Tag der Wahl

Ort: Münster | Datum: So, 24.09.2017 | Wetter: diesig bis sonnig, 13°C

Es ist Sonntag. Um kurz vor 7:30 Uhr brennt im Foyer der Grundschule Licht. „Herzlich Willkommen“. Die Tür ist geöffnet. Hier treffen heute drei Wahlbezirke Münsters aufeinander. In meinem Wahlbezirk sind wir sechs WahlhelferInnen. Drei für die erste, drei für die zweite Schicht. Wir begrüßen uns, stellen uns kurz vor, werden auf einer Liste abgehakt. Alle da. Wir werden belehrt. Keine Parteinahme während der Ausübung des Ehrenamts. Keine Parteisymbole auf der Kleidung. Ich schaue an mir herunter: grauer Pullover, blaue Jeans. In Ordnung.

Wir bereiten das Foyer für die Wahl vor, kleben eine Karte der 334 Wahllokale Münsters an die Backsteinwand, neben die Klassenfotos der GrundschülerInnen. Stadtbezirke, Wahlbezirke, Standorte der Wahllokale. Die grauen Straßen werden von blauen Linien durchschnitten, die sie in gerade und ungerade Hausnummern, stadtein- und stadtauswärts teilen. Je näher der Blick zur Kartenmitte, zur Altstadt, wandert, desto mehr blaue Cuts, desto mehr rote Punkte. Überwiegend sind Schulen die Orte der Wahl.

Außerdem hängt aus: ein Muster des Stimmzettels „für die Wahl zum deutschen Bundestag im Wahlkreis 129 Münster am 24. September 2017“. 13 Wahlmöglichkeiten für die Erststimme. In Schwarz. 23 Wahlmöglichkeiten für die Zweitstimme. In Blau. Auf Recycling-Papier. Hinter der kleinen Holzbühne an der Wand des Foyers hängen papierne Schuhe an einer Leine, alle gleichförmig. Aber jeder anders bunt bemalt. Davor stehen heute die Wahlkabinen. Auch in ihnen aufgehängte Zettel. Sie fordern dazu auf, keine Selfies mit ausgefüllten Stimmzetteln zu machen.

Um Punkt 8:00 Uhr betreten die ersten Wahlberechtigten das Foyer. Eine junge Frau und ein älteres Paar. Auch ich gebe meine Stimmen ab und mache mich dann vorerst auf den Heimweg. Über 40% meines Wahlkreises haben in den letzten Wochen bereits per Briefwahl gewählt. Viel Andrang wird demnach nicht mehr erwartet. Als ich zu der Nachmittagsschicht zu 13 Uhr zurückkehre, drängen sich bereits über drei Zeilen auf der Strichliste – die Anzahl der abgegebenen Stimmzettel. Noch weitere fünf Stunden sind die Wahllokale geöffnet.

Die älteste Wählerin an diesem Nachmittag ist 94, sagt mir ihre Begleitung. Außerdem eine Erstwählerin, wie mir deren Begleitung ebenso stolz verkündet. Ganze Familien gehen wählen (bis zum Alter von sechs Jahren darf man mit in die Wahlkabine), dazu Kinderwagen, Laufräder und Kick-Boards. Einige Kinder ziehen ihren Anhang hinter sich her, zeigen auf Gebasteltes. „Das hab ich gemacht!“ Eine ältere Dame glaubt, in der Gummibärenmischung auf unserem Tisch zeichne sich bereits „rot-grün“ ab. Ich sitze an der Urne und zähle die Stimmabgaben. Bedanke mich für jeden eingeworfenen Wahlschein. Ein paar bedanken sich auch bei mir.

Wie das für uns ist, fragt ein älterer Herr, bei einer Wahl zu helfen, bei der man die AfD wählen könne. „Wir sind unparteiisch“, entgegne ich.

Als ich gegen 18:00 Uhr den letzten Strich auf meiner Liste mache, waren es 528 Wählende. In Anzug, Abendkleid, Fahrraddress oder Jogginghose. Eine Wahlbeteiligung von über 80%. Ein gutes Gefühl. Je mehr, desto besser, desto demokratischer, denke ich. Die Auszählung findet öffentlich statt. Die Tür zum Foyer bleibt die ganze Zeit geöffnet. Die Öffentlichkeit scheint die Ergebnisse allerdings von zuhause aus zu verfolgen. 528 Stimmzettel. Das Auseinanderfalten der Stimmzettel erinnert mich an das Auseinanderfalten von Losen auf der Kirmes.

Fast zwei Stunden sortieren und zählen wir aus. Erst die übereinstimmenden Erst- und Zweitstimmen, dann die Zweitstimmen, dann die Erststimmen. Jede Zahl wird gegengeprüft. Wird in eine Liste eingetragen. Gestapelt, in Umschläge gepackt und versiegelt. Per Telefon werden die Ergebnisse durchgegeben, bevor alle Dokumente direkt zur Stadt gebracht werden. Die leeren Urnen werden später abgeholt. Stühle und Tische werden zusammengeräumt. Als die Auszählung beendet ist, lese ich die ersten Nachrichten von Freunden. Als ich gegen 20 Uhr zuhause bin, schalte auch ich die Nachrichten ein.

Mehr von Claudia Ehlert

Von Wahlkampf und Bratwurst

Lünen eine Woche vor der Bundestagswahl 2017. Ein elektronisch betriebenes Auto, voll beklebt. Rote Werbung, ein Konterfei, freundlich lächelnd, ein Datum: 24. September. Aufruf, an diesem Sonntag ein Kreuzchen bei dieser alten Volksparteien zu setzen.

Rückbank und Kofferraum voll bepackt. Postkarten, Kugelschreiber, Stofftaschen, Notizblöcke. Souvenirs oder Accessoirs oder ‚Waffen‘ oder Give-aways eines Mitglied des Deutschen Bundestags. In diesem Frühherbst. Zu Ende dieser Legislaturperiode. In einem Wahlkreis, um den noch gekämpft werden muss. Wird er rot? Wird er schwarz?
Ein Mittel für Stimmenfang: Präsenz. Demonstrierte Nähe. Ein offenes Ohr. Für Sorgen, Probleme, Berichte aus erster Quelle. Eine reichende Hand. Zur Hilfe, zum Angebot. Mit Lösungen. Im Ärmel womöglich ein Ass.

Auf dem Weg von Termin zu Termin. Michael Thews strahlt große Ruhe dabei aus. Wenn auch nicht immer wissend, was genau bei seinen Terminen auf ihn zukommt. Ortsverein, AWO, Moschee. Alles an einem Nachmittag.
Ein Erbe des Vortags: Die Stimme etwas tiefer als gewohnt. Der Abend mit Jusos ging länger als geplant. Pläne zu ändern gehört freilich dazu.

Bei einem Ortsverein im Lünener Norden die Atmosphäre eines Gartenfestes. Alleinunterhalter unterm Pavillon, Bierbänke, man kennt sich. Wer hier in der Gewerkschaft ist, ist auch im Ortsverein. Geteilte Geschichte, Kohle und Schweiß (ver)binden. Im letzten Jahrhundert kamen hier alle voll Ruß von der Arbeit. Partei ist hier auch ein sozialer Raum, eine Selbstverständlichkeit. Beziehungen. Freundschaften.
Im Hintergrund: Fahnen und Plakate der SPD. Schulz und Thews, Seite an Seite. Zwei Männer, ein Programm.

Wahlkampf mit Bratwurst (mj)

Zu Kaffee und Kuchen zwei Reden, Ärger und Spott auf gegnerische Parteien, Werbung für das eigene Programm. Beschwörung der Anwesenden: jede Stimme zählt, bald ist wieder Sonntag. Der Sonntag. Bis dahin nicht aufgeben, weiter kämpfen. Die Landtagswahl schmerzt nach. „Wir gemeinsam.“ Mit Genossinnen und Genossen. Aber auch: „Ihr müsst jetzt nochmal richtig arbeiten. Nochmal richtig Werbung machen!“

Aktuelle Zahlen werden beiseite geschoben. Von Prognosen beeinflussen lassen? Überzeugungen sind stichhaltiger. Ihnen entgegen, auf der anderen Seite: Eine Regierung in schwarz, die nur sage: „Weiter so, ist doch gut, wie es ist.“
Und im Nacken eine Furcht. Eine Partei mit blauem Logo als drittstärkste Kraft. Ein Albtraum. Könnte Realität werden.

Nach Kaffee und Kuchen: Bier und Bratwurst. Hoch die Tassen, her mit dem Senf. Ein Foto am Grill. Ganz nahbar. Ganz bescheiden. Ganz von nebenan.

Am Lünener Hauptbahnhof, ein Parkplatz, die Arbeiterwohlfahrt: Bierbänke und Schwenkgrill, Bier aus der Flasche, Wurst auf dem Pappteller, die Gleise nach Dortmund gleich nebenan.

Von nebenan auch die Rentnerin, den Sonntag extra frei gehalten („Ich habe allen gesagt, ich bin zum Grillen eingeladen.“), ihr erstes Gespräch mit einem Delegierten aus Berlin. Austausch auf Augenhöhe, Wahlversprechen. Auf beiden Seiten. „Meine Stimme haben Sie!“

Das deutsche Parlamentssystem greifbar. Die erste Stimme verortet. In einer Person.

Parkplatz-Grillen (mj)

Die Deutschen so einfach? Funktioniert so Stimmenfang? Oder eher Stimmenbestätigung?

Abends geht es weiter für Michael Thews in einer Moschee. Ein Termin, sicher diffiziler, als solche mit Bier und Bratwurst.

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