Heimat-Hexen

Immer wenn es knallt, sitzt die Hexe in ihrer großen Wolke über unserem Haus und beim nächsten Leuchten fährt sie herunter, so viel ist sicher, direkt zu uns in die Höhle, die wir uns mit Decken unter dem Wohnzimmertisch gebaut haben. Hörst du den Regen, wie er gegen die Fenster schlägt? So spielten wir oft, meine Schwester und ich, wenn es ein Gewitter gab in dem Haus auf dem Hügel, wo wir aufgewachsen sind.

Wir spielten, um uns gegenseitig die Angst zu nehmen. Aber auch, um sie uns zu machen. Wir beschworen wilde Emotionen wie ein Mantra, damit wir unsere Gefühle, dieses unbekannte Territorium, lernten zu beherrschen. Wir behexten, verhexten uns gegenseitig und konnten dann später nicht einschlafen. Wir rieben uns an Widerständen, suchten nach Abwechslung und verbrannten unsere Kinderseelen daran. Wir gaben uns jeder vorbeischwirrenden Aufregung hin, weil das eben so ist bei Kindern und die Exzitation überhaupt das Leben erst lebenswert macht und die Hexe über dem Dach, fuhr definitiv beim nächsten Donnerschlag zu uns herunter und in uns hinein.

Jahre später saß ich auf einer sehr engen und unbequemen Holzbank einer Universität, an der schon Leute wie Ludwig Uhland studiert hatten und hörte eine Vorlesung über Hexerei in Zentralafrika. Auch die Menschen dort beschworen die Angst, befragten Orakel oder beschuldigten andere, gezaubert, oder sogar sie verzaubert zu haben. Als Evans-Pritchard 1937 sein Hexerei, Magie und Orakel bei den Zande herausgab, bestand seine für die Wissenschaft revolutionär gesehene Leistung darin, das magische Denken fremder Gesellschaften in seinem Bestand ernst zu nehmen. Das sind keine Wilden, die Denken auch, eben nur anders als wir! Das magische Denken lässt sich sozusagen mit dem rationalen Denken westlicher Gesellschaften gleichsetzen, es ist ihm nur ein wenig hinterher, anders eben. Dabei hat Evans-Pritchard auf die innere Logik des Glaubens an Hexerei und Magie hingewiesen, die in der Vorstellungswelt und der gesellschaftlichen Wirklichkeit vieler afrikanischer Gesellschaften einen festen Platz hat. Sein Werk wird noch heute als bahnbrechender Versuch gesehen, fremde Denksysteme auf die ihre eigene Logik hin untersuchen und damit ihre Vorrausetzungen explizit zu machen. Bei den Zande, erklärte Evans-Pritchard, diente Hexerei als Element, um unglückliche Erfahrungen im Alltagsleben zu bewältigen.

Orientalismus, würde Edward Said sagen und damit den Begriff bezeichnen, der die Art und Weise benennt, mit der westliche Denksysteme sich bemühen, dass ihnen Unbekannte, so genannte Fremde, zu kategorisieren. Eigentlich wollen wir im Westen ja verstehen, was wir nicht begreifen können, weil das Andere eben nicht zum eigenen Horizont gehört. Wir möchten ja nichts Böses sagen, nicht verletzen oder urteilen, wir sind bemüht wohlwollend und politisch korrekt zu sein, wenn anders schreiben, dann setzen wir logisch ein. Und alles ist gut? Traumpfade, hat Bruce Chatwin seinen Roman über die geistige Landkarte der Aboriginis genannt und doch an deren eigenen Kulturverständniss zu schmerzhaft vorbei geschrieben.

Als Ethnologie-StudentInnen in unserer engen Holzbänken, waren wir sehr bemüht, das fremde Denksystem zu verstehen und das, obwohl die Bänke sehrunbequem waren, aber eben doch sehr wichtig, weil Uhland, Walser und sonst wer schon hineingefurzt hatten. Indem die Dinge benannt werden, machen wir uns sie vertraut, übernehmen sie, wir eignen sie uns an, sei es die Hexerei der Zande oder eben die alte Holzbank von Uhland.

Irgendwann später tauchte Hexerei in Form eines kleinen Jungs mit Narbe auf der Stirn auf und machte Magie auch für Westler wieder salonfähig. Diesmal aber nicht in der realen, sondern nur in der imaginären Welt, für Minderjährige geeignet. Auch meine Kinder träumen davon, selbst magische Kräfte zu besitzen, rufen sich gegenseitig Zaubersprüche zu, am liebsten natürlich Avada Kedavra, und genießen dann, dass dabei einfach nichts passiert.

Die schwarze Magie, lateinisch maleficium, wird auch Schadenszauber genannt,  in den Büchern über die Frühe Neuzeit, der historischen Epoche, in der die sogenannten Zaubereiprozesse in Europa praktisch boomten, stand Schadenszauber meist an erster Stelle, war somit eine entscheidende Grundlage, damit jemand angeklagt, vor Gericht gebracht wurde. Selbstverständlich auch Tanzen in der Nacht. Dem Teufel begegnen, oder sich an Orten aufgehalten haben, an denen Vieh oder Mensch krank wurden, waren definitiv verdächtige Handlungen gewesen und führten meist zu Verhaftungen.

Wer von anderen angeklagt war, wurde mit dem Schandkarren abgeholt, durchs Dorf gefahren und vor Gericht gebracht. Anrüchig war in den vor allem ländlichen Gesellschaften jegliches von der Norm abweichendes Verhalten. Sex ohne Ehe zum Beispiel gehörte dazu, Menschen, die anders aussahen, eine Behinderung hatten, gerne wurden dann auch die Mütter angeklagt, so wie Trina Schmidt. Sie hatte zwei Kinder mit Gendefekt und wurde von ihrem eigenen Vater beschuldigt, diese verzaubert zu haben. Trina Schmidt fiel dem kurkölnischen Gericht in Bilstein zwischen 1629 und 1630 zum Opfer, in dieser Zeit wüteten die Zaubereiprozesse in Südwestfalen besonders schlimm. Ein Ort, der an diese Zeit erinnert ist der Hexenturm in Olpe.

Als Kind hatte ich immer Angst vor dem Hexenturm. Dabei wusste ich lange nicht mal genau wo er wirklich stand, ich vermutete, dass die Hexen hinter dem Gitter verbrannt worden waren, wo die Statuen der Heiligen standen, dann wieder dachte ich, dass es der Turm, an dessen Seite diese Steinfigur mit Flügeln hing, doch dieser niedliche Kopf an der Seite gehörte nicht zum Hexen- sondern zum Engelsturm. Der eigentliche Hexenturm stand weiter hinten, weniger nah am Kirchplatz als die anderen historischen Gebäude.

Gebaut wurden solche Türme ursprünglich als Teile von Stadtmauern. Begriffe und Bedeutungen wie Engel oder Hexe wurden ihnen erst später zugeschrieben. Sie wurden ihnen aufgrund von Ereignissen, Geschehnissen und Zufällen  im Laufe ihrer Existenz  angedichtet. Das Verhör eines Menschen, dem magischen Kräfte zugeschrieben wurde, bestimmte die Zukunft eines Ortes, genau wie Worten zwischen Menschen auch manchmal bedeutende Folgen haben können. Beschwörungen, Verwünschungen, Sprüche, spiegeln nur die Macht der Emotionen mit der wir unserer Angst zu begegnen suchen. Die historischen Orte erzählen vom Scheitern, der Scham und auch dem Leid, dass auf Zuschreibungen folgen kann.

So wie bei Dorothea Becker, die auch mal im Hexenturm verhöhrt wurde, als sie mehrmals der Zauberei beschuldigt wurde und am Ende die schrecklichen Prozesse doch überlebte, indem sie jede Anschuldigung  und der Folter zum Trotz beharrlich von sich wies. Sie gab nicht auf. Ihre Geschichte wurde von ihren Nachfahren aufgeschrieben.

Überhaupt, für Menschen, die schon seit mehreren Generationen in der Region leben, ist es nicht unwahrscheinlich eine Person zum Vorfahren zu haben, die in Zaubereiprozesse verwickelt war, wie Dorothea Becker. Und so gibt es praktisch zu dem in Forschung und Wissenschaft verbreiteten Wissen, eine weitere Produktion, ein indigenes Erschreiben des eigenen kulturellen Gedächtnisses, dass jenseits des öffentlichen Kanon stattfindet und in lokalen Publikationen zu seiner eigenen Sprache kommt. So wie der Roman Schattenbeschwörung von Paul Tigges, der die Geschichte der wegen Zauberei angeklagten Ursula Gerwe erzählt, zu dessen Nachfahren er gehörte.

Bei der Lektüre der Heimathexen wird mir die Diskrepanz bewusst, die im Umgang mit unserer eigenen Herkunft besteht. In unseren Breiten wird weiterhin oft das Bild der Frau als Hexe produziert, die irgendwie anders ist, gefährlich, Angst macht. Dabei gibt es längst Autoren aus dem Lokalen, die mit den Klischees zu den Hexenprozessen aufräumen. Irgendwie wie bei der Hexerei der Zande, der Blick von außen überschattet den von innen. Die indigenen Autoren stehen für Heimatverein mit Wanderschuhen. Das Heimatthema umgibt eine Aura der Scham und vielleicht steht hinter der eigenen Scham auch unsere Fernsucht, das Weite suchen, das Fremde beschreiben, mehr noch, es uns zu Eigen machen, weil an dem, was wir zu Hause haben, da hängt immer noch so ein komischer, alter Mief dran. Vielleicht ist es unsere Angst vor den Empfindungen, die in uns aufkommen, wenn wir uns unserer deutschen Vergangenheit ohne wissenschaftliche Distanz zuwenden. Dann fangen wir wieder an zu stammeln, zu beschwören, zu hexen und zu verhexen. Wir drehen uns weg, und halten unseren Blick weiter sehnsüchtig in die Ferne. Wir schreiben dem anderen zu, was wir uns daheim auch nicht wirklich erklären können. Hexen zum Beispiel.

Es knallt wieder über dem Haus auf dem Hügel. Die Traumzeit ist vorbei. Gleich kommt der Donner, hörst du ihn?

 

 

 

 

 

Mehr von Barbara Peveling