Acht: Byebye Bellersen

Ich räume den Kühlschrank aus, zwei Joghurts, ein abgepackter Bulgursalat, ein Rest Käse. Auf der Anrichte noch ein wenig Brot, außerdem Kaffee, Öl und Essig, ein paar Gewürze, Müsli. Aus dem Kaminofen ziehe ich die metallene Schublade, lasse die Asche in die Büsche rieseln, einmal kommt Wind auf, ein weißer Nebel steigt auf, sinkt ab, fort ist er.

Im Badezimmer nehme ich Duschgel und Shampoo aus der Halterung, Zahnbürste und Deo von der Anrichte, lege alles in den Kulturbeutel. Ein altes T-Shirt hängt an der Tür, seit Tagen schon, ich nehme es vom Haken.

In den Koffer packe ich auch eine Flasche Apfelbrand vom Heimatverein, die Früchte stammen von den Streuobstwiesen auf dem Schmandberg. Außerdem einige Gläser aus der Imkerei, Akazienhonig, Rapshonig, Tannenhonig, Kornblumenhonig.

Dann sammle ich die Bücher vom Sofa, vom Bett, vom Schreibtisch, eines finde ich auf der Veranda, ich kann mich nicht erinnern, wann ich es dort abgelegt habe. Unter dem Sofa ein zerknittertes Westfalenblatt, eine Wanderkarte, die mir nicht gehört. Ich sortiere Unterlagen und Broschüren, schmeiße einiges in die Papiertonne, und doch wird das Gepäck immer unübersichtlicher, zum Glück werde ich abgeholt, an Bus und Bahn ist zur Zeit nicht zu denken.

Als wir auf der Landstraße fahren Richtung Hinnenburger Forst, ganz plötzlich, braune Flecken auf der Wiese, am Waldrand, ich sehe sie aus dem Augenwinkel, dann erst gucke ich hinüber, erkenne die Herde, Rehe oder Hirsche, sie stehen da, recken ihre Häupter, aufmerksam, aber nicht verängstigt, fast glaube ich, sie sehen uns nach.

In den Nachrichten die neuen Zahlen. Der Gesundheitsminister erklärt, es sei die Ruhe vor dem Sturm. Keiner könne sagen, was komme. Ich denke, er hat doch gesagt, es kommt ein Sturm. Der Himmel rot, davor dürre Äste, manchmal ein Gehöft, es fühlt sich seltsam an, unwirklich und mulmig. Als ginge etwas zu Ende.

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Sieben: Freiherr

Ich bekomme Besuch, mit dem Auto fahren wir nach Brakel, es ist spät, zwei gelbrot schimmernde Augen an einer Kreuzung, graues Fell, ich glaube, es ist ein Dachs. Im Lidl leere Gänge, es ist kurz vor Ladenschluss und wir brauchen lange, es gibt alles und zu viel, es ist unübersichtlich, anders als bei Frischehandel Schäfer. Dann wollen wir essen, wir gehen die Straßen ab, manchmal finden wir ein Gasthaus, innen sitzen Männer an der Theke, die sich kaum rühren, die Tische sind frei, die Küche sicher schon zu, einmal eine Frau im beleuchteten Gang, die Köchin oder Wirtin, sie wischt sich die Hände an der Schürze und sieht müde aus. Am Ende sprechen wir ein Paar an, das den Hund ausführt, sie blähen die Backen, als wir fragen, wo wir noch etwas zu essen bekommen. Versucht‘s mal bei Avanti, dort vor, dann links. Danke, sagen wir, sehen zum Hund, der friert, es ist kalt. Wir passieren das Rathaus, eine Mischung aus Gotik und Renaissance, prächtig und stolz, die Fenster rötlich beleuchtet, dann finden wir den Imbiss, setzen uns auf abgewetzte Barhocker, der Pizzaiolo ist freundlich, knetet unseren Teig zurecht, ein Mann tritt herein, einmal wie immer, ruft er, der Pizzaiolo nickt, Pizza Cipolla mit extra Käse und extra Kapern. Korrekt, ruft der Mann, greift sich ein Bier aus dem Kühlschrank, trinkt, guckt aus dem Fenster. Als wir in Bellersen auf dem Parkplatz halten, springt etwas ins Gebüsch.

Am Morgen sitze ich am Roman, dann machen wir uns auf nach Marienmünster, gehen Umwege, passieren ein Gehöft mit hohen Scheunen, modernes Gerät steht darin. Entlang der Straße ein gedrungener Bau, die Mauern alt, ein Baum wächst aus dem Dach, vor einem Jahrhundert muss er hindurch gebrochen sein. Zwei ältere Herren stehen in der Einfahrt, einer von ihnen am Rollator, er trägt Jägerhut. Ich grüße, aber sie reagieren nicht. Dann, als wir vorbeigehen, ruft er: Guten Tag, sagt man! Ich drehe mich um, bin etwas ratlos. Ich habe doch Guten Tag gesagt! Achso, macht der Mann. Entschuldigung. Erst später wird mir klar, es war die Abbenburg, der Mann vermutlich August von Haxthausen.

Einige Tage später habe ich einen Termin mit seinem Sohn, Caspar Moritz von Haxthausen. Ich halte vor der Rentei der Abbenburg, steige aus, der Freiherr steht in der Tür, telefonierend, er grüßt mit einer Hand, winkt mich herein. Ich halte Abstand, eineinhalb Meter, weil man das inzwischen so macht, trete also zwei Schritte hinter ihm ins Gebäude, ein kühler Flur. Nach links ein weitgehend leerer Raum, an der Wand Bilderrahmen mit Pflanzendarstellungen, die einer französischen Enzyklopädie zu entstammen scheinen. Hinter der Schwelle liegen Dielen, die nicht knarzen, aber alt aussehen, von hier geht rechts ein Zimmer ab, das einmal als Speiseraum gedient haben könnte, aber es wirkt nicht bewohnt oder genutzt, eher wie die Landhausversion eines Besprechungsraumes, in den man sich nur setzt, wenn es wirklich sein muss, in der Mitte ein imposanter Tisch umstellt von ausgeblichenen Polsterstühlen, aus dem Fenster ein Blick auf die Weide. Hinter mir Schritte, der Freiherr tritt aus dem Büro. So, sagt er.

Wir gehen über den Hof, in der Wohnung ist es warm, zwischen Gebälk eine moderne Küche, er kocht Tee, schneidet Kuchen auf, dann setzen wir uns auf den Balkon, weil das vermutlich sicherer ist. Unten recht ein Arbeiter das Laub aus dem Gras, der Tee schmeckt eigenartig rauchig und scharf, zugleich ein wenig dumpf. Annette von Droste-Hülshoff nennt er nur Annette. In der Familie kursieren Geschichten, dass sie etwas eigen war, altjungfernhaft, erzählt er, aber er erinnert sich an die häufigen Besuche der Menschen in grauen und beigen Regenjacken, die, manchmal schon am Stock gehend, sich die Abbenburg ansehen wollten, manchmal auch den Steintisch im Garten, an dem Annette Das Geistliche Jahr geschrieben haben soll. Der steht dort drüben, sagt er, deutet mit dem Daumen über die Schulter.

In den Neunzigern sei der Bökerhof in einem miserablen Zustand gewesen, seine Eltern hätten ihn aufwendig renoviert, das kleine Museum eingerichtet, das heute schon wieder geschlossen ist. Damals kamen viele Menschen, ein Hype war entstanden wegen des Zwanzigmarkscheins, auf dem die Annette lockig und kühn in die Ferne blickte. Inzwischen hat das Interesse wieder etwas abgenommen. Ich vergesse zu fragen, was er von Karen Duve hält und ihrem historischen Roman, Fräulein Nettes kurzer Sommer. Der Arbeiter, in orangfarbener Reflektorenjacke, macht sich an der Hecke zu schaffen.

Die drei Lehen der Haxthausens in Abbenburg, Bökendorf und Vörden wurden durch die Stein-Hardenbergschen Reformen und die Bodenreform von 1949 geschmälert, der heutige Betrieb bewirtschaftet das, was von ihnen geblieben ist. Die Forstwirtschaft sei ein langsames Geschäft, erzählt er. Eine Eiche ernte man nach etwa zweihundert Jahren, sie wachse langsam, deswegen sei sie auch so fest, eigne sich bestens für Fachwerk, er zeigt auf die Verstrebungen am Balkon, von denen der Lack blättert. Aber industriell seien sie ein Albtraum, bei jedem Stamm müsse man schauen, wie man ihn zerteilen könne, oder ob. Eine Fichte dagegen wachse schnurgerade in die Höhe, die könne man einfach in die Maschine legen und fertig. Hier, sagt er, stampft mit dem Fuß auf die Diele, das hier ist Fichte. Sie ist der Brotbaum des Fortwirts, nach achtzig Jahren schon erntereif. Wenn sie nicht der Käfer frisst.

Was heißt verantwortlich, sagt Haxthausen, also, natürlich engagiere er sich in der Region, er sitze im Bezirksausschuss Bökendorf, aber dort sei er hineingewählt worden wie jeder andere auch. Und dann gebe es noch ein paar alte Zöpfe, die aber auch Wurzeln seien. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts seien ja so viele Traditionen über Bord geworfen worden, dass es heute vielleicht ganz schön sei, noch an einigen festzuhalten, die geblieben sind. Das sei nichts Institutionalisiertes, erklärt er, nichts in Stein Gemeißeltes, das könne jederzeit aufhören, wenn die Menschen davon genug hätten. Aber wer das Gut in Vörden besitze, dem werde beim Schützenfest ein Ständchen gespielt. Und deswegen bekomme eben er das Ständchen. Wenn Sie das Gut kaufen, sagt er, dann bekommen Sie das Ständchen.

Zöpfe, die Wurzeln sind, überlege ich, stelle mir das vor, wie die Menschen vom Kopf herab ins Erdreich wurzeln.

Ja, Horst Krus ist tatsächlich der letzte Mensch, der auf der Abbenburg geboren wurde, in diesem Gebäude, Caspar von Haxthausen zeigt auf die Fichtendielen. Seine Eltern haben auf der Abbenburg gearbeitet, als was genau, das weiß Caspar von Haxthausen nicht, er müsste seinen Vater fragen. Krus hatte immer behauptet, hier sei auch der Gerichtssaal gewesen, von dem in der Judenbuche die Rede ist, aber Caspar von Haxthausen ist skeptisch, zeigt auf die tragenden Eichenpfeiler und auf die Decke über uns. Da liegen Wesersteine drauf, sagt er, die sind sehr schwer, diese Pfeiler können Sie nicht versetzen oder rausnehmen, also ist nicht sonderlich viel Platz. Ich glaube nicht, dass das hier in diesem Haus war, aber Horst Krus wollte halt unbedingt im Gerichtssaal der Judenbuche geboren worden sein. Haxthausen lacht.

Eine Frau tritt gegenüber aus der Tür, meine Mutter, sagt Haxthausen und winkt, sie kommt näher, schaut zu uns herauf. Das ist Herr Federer, ruft er ihr zu, er wohnt in Bellersen und schreibt über die Region. Oha, macht die Mutter. Guten Tag, sage ich. Dann geht sie spazieren.

Wir treten hinaus, die Sonne scheint, ich muss die Hand an die Stirn legen, um ihm ins Gesicht zu sehen. In der Landwirtschaft hat der Betriebsleiter einen Mitarbeiter, in der Forstwirtschaft zwei. Es hat sich alles sehr verändert, sagt er, die Maschinen GPS-gesteuert, computergestützt. Und diese Angestellten wohnen dort unten?, frage ich, zeige auf den langgezogenen Bau am Ende des Hofes, aber Haxthausen schüttelt den Kopf. Nein, nein, die sind einfach vermietet. Aber sonst, er deutet auf eine Scheune, auf eine zweite, ist noch alles in Betrieb, der Getreidespeicher, die Getreidetrocknung, das Lager für das Pflanzenschutzmittel, und so weiter. Und die gefleckten Schafe da draußen? Ja, sagt er. Aber die sind nur ein Hobby. Es sind Jakobsschafe.

Als ich vom Gut fahre, überhole ich zwei Fußgängerinnen, Mutter und Tochter, vermute ich, mit vorgespanntem Hund. Sie bleiben stehen, grüßen, forschend gucken sie durch die Windschutzscheibe. Ich halte in der Ausfahrt, der Arbeiter blickt vom Laubberg auf, den er inzwischen aufgetürmt hat, er hebt die Hand, wie ich auf die Landstraße fahre, ich tue es ihm gleich, im Rückspiegel sehe ich seinen Arm sinken.

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Sechs: Schattenwurf

Als ich aus dem Haus trete, schaltet Frederik die Scheinwerfer ein. Ich gehe hinüber, öffne die Beifahrertür, sage hallo, aber wir verzichten auf den Handschlag, inzwischen ist das besser. Und?, frage ich. Was ist der Plan? Och, macht er, einen Plan gibt’s eigentlich nicht, ich dachte wir fahren durch die Gegend. Okay, sage ich. Klingt gut.

Ein Stück Landstraße, dann biegen wir in die Feldwege, vor uns ein Windpark. Was meinst du, wie hoch die Dinger sind?, fragt Frederik, zeigt auf eine der Anlagen, er bremst, lässt den Wagen ausrollen, über uns die Rotorblätter. Keine Ahnung, sage ich, lege dabei den Kopf schräg, um bis zur Nabe sehen zu können. Also, der Kölner Dom hat 157 Meter, sagt er. Hm, mache ich. Vielleicht achtzig oder neunzig? Frederik schüttelt den Kopf. Die Nabe liegt bei hundertfünfzig, mit dem Rotorblatt bist du bei über zweihundert. Etwas Kies spritzt auf, als der Wagen beschleunigt, ich stelle mir vor, ein Windrad auf dem Roncalliplatz, wenn man vom Hauptbahnhof käme, sähe man die Rotorblätter hinter dem Dom aufsteigen, absinken, aufsteigen und absinken, gleichgültig, träge.

Hört man die Dinger eigentlich? Frederik nickt, ja, schon, sagt er. Aber mich stört es nicht. Andere schon. Wie hört sich das an?, will ich wissen. Naja, es ist so ein Flappflapp-Geräusch. Aha, mache ich. Flappflapp. Die Straße steigt an, ein LKW kommt uns entgegen. Der Schattenwurf, sagt Frederik, der ist schwieriger. Ich gucke fragend. Also, setzt er an, stell dir vor, das Windrad steht leicht erhöht und die Sonne tief, dann kann es sein, dass es in dein Wohnzimmer blinkt. Licht. Schatten. Licht. Schatten. Oh, mache ich. Mhm, macht er. Aber das ist alles reglementiert, die Betreiber müssen eine Schattenwurfprognose erstellen, und bei dreißig Minuten pro Tag ist Schluss, dann muss das Ding abgestellt werden. Ich schaue in den Rückspiegel, der Windpark verschwindet hinter Bäumen.

Breite Schneisen im Wald. Es wird schon viel geschlagen, nicht? Ja, sagt Frederik, das ist alles tot, die letzten Sommer waren zu heiß, die Fichten geschwächt, und dann kam der Borkenkäfer. Guck mal dort, er zeigt auf eine Hügelkuppe vor uns, bräunlich bewaldet. Die ist bald kahl. Und dort drüben ist auch nichts mehr zu retten. Ich sehe Baumstümpfe, geborstene Stämme, die im Dickicht liegen, drum herum Gestrüpp. Klimawandel, sagt Frederik, dazu die Sturmschäden.

Im Schloss Corvey halten wir im ersten Hof, in den zweiten will Frederik nicht fahren, dort wohnt der Herzog. Der Herzog?, frage ich. Ja, sagt Frederik. Und da, er zeigt auf eine doppeltürmige Kirche, besäulte Aussparungen im Verbindungsgang, da liegt Hoffmann von Fallersleben begraben.

Immer wieder Herrenhäuser, manchmal mitten im Wald, manchmal am Rand eines Dorfes, gepflegt, meist brennt Licht in einem der Fenster.

Hier, sagt Frederik, und hier, er zeigt auf leerstehende Ladenflächen, während wir durch Nieheim rollen. Und hier auch. Die Schaufenster verhangen mit Plastikfolie. Einmal ein Geschäft mit schmutzigen Scheiben, in dem aufgerissene Kartons stehen, dazwischen Kleiderständer und gefaltete Pullover, über der Ladenzeile steht noch: Schulbedarf Meyer. Wir biegen in Straßenzüge, die frisch gepflastert sind, Fachwerk oder rot gemauerte Häuser, es ist hübsch. Dort, sagt Frederik, und dort auch, ich verstehe nicht ganz, erst auf den zweiten Blick erkenne ich heruntergelassene Jalousien, Lampenkabel, die einsam aus der Decke lugen, manchmal auch Putz, der von den Wänden blättert, ein wenig nur.

Es dämmert, wir schweigen. Irgendwann frage ich: Aber Bellersen geht es besser, nicht? Ja, sagt Frederik. Schon. Gibt es denn Leerstand dort? Kaum, sagt Frederik, kaum bisher. Dann frage ich, ob ihnen die Zeit nicht in die Karten spielt, die Mietpreise in den Städten, der Verkehr in den Straßen, der Feinstaub, die Digitalisierung. Klar, sagt Frederik. Klar. Aber bis es soweit ist, müssen wir hier weitermachen. Ja, richtig, sage ich. Stimmt.

Der Wagen schmiegt sich in die Kurven, wird vom Wald verschluckt, als er uns wieder ausspuckt, ist es dunkel. Überall blinkt es, rhythmisch und rot, es könnte eine Raffinerie sein, aber es ist nur ein Windpark. Spielst du Fußball?, fragt Frederik irgendwann. Nein, sage ich, eigentlich nicht. Du? Frederick nickt. Aber nur noch Alte Herren. Wir biegen ins Dorf. Bei der Stadtmeisterschaft vor einigen Jahren, erzählt er, gab es noch eine Mannschaft aus Brakel und acht Mannschaften aus den umliegenden Dörfern. Der TuS Bellersen hatte so viele Aktive, er hätte zwei Mannschaften ganz allein stellen können. Heute gibt es noch fünf. Fünf?, frage ich. Ja. Fünf. Sie haben sich mit Nethetal und Bökendorf zusammentun müssen. Oh, mache ich.

Ich steige aus, Frederik startet den Motor, rollt auf die Straße. Als ich ins Haus trete, ist es still. Die Nachtspeicheröfen knacken, das Wlan-Gerät blinkt. Ich öffne ein Fenster, draußen wieder die Kühe von der Weide. Klagend fast. Ich klappe den Rechner auf, entsperre den Bildschirm, ein leeres Dokument schaut mich an, fragend blinkt der Cursor, fragend und ratlos, irgendwie.

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Fünf: Die Chronik

Wieder klopft es, diesmal bin ich schnell genug, eine Meise, aufgeregt flattert sie um den Türknauf, pickt dumpf mit ihrem Schnabel gegen die Scheibe, sie setzt sich, fliegt wieder auf, als sie mich bemerkt, ist sie fort. Später sehe ich sie am Fenster, neugierig blickt sie hinein, was will sie nur? Sobald ich mich nähere, flieht sie, ich trete hinaus, sehe ihr nach, von irgendwo tschilpt es, aus sicherer Entfernung.

Ich mache Fortschritte, habe die Eieruhr entdeckt, die im Bad über der Steckdose sitzt. Wenn ich sie aufziehe, gibt die Steckdose Strom, mit einem hohlen Klick springt die Elektroheizung an, Wärme für zehn tickende Minuten. Später gehe ich hinaus, laufe an der Brucht entlang in Richtung Brakel, dann rechts den Berg hinauf und zurück ins Dorf. Im Frischehandel Schäfer kaufe ich Brot und Käse, ein wenig Obst, Nudeln, eine Fertigsoße. Die Registrierkasse ist alt und mechanisch, fast traue ich mich nicht zu fragen, ob ich mit Karte zahlen kann. Na klar, sagt Frau Schäfer, reicht mir das EC-Terminal über die Theke.

Dann sitze ich wieder an der Chronik, blättere durch die Jahrhunderte. Krus fängt von vorne an, ganz von vorne, im siebten oder achten Jahrhundert, in dem das Dorf gegründet wurde, vermutlich von einem Mann namens Balder oder Baldhari. Der Winter 1072/73 ist mild, vier Jahre später fällt er dagegen streng aus. 1181 tragen die Bäume schon im Februar Früchte, einige Jahre darauf liegt bis Pfingsten Schnee. Der Kirchenzehnt geht an Kloster Corvey.

Der Tag, an dem die Haxthausens ins Spiel kommen, ist der 13. März 1465. Krus zitiert aus der Urkunde: „Wir Simon von Gottes Gnaden Bischof von Paderborn […] haben belehnet und belehnen in diesem Brieff unsern lieben getrewen Godtschalk von Haxthausen undt seine Erben mit der Apenborgh und mit allen ihren Zubehoerungen […]“. Das Gut Abbenburg liegt an der Landstraße nach Bellersen, die Haxthausens residieren dort noch heute. 1479 expandieren sie, erhalten weitere Lehen, diesmal aus Corvey, darunter Bökendorf, wo der Bökerhof liegt, das Anwesen also, in dem später Annette von Droste-Hülshoffs Großeltern wohnen, wo die Gebrüder Grimm ein und ausgehen, Brentano, aber auch der Jurastudent Heinrich Straube, ein Bürgerlicher, der die adlige Dichterin umwirbt, kurz darauf stößt August von Arnswaldt hinzu, auch er macht ihr den Hof, aber es ist eine Intrige, in die ihre Verwandtschaft verstrickt ist, sie wird bloßgestellt, reist ab, erschüttert. Fortan meidet sie den Bökerhof, überhaupt die Haxthausens, erst siebzehn Jahre später traut sie sich zurück, zieht es aber vor, in der Abbenburg zu nächtigen, der Bökerhof bleibt ihr suspekt. Bei Krus kein Wort zu Droste-Hülshoffs Jugendkatastrophe, für das Jahr 1820, in dem sich diese zugetragen hat, nur zwei Einträge. Bellersen und Bökendorf errichten gemeinsam ein Pfarrhaus. Ludwig Emil Grimm malt eine Karikatur. Eine Kaffeerunde beim Bellerser Pastor.

Ich blättere zurück, bleibe an der Paderborner Reformation hängen. Bischof Hermann ist von Luther offenbar sehr beeindruckt, 1545 will er die katholischen Zeremonien abschaffen, kurz darauf gibt er sein Amt auf. Sein Nachfolger ist erst 1578 gefunden, er ist verheiratet, will das Hochstift in ein weltliches Fürstentum überführen, aber er stirbt, bevor er das verwirklichen kann. Dann kommt Bischof Dietrich von Fürstenberg an die Macht, ein strammer Gegenreformator. „Das ist die grobe Skizze der Entwicklung, die auch in Bellersen ihren Neiederschlag findet“, kommentiert Krus. Man merkt, er hätte hier gerne ausführlicher berichtet.

Dann Konflikte zwischen Dorf und Adel, 1644 beschwert sich der Pastor, die Haxthausens hätten dem Gesinde ketzerische Schriften vorgelesen. Ich rätsele über diesem Eintrag, kein Hinweis, welcher Art diese Schriften gewesen sein könnten. Kurz darauf gibt es Streit um Holz, die Bellerser klagen vor dem Reichskammergericht, sie haben ohne Genehmigung im Wald geschlagen, der Förster hat alles beschlagnahmt, was die Bellerser nicht akzeptieren, störrisch haben sie es dem Förster wieder abgenommen, sie wollen es als Baumaterial für das Haus des Küsters nutzen. Daraufhin fordern die Haxthausens 20 Taler von ihren Untertanen, die ihrerseits Klage gegen ihre Herren erheben, zuerst in Paderborn, dann in Speyer. Irgendwann geht es um einen Graben auf dem Schmandberg und um die Frage, ob der Graben das Waldstück markiert, in dem die Bellerser schlagen dürfen oder nicht, auch das Mastgeld ist von Bedeutung, das bezahlt werden muss, um Schweine darin zu treiben, ich komme nicht ganz mit.

1780 stirbt Pastor Böger. Krus notiert akribisch seinen Hausstand: „Im Pastorat werden vorgefunden: In der Stube eine Bettlade mit Gardinen mit einem Unterbett, zwei Kissen und zwei Pfühlen (Daunenbetten); ein Tisch; sechs neuwertige Stühle; drei alte Stühle; zwei kleine Tische; zwei Fensterläden, neun einfache Bilder; eine Flinte; sechs Karthienne“, hier macht Krus ein Fragezeichen, offenbar weiß er auch nicht, was das sein soll, ich google, finde vier Einträge, alle auf portugiesisch, außerdem Bilder, einmal eine freundliche Ärztin, die auf die stilisierte Darstellung einer Gebärmutter deutet, außerdem eine Frau mit Lupe vor dem Gesicht.

Ich lese und lese, 1788 schreibt Winkelhan, der mutmaßliche Mörder des Soistmann Berend, einen Brief aus Algier an den Fürstbischof in Paderborn, er bettelt, man möge ihn aus der Sklaverei freikaufen. Vergeblich, sein Gesuch wird zu den Akten gelegt, solche Bittschriften, notiert Krus trocken, gehörten zum Geschäftsmodell des damaligen Sklavenhandels.

Ich überblättere strenge Winter, Namensregister, statistische Erhebungen, auch einen Jungen, der tödlich vom Huf seines Pferdes getroffen wurde. 1936 halten Bellerser Schweine den Wagen von Adolf Hitler auf, der Hirt vertreibt die Tiere von der Fahrbahn, Hitler steigt aus, bedankt sich mit Handschlag. Am Ende bleibe ich bei einem Eintrag von 1956 hängen, ein Lehrer schickt seinen Schüler Terpentin holen, übergießt damit den Nachbarshund, ein Freund des Lehrers steckt ihn in Brand. Die Putzfrau hört das Jaulen und Winseln, findet und löscht das brennende Tier mit einem Eimer Wasser, es ist schwer verletzt, der Metzger tötet es mit einem Bolzenschuss. Vor Gericht behauptet der Lehrer, er habe dem Hund nur eine Lehre erteilen wollen, um ihn von seiner Hündin fernzuhalten. Der Freund gibt an, er habe das Tier keinesfalls anzünden, ihn mit der brennenden Lunte lediglich vertreiben wollen. Sechs Wochen Gefängnis ohne Bewährung. Sie gehen in Revision. Es bleibt bei vier.

Es wird spät, aber ich lese weiter, es geht um die Bundestagswahlen, um den Stand der örtlichen Viehhaltung, aber auch um Schützenfeste und den steigenden Wasserverbrauch, irgendwann schrecke ich auf, das Licht brennt noch, draußen dämmert es wieder, ich liege halb auf der Chronik, aufgeschlagen, ein bisschen ver­knickt. Herbst 1990. Die Kläranlage bekommt einen zweiten Block, außerdem einen Schönungsteich.

Schönungsteich, denke ich, als ich Zähne putze. Schönungsteich, als ich Kaffee koche. Ich gehe vor die Tür, laufe in die Bruchtauen, passiere die Anlage, den Tümpel, in der eine Ente sitzt. Schönungsteich, denke ich.

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Vier: Der Archivar

Frederik reicht mir ein schweres Buch über den Tisch, der Umschlag waldgrün. Kleine Chronik des Dorfes Bellersen. Der Autor ist ein Horst-D. Krus. Schenk ich dir, sagt Frederik. Oh, wow, sage ich. Das Kind steht im Flur, lugt schüchtern in die Küche, versteckt sich dabei halb hinter der Mutter, ich sage hallo. Das Kind heißt Antonia, die Mutter Andrea, beide sind kränklich und heute zu Hause geblieben, erzählen sie. Antonia quengelt etwas, aber als ich mit Frederik aus der Haustür trete, läuft sie uns neugierig hinterher, ich winke, sie winkt, dann wird es ihr unheimlich, sie rennt zurück in die Küche. Was denn?, höre ich Andrea von dort. Was ist denn?

Draußen erzählt Frederik von Horst Krus, dem ehemaligen Kreisarchivar, kürzlich verstorben, ein herber Verlust für das Dorf und die ganze Region. Er führt mich durch das Werkhaus, dem Vereinssitz, zeigt mir eine Ausstellung, die Krus noch selbst kuratiert hat. Es geht um einen Mordfall, um Hermann Georg Winkelhan, der den jüdischen Händler Soistmann Berend hinterlistig ermorderte und dann floh. Um die von Haxthausens, das örtliche Adelsgeschlecht, das damals über Bellersen herrschte, und um die Tochter einer geborenen von Haxthausen, Annette von Droste-Hülshoff, die aus Winkelhan den Protagonisten ihrer Novelle „Die Judenbuche“ machte, Friedrich Mergel, das Opfer hieß dort schlicht: Aaron. Würde man heute alles anders machen, sagt Frederik, deutet auf die Exponate, aber trotzdem, damals haben wir einen Preis bekommen. Aha?, mache ich und fotografiere die Schautafeln, damit ich sie später in Ruhe lesen kann. Krus sei ein Getriebener gewesen, habe einen unendlichen Forscherdrang gehabt. Zuletzt habe er sich Arabisch beibringen wollen. Ich blicke auf. Aha?, mache ich wieder. Die deutschen Archive seien so schlecht, habe er immer gesagt. Er habe in Algier recherchieren wollen, wo Winkelhan in Gefangenschaft und Sklaverei geraten sei, bevor Napoleon ihn freikaufen ließ. Aha, mache ich. Und dann, zack bumm, sei er tot umgefallen, einfach so. Das habe keiner erwartet. Frederik schüttelt den Kopf. Schlimm sei das für das Dorf. Für den Verein. Schweigend gehen wir durch die Ausstellung, ich trete so weit von den Sperrholzwänden, wie möglich, um alles ins Objektiv zu bekommen. Er könne mir sein Haus zeigen, sagt Frederik irgendwann. Wessen Haus?, frage ich.

Warte hier, murmelt er, geht über die Straße, ich bleibe stehen, sehe an der Fassade hinauf, roter Klinker, Efeu und wilder Wein, nebenan ein schief stehender Verschlag mit Feuerholz, das feucht aussieht, der Garten ein Urwald, Gestrüpp und Sträucher mit verholzenden Stämmen. Der Aufgang zur Tür ist überdacht, eine Sitzbank mit Aschenbecher, der angefüllt ist mit verblichenen Zigarettenfiltern. Dann steht Frederik hinter mir, ein klingender Schlüsselbund in seiner Hand.

Innen riecht es, modrig und schwer. Moment, sagt Frederik, geht hinein, ein blechernes Geräusch, dann das Klicken eines Schalters, endlich Licht. Staub liegt auf dem Boden, vor einer alt gewordenen Tapete hängen Bilderrahmen, ein Glückwunschschreiben adressiert an den Kreisarchivar a.D., eine Urkunde, daneben das Bellerser Wappen als Schnitzarbeit aus dunklem Holz. Links geht ein Raum ab, Bücher bis unter die Decke, in den Regalen, vor den Regalen, in der Mitte des Raumes stehen Regale gestapelt. Er hat alles gesammelt, sagt Frederik, alles, was mit der Region zu tun hat, oder mit Irland, Irland war ein Hobby. Mhm, murmle ich, während ich die Buchrücken abgehe, sein Ablagesystem zu verstehen versuche. Die Säugetiere Westfalens. Die Amphibien und Reptilien Westfalens. Die Avifauna von Westfalen. Darunter: Die Geschichte des Corveyer Waldes. Verbreitungsatlas der Farn- und Blütenpflanzen Nordrhein-Westfalens. Historische Landkarten Europa. Dann eine Illustrierte Geschichte der Medizin in sechs Bänden. Ein biographisches Lexikon in zehn Bänden. Ein Nachschlagewerk zum Deutschen Aberglauben in zehn Bänden. Neben der Tür ein beinahe mannshoher Stapel von Jahrgangsbänden der Westfälischen Forschung, außerdem vierunddreißig Bände Grimm-Gesamtausgabe. Abwesend streife ich durch die Räume, lege den Kopf nach links, nach rechts, nach links. Burgenkunde. Europas Wehrbau. Die deutsche Stadt im Mittelalter. Jüdische Literatur in Westfalen. Historische Orgeln. Barock in Westfalen. Wie viel Geld hier drin steckt, sagt Frederik, sieht sich um. Er muss jeden Cent in Bücher investiert haben. Ja, sage ich, kniend, um mir die Bände in den unteren Fächern anzusehen. Lexikon für Theologie und Kirche. Dörfliche Gesellschaft und Kriminalität. Lexikon der Philatelie.

Wir haben schon etwas aufgeräumt, aber du siehst ja selbst, er zeigt auf einen schiefen Stapel Unterlagen, Broschüren und Ordner. Plötzlich ein Menschenschädel, grinsend starrt er zwischen Buchrücken hervor. Hm, ja, macht Frederik. Horst Krus war der Meinung, jeder große Denker müsse einen Schädel besitzen. Frederik zuckt mit den Schultern. Mir fällt ein: Goethe hat sich Schillers Schädel auf einem blauen Samtkissen bringen lassen. Er soll einen geblümten Gehrock getragen haben, während er in Schillers Mundhöhle umherfingerte.

Oben geht es weiter, mehrere Regalmeter voll nummerierter Aktenordner. Das ist die Chronik, sagt Frederik, zieht einen heraus und schlägt ihn auf. Ausgeschnittene Zeitungsartikel auf Kopierpapier geklebt, handschriftlich daneben Datum und Quellenangabe, manchmal zusätzlich mit Schlagworten versehen, dann in Klarsichthülle abgeheftet. Was für eine Fleißarbeit. Er hat alles archiviert, dokumentiert und abgelegt, alles, erzählt Frederik, während er den Ordner zurück ins Regal schiebt. Und das da ist das Fotoarchiv, ich drehe mich um, bemerke jetzt erst die Stapel von grauen und schwarzen Dia-Behältern. Bei jedem Dorffest, bei jedem runden Geburtstag ist er vorbeigekommen, hat fotografiert, das ist alles hier abgelegt, sagt er. Langsam wird mir klar, was hier lagert, zwischen staubigen Teppichen, vergilbten Tapeten, es ist das kollektive Gedächtnis eines Dorfes. Wahnsinn, sage ich. Wahnsinn, mehr bringe ich nicht heraus.

Frederik erzählt von Anträgen, die sie gestellt hätten, von einem riesigen Projekt. Sie wollten die Bibliothek unbedingt erhalten, das Archiv, und die Dias müssten digitalisiert werden. Unten solle ein Begegnungsraum für das Dorf entstehen, oben vielleicht ein Atelier für Kunstschaffende, Schreibende, wer auch immer sich mit Bellersen beschäftigen wolle, mit seiner Geschichte, mit der Region.

Am Ende des Ganges ein dunkles Zimmer, schemenhaft erkenne ich ein breites Doppelbett, darüber einen Bilderrahmen, verstreut stehende Möbelstücke. Ah, mache ich, das ist das Schlafzimmer gewesen? Nein, Frederik schüttelt den Kopf. Das war das Schlafzimmer seiner Eltern. Es wirkt unverändert, wie die Eltern es zurückgelassen haben. Echt? Frederik nickt. Das hat er also auch archiviert, murmle ich. Wir schweigen. Hm, ja, macht Frederik dann. Draußen dämmert es.

Ich gehe über die Straße, sehe mir von dort das Haus an, für einen Moment wirkt es beinahe belebt, bewohnt, aber innen läuft Frederik durch die Räume, ich höre seine Schritte, nach und nach erstirbt das Licht in den Fenstern, bis alles dunkel ist, verlassen liegt es da. Die Haustür scheppert hohl im Rahmen, dann kommt Frederik die Treppe herunter. Der Garten, sagt er, zeigt mit dem Daumen über die Schulter, wie er die Fahrbahn quert, ist eigentlich auch eine Sammlung. Er hat sich für Botanik interessiert, alle möglichen seltenen Pflanzen hat er da draußen gehabt, konnte dir genau sagen, was das eine ist und was das andere. Aber jetzt, Frederik guckt zurück, jetzt ist es ein Dschungel.

Mit der Chronik unterm Arm laufe ich durchs Dorf, die Laternen springen an. Als ich die Tür aufschließe, brüllen die Rinder von der Weide.

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Drei: Bellersen

Den ersten Menschen, den ich sehe, sehe ich von hinten. Gebückt steht er da, macht sich an einem Gartenhaus zu schaffen, die graue Hose spannt über dem Gesäß, schrubbend, scheuernde Geräusche, kurz überlege ich, ob ich grüßen soll, aber ich fürchte, er könnte sich erschrecken, also gehe ich vorbei.

Noch ein Mensch, wieder sehe ich nur den gekrümmten Rücken, einen Hinterkopf, Gesäß und Beine, Gartenschuhe. Eine Frau, sie jätet Unkraut im Garten. Dann, am Haus gegenüber, ein Mensch von der Seite, er macht sich an der Regentonne zu schaffen, trägt einen langen Stab, an dessen Ende eine Vorrichtung sitzt, die ich nicht ganz einordnen kann, ein Werkzeug jedenfalls. Von anderswo ein Fernseher, dumpf, hinter blickdichten Gardinen.

Plötzlich ein Jogger, ich grüße, er nicht.

Dann zwei Frauen, sie bleiben stehen, sehen mich an, ich blicke vom Handy auf, nur kurz, bald darauf notiere ich in die Notizen-App: Dann zwei Frauen, sie bleiben stehen, verstummen, sehen mich an, ich blicke vom Handy auf. Beide in Daunenjacke, die eine moosgrün, die andere blau. Beide tragen Halstücher, hell grundiert, blass bemustert. Beide mit Kurzhaarfrisur und Sonnenbrille. Die Gestelle ausladend, die Gläser undurchsichtig. Sie biegen um die Ecke, ich höre ihre Stimmen wieder. Ausgelassen, fast fröhlich.

Ein Wandgemälde mit Hirsch, im Hals des prächtigen Tieres sitzt ein Belüftungsschacht. Ich schaue durchs Fenster, das daneben liegt, erkenne eine Einbauküche, eine Dunstabzugshaube. In den Gärten stehen Bäume, in den Bäumen sitzen Vögel, pfeifen, quietschen, lärmen regelrecht. Ich bin es nicht gewohnt, höchstens ein paar Spatzen und Tauben, die sich um herabgefallene Pommes Frites streiten, oder grellgrüne Halsbandsittiche, die scharenweise durch den Park ziehen, manchmal halsbrecherisch tief, dass Läuferinnen den Kopf einziehen, Radfahrer bremsen müssen. Hier aber nichts dergleichen.

Hinter einer Mülltonne ein Huhn. Dann noch eins. Und noch eins. Behutsam setzen sie ihre Krallen in den Rasen. Als bedächten sie jeden Schritt einzeln. Begucken sich das Gras. Die Erde. Oder das Gewürm dazwischen. Herab fährt ihr Schnabel.

Ein Mädchen, sie trägt einen Jute-Beutel, darauf „I  <3  Höxter“.

Ich gehe eine schmale Straße hinauf, entdecke einen Briefkasten in Eulenform, aus Bronze geschlagen. Kurz darauf ein Scheunentor mit Basketballkorb. Kurz darauf ein zweites Wandgemälde, diesmal ein Holztransport mit Leiterwagen, vorneweg ein Pferd, obenauf ein Mann mit Peitsche. Ich fotografiere, damit ich eine Gedankenstütze habe, wenn ich meine Notizen später ins Reine schreibe.

Mitten im historischen Ortskern, zwischen prächtigem Fachwerk und gedrungenen Scheunen, ein modernes Wohnhaus, bodentiefe Fenster, oben steht ein Kind, es winkt. Ich freue mich, freue mich wirklich, winke zurück. Dann gehe ich weiter. Plötzlich öffnet sich unten die Haustür, ein Mann steht in der Tür, er ruft mich beim Namen. Kurz darauf sitze ich am Küchentisch, er reicht mir ein Glas Wasser.

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