne man einfach in die Maschine legen und fertig. Hier, sagt er, stampft mit dem Fuß auf die Diele, das hier ist Fichte. Sie ist der Brotbaum des Fortwirts, nach achtzig Jahren schon erntereif. Wenn sie nicht der Käfer frisst.

Was heißt verantwortlich, sagt Haxthausen, also, natürlich engagiere er sich in der Region, er sitze im Bezirksausschuss Bökendorf, aber dort sei er hineingewählt worden wie jeder andere auch. Und dann gebe es noch ein paar alte Zöpfe, die aber auch Wurzeln seien. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts seien ja so viele Traditionen über Bord geworfen worden, dass es heute vielleicht ganz schön sei, noch an einigen festzuhalten, die geblieben sind. Das sei nichts Institutionalisiertes, erklärt er, nichts in Stein Gemeißeltes, das könne jederzeit aufhören, wenn die Menschen davon genug hätten. Aber wer das Gut in Vörden besitze, dem werde beim Schützenfest ein Ständchen gespielt. Und deswegen bekomme eben er das Ständchen. Wenn Sie das Gut kaufen, sagt er, dann bekommen Sie das Ständchen.

Zöpfe, die Wurzeln sind, überlege ich, stelle mir das vor, wie die Menschen vom Kopf herab ins Erdreich wurzeln.

Ja, Horst Krus ist tatsächlich der letzte Mensch, der auf der Abbenburg geboren wurde, in diesem Gebäude, Caspar von Haxthausen zeigt auf die Fichtendielen. Seine Eltern haben auf der Abbenburg gearbeitet, als was genau, das weiß Caspar von Haxthausen nicht, er müsste seinen Vater fragen. Krus hatte immer behauptet, hier sei auch der Gerichtssaal gewesen, von dem in der Judenbuche die Rede ist, aber Caspar von Haxthausen ist skeptisch, zeigt auf die tragenden Eichenpfeiler und auf die Decke über uns. Da liegen Wesersteine drauf, sagt er, die sind sehr schwer, diese Pfeiler können Sie nicht versetzen oder rausnehmen, also ist nicht sonderlich viel Platz. Ich glaube nicht, dass das hier in diesem Haus war, aber Horst Krus wollte halt unbedingt im Gerichtssaal der Judenbuche geboren worden sein. Haxthausen lacht.

Eine Frau tritt gegenüber aus der Tür, meine Mutter, sagt Haxthausen und winkt, sie kommt näher, schaut zu uns herauf. Das ist Herr Federer, ruft er ihr zu, er wohnt in Bellersen und schreibt über die Region. Oha, macht die Mutter. Guten Tag, sage ich. Dann geht sie spazieren.

Wir treten hinaus, die Sonne scheint, ich muss die Hand an die Stirn legen, um ihm ins Gesicht zu sehen. In der Landwirtschaft hat der Betriebsleiter einen Mitarbeiter, in der Forstwirtschaft zwei. Es hat sich alles sehr verändert, sagt er, die Maschinen GPS-gesteuert, computergestützt. Und diese Angestellten wohnen dort unten?, frage ich, zeige auf den langgezogenen Bau am Ende des Hofes, aber Haxthausen schüttelt den Kopf. Nein, nein, die sind einfach vermietet. Aber sonst, er deutet auf eine Scheune, auf eine zweite, ist noch alles in Betrieb, der Getreidespeicher, die Getreidetrocknung, das Lager für das Pflanzenschutzmittel, und so weiter. Und die gefleckten Schafe da draußen? Ja, sagt er. Aber die sind nur ein Hobby. Es sind Jakobsschafe.

Als ich vom Gut fahre, überhole ich zwei Fußgängerinnen, Mutter und Tochter, vermute ich, mit vorgespanntem Hund. Sie bleiben stehen, grüßen, forschend gucken sie durch die Windschutzscheibe. Ich halte in der Ausfahrt, der Arbeiter blickt vom Laubberg auf, den er inzwischen aufgetürmt hat, er hebt die Hand, wie ich auf die Landstraße fahre, ich tue es ihm gleich, im Rückspiegel sehe ich seinen Arm sinken.

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