das haldern pop und die langeweile

man würde nicht direkt einen „mehrdimensionalen musik-organismus“ hinter dem unauffälligen klinker der haldern pop bar vermuten. „Wir sind ein Ort, mit uns kann man rechnen/ oder auch nicht, aber solange es Lieder gibt, wollen wir weiter zuhören und nichts verpassen, aber weiterhin gerne den Bus“, schreibt stefan reichmann am 15. april in  sein mittlerweile auch als printmagazin verfügbares online-tagebuch, das „das Vakuum“ vom 17. märz bis zum 23. juni mittels kurzer und mittellanger text + bild-einträge zu füllen versuchte. das häufigste motiv: die bushaltestelle „als synonym für ‚regionale‘ geduld.“

wenn man es nicht besser wüsste, würde man also einfach durch den knapp 6000-einwohner-ort hindurchfahren, das hellbraune gebäude in der lindenstraße 1B nicht weiter beachten. dabei gibt es hier alles, was sich im weitesten sinne als funktionssäulen der pop- und festivalkultur begreifen lässt: neben der im 60er-jahre-style belassenen bar mit kleiner bühne gibt es den raum des ehemaligen wirts, in dem jetzt der plattenladen untergebracht ist. Im oberen geschoss befindet sich neben einer künstlerwohnung das büro des labels samt booking und vertrieb, das lager und eine terrasse, auf der stefan reichmann sitzt und raucht. 1984 seien sie als 14 messdiener vor die tore des dorfes gezogen, um laut und unruhig zu sein. seit 37 jahren sei es daher mehr oder weniger ein hamsterrad gewesen; wenn das eine festival vorbei war, ging das nächste los, erzählt er in sätzen, die ähnlich wie seine tagebucheinträge manchmal wahrhaftig und manchmal fast weihevoll klingen. laut und unruhig ist es dieses jahr nicht. das programm für die 37. ausgabe war fertig und alle hätten sich darauf gefreut, sagt reichmann. lily moore, sudan archives oder BADBADNOTGOOD sind nur ein paar der künstler*innen, die zugesagt hatten.

aber auch wenn haldern eine live-marke sei, die nun fast gänzlich lahm liegt, komme die pause dem festivalbetrieb nicht nur ungelegen. man könne reflektieren, wo man vielleicht zu groß, zu üppig geworden wäre, so reichmann. neben dem „Haldern“ veranstalten sie tourneen und ein weiteres festival in kaltern, südtirol. obwohl die besucherzahl des open air festivals stetig gestiegen und die nachfrage längst da ist, schließen sie kategorisch aus, mehr als 7000 tickets zu verkaufen. 2009 wurde die bar zurück ins leben gerufen, die seit 1999 geschlossen war, sie beließen sie weitgehend so, wie sie vorher ausgesehen hatte. die idee war eine off-day-location für tourende bands und künstler*innen. denn haldern, sagt reichmann, das sei nicht nur irgendein dorf auf dem land, es liege genauso auf der achse zwischen paris und berlin bzw. hamburg, zwischen amsterdam und  münchen. das ganze funktioniert, faber hat hier eins seiner ersten konzerte gespielt, george ezra ist schon aufgetreten. mittlerweile hat die bar unter normalen umständen von donnerstag bis samstag geöffnet, manchmal auch sonntags. es kommen leute aus dem dorf aber auch von weiter weg. erst letztes wochenende seien zwei junge frauen hier gewesen, um ihr privates haldern zu zelebrieren. sie hätten nicht wahrhaben wollen, dass es dieses jahr nicht stattfindet.

als jüngstes von neun katholisch erzogenen kindern ist der heutige künstlerische leiter des festivals hier geblieben,  auf dem land. „aus der langeweile erwächst einiges“, sagt reichmann. obwohl er den vergleich von stadt und dorf unproduktiv findet – schließlich befruchte man sich doch gegenseitig – könne die ruhe auf dem land in einer situation wie dieser helfen. man hätte gelernt, geduld zu haben. reichmann sieht das dorf als resonanzraum im sinne des soziologen hartmut rosa: statt sich ständig in modernen imperativen der steigerung und beschleunigung zu messen; statt alles und jeden als verfügbares objekt oder material zu sehen, sei das hier ein ort für beziehungen, eben für resonanz. die partizipation der einwohner*innen am festivalgeschehen sei hoch, aber wenn im juli ein schützenfest anstände, würde man davor keine werbung für das festival machen. dann wären eben erst die plakate für das schützenfest an der reihe. man müsse sich öffnen und gleichzeitig verstehen, wo man steht, müsse koexistieren mit den dorfangelegenheiten.

„Be true – not better!“, das ist der leitspruch des festivals. von der terrasse aus hangelt sich eine lichterkette hinunter in den innenhof. hier hätte eigentlich ein biergarten entstehen sollen, aber leute beschwerten sich. die lautstärke. wenn er hier täglich rasenmähen würde, gäbe es wahrscheinlich nichts einzuwenden, sagt reichmann und lacht. so bleibt der innenhof leer. neben dem tagebuch hat das team eine eigene online-radiosendung „Liedgut“  ins leben gerufen, außerdem gibt es am 7. und 8. august – dem ursprünglichen zeitraum des festivals – konzerte in haldern und dingle (irland), die per livestream zusammengeschaltet werden. Black Country, New Road und die Berliner stargaze, Peter Broderick und Lisa Hannigan spielen an verschiedenen orten, aber doch zusammen. irgendetwas müsse stattfinden, nur eben anders. „Was bleibt ist die Meinung, der Durst und die Neugier. Willkommen im Dorf.“  so steht es auf der letzten seite des tagebuchs.

 

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honigstraße

ich stehe also in rheurdt schaephuysen und habe die handbremse angezogen. während der knapp einstündigen autofahrt ist ein paar mal die frage aufgekommen, ob sich der weg lohnt. alles ist in die erste dickwattige schwüle des jahres gehüllt. außerdem ist feiertag. der nachmittag wirkt ein wenig beleidigt darüber, seine einladung zur trägheit abzulehnen und ihn stattdessen mit aktivität zu füllen. nach einer strecke, die über den rhein, unspektakuläre landstraßen aber immerhin durch die alpen führt; mir den blick auf einige röhrend überholende heckscheiben mit tribal-aufklebern, erdbeerfelder und weiße waden in karierten dreiviertelhosen gewährt hat; mich mehrmals daran erinnert, dass er jetzt wohl da ist, der sommer 2020, erreiche ich eine steile einfahrt. es ist die auffälligste unebenheit, die aggressivste steigung, die mir in der region bisher begegnet ist.

jan kommt sie herunter und öffnet mir, er lebt hier mit niels. beide tragen kleidung, die worte wie „werkeln“ und „es gibt immer was zu tun“ nahelegen. während der nächsten zwei stunden zeigen sie mir ihren hof. relativ schnell muss ich feststellen, dass „hof“ nicht die richtige beschreibung für das areal ist, das die beiden – und seit kurzem auch jans mutter – ihr zuhause nennen. es klingt zu sehr nach landwirtschaft, nach nutztierhaltung, nach milchsteuer. was hier passiert, hat wenig mit pragmatik zu tun. die beiden haben sich – und es klingt so abgedroschen wie es wahr ist: ein kleines paradies geschaffen. neben dem haupthaus, das sie bewohnen, gibt es eine garage, ein etwas muffiges gästehaus mit sauna, das noch zum partyhaus umfunktioniert werden soll, und einen weiteren verschlag, hier ist gerade ein pfau drin, sagt niels und öffnet die tür, gibt den blick frei auf das dort ruhig und majestätisch thronende tier vor großen buntglasfenstern.

zwischen den gebäuden führt ein schmaler kiesweg durch bäume und brennholzstapel, es gibt eine wasserpumpe, wildwachsende blütenpflanzen, wildwachsende pflanzen ohne blüten, einen kirschbaum. am ende grenzt das grundstück an ein feld, man sieht nichts als feld. dahinter kommt nur noch holland, sagt jan. insgesamt laufen zwei pfaue über den hof, neben ihnen halten die beiden gänse und hühner, sie imkern, Honigstraße wurde der hof früher auch genannt. an der garage hängt noch das alte straßenschild. sie haben eine katze, einen hund, eine jugendliche gans, die sich verhält wie ein hund und uns während des spaziergangs auf schritt und tritt über das grundstück begleitet. sie hätte sich zu sehr an die beiden gewöhnt, sagen sie. auf der benachbarten wiese grasen zehn ziegen, das wäre praktisch, dann müssten sie die wiese nicht mehr mähen.

jan (38) ist polizist beim LKA und niels (32) ist arzt. sie haben sich vor fünf jahren entschieden, aus einem essener vorort aufs land zu ziehen. wobei das hier ja kein richtiges land wäre, sagt jan, man wäre schließlich schnell überall. er arbeitet weiterhin in duisburg, niels hat einen job in der gegend. beide kommen aus dem ruhrgebiet. ob ihnen etwas fehle, frage ich, wir stehen im riesigen bewaldeten gehege der hühner, das kaum ein gehege ist, sondern eher wirkt wie ihr eigenes  schattiges dorf. In der mitte steht der hühnerschlag wie eine kirche, im vergitterten krankenhaus unweit des zentrums päppeln sie lädierte hennen aus legebatterien auf und die küken tun ihre ersten schritte. um das areal baumeln leere weinflaschen in der luft. wenn man nur sie betrachtet und die dekoelemente, die sporadisch aber liebevoll-konsequent in gewächse, fenster, auf baumstümpfe oder zielsicher ins hoch gewachsene gras drapiert wurden, könnte man sich auf dem gelände eines kleinen, naturverbundenen festivals vermuten, auf dem verspielter bummeltechno läuft. wie, um das gegenteil zu beweisen, kräht einer der hähne laut.

nein, ihnen fehle nichts. sie wären auch in essen nicht diejenigen gewesen, die viel ausgegangenen sind, auf konzerte oder ähnliches. im ort gebe es außerdem musik-programm und manchmal kabarett, normalerweise zumindest, das würde ihnen reichen. außerdem bekämen sie hier fast täglich besuch aus der nachbarschaft, man wäre hier sofort integriert gewesen. zur bestätigung kommt kurze zeit später ihr nachbar vorbei, um frische eier abzuholen. natürlich hätten sie sich am anfang gedanken gemacht, sagt jan, so als homo-paar hier her und reden würden eh alle, aber das wäre nie ein größeres ding gewesen. als die leute gemerkt hätten, dass sie vegetarier sind, waren sie überraschter. und erst, wenn sie keinen schnaps trinken würden, meint jan, würde es problematisch.

als ich zurückfahre ist es abend, die luft nicht mehr ganz so feucht. mehr neue beobachtungen gibt die autofahrt für ein szenisches ende des textes nicht her. ich habe trotzdem gute laune, weil ich das gefühl habe, zwei menschen getroffen zu haben, die die frage nach dem „wie wir leben wollen“ für sich richtig beantwortet zu haben scheinen; die zufriedenheit ausstrahlen, ohne es darauf anzulegen. das finde ich selten.

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haarmonie

der mittwoch hängt verklärt im buschigen blattwerk der bäume. schon nach den allerersten sommerlichen tagen rauscht es ein bisschen müde vor sich hin. sein grün hat den saftigsten höhepunkt des jahres bereits jetzt, mitte mai, hinter sich gelassen.  die blätter hängen ob dieser feststellung ein wenig lethargisch in der luft und warten auf regen, der auch heute nicht kommen wird.

das diesige grundgefühl des morgens wird nur durch paar autos zerschnitten, die auf der hauptstraße (sie ist eine und heißt dann auch so) in einer scharfen kurve aus dem ort heraus oder in ihn hinein biegen. am äußersten punkt der kurve liegt hinter üblichem roten klinker der friseursalon haarmonie. es ist nicht nur das letzte und erste haus der straße, sondern des gesamten ortes. wäre der ort „ringenberg“ ein buch, dann wäre das rosa schild des haarstudios sein erster und sein letzter satz. vielleicht wäre es sogar ein ausrufezeichen.

ich bin ein bisschen aufgeregt. wahrscheinlich hatte für mich noch kein friseurbesuch jemals einen solchen eventcharakter. die ursachen dafür sind vielfältig: erstens ist der letzte termin aus offensichtlichem grund lange her. ich kann mich nur noch schemenhaft daran erinnern, wie man sich beim friseur verhält. zweitens – und daraus resultierend –  hat das geschehen auf meinem kopf zu diesem zeitpunkt ausmaße angenommen, die sich sehr treffend als „ausmaße“ und spätestens seit april nicht mehr als frisur beschreiben lassen. dazu kommt, dass es sich nicht um meinen szenigen friseur in der stadt handelt, sondern um einen dorffriseursalon, in dem ich noch nie war. es ist – ebenfalls aus offensichtlichem grund – das erste mal, dass ich neben kassierer*innen, der engeren nachbarschaft oder flüchtigen begegnungen auf abstand, mit menschen aus dem ort in kontakt trete. in der ereignisleere der letzten wochen; der unplanbaren wirklichkeit, erzeugt die vorstellung direkten körperkontakts und die einer intimen gesprächssituation im frisierspiegel spannungsgefühle in meiner magengegend. ich habe weder eine ahnung, was mich erwartet, noch, was meine haare erwartet. es ist – zugegeben etwas zugespitzt, aber auch ein bisschen wahr – der britney spears moment meines aufenthalts.

 

während der längsten haarwäsche meines lebens  werden diese gedanken angenehm egal. das formatradio, das dudelnd atomsphäre schafft, der chemisch-süßliche geruch des shampoos, die eierschalfarbenen haartrockner überhalb der frisiertische von einer firma namens „equator“ – alles vermischt sich in den kreisenden, shampoonierenden bewegungen zu einem einzigen wohltuenden erlebnis. so wie das interieur ein wenig aus der zeit gefallen ist, vergesse auch ich, rücklings im waschbecken hängend, welcher tag ist, oder wo ich mich befinde. ich vergesse sogar fast ein bisschen was ich hier überhaupt will. ich will wenn überhaupt, dann einfach weiter massiert werden. irgendwann sagt die friseurin „so“ und ich öffne die augen, mein blick gen equator.

 

auch das anschließende gespräch gestaltet sich angenehm. durch den zustand der welt im allgemeinen und den der friseursalons im speziellen ist für ausreichend inhalt gesorgt. außerdem lobt die friseurin mehrmals meine haare, das wiederum stimmt mich als durch und durch korrumpierbares wesen froh und ihr zugewandt. zwischen uns ergibt sich recht schnell eine stimmung, die man als nett und aufgeschlossen beschreiben könnte. was sie mit meinen haaren macht, lasse ich in britney-modus geschehen, hier noch ein bisschen? ja klar. ich sage zu keiner spülung nein und auch zu keiner pflege und am ende auch zu keinem öl. als sie mich fragt wie ich meine haare sonst trage, muss ich lange nachdenken. im spiegel sehe ich zwei rinder gras kauen. neben mir werden einer frau die haare rot gefärbt, sie leuchten wie klatschmohn.

als ich den friseursalon haarmonie wieder verlasse, fühle ich mich rundum gut und freue mich schon jetzt darauf, die nächste wiedereröffnete lokalität im ort zu besuchen. ob der schnitt etwas geworden ist, kann ich auch einige tage später nicht abschließend feststellen, weil meine haare auch dann immernoch mehr aus produkt als aus keratin bestehen und sich ihre form erst wieder in der sporadischen pflege meines silikonfreien bioshampoos ergeben muss. ich glaube, es ist okay. und selbst wenn nicht, es hätte sich gelohnt. draußen rauschen die bäume grün und unaufgeregt, ein auto biegt um die kurve. sonst passiert nichts.

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fkk saunaclub venus

um den unterschied zwischen stadt und land während einer pandemie festzustellen, braucht es auch die erfahrung aus der großstadt. deswegen entschließe ich mich dazu, ein paar tage nach köln zu fahren. auch nach zweieinhalb monaten zieht mich mit ausnahme der leute, meiner leute, die in ihr wohnen, insgesamt wenig dort hin.

am bahnhof meiner temporären land-idylle, der seiner beschreibung nicht ganz gerecht wird (er besteht aus einem einzelnen gleis, dessen konturen sich im hochgewachsenen gras verlieren) warte ich auf den zug und stoße auf der suche nach einem hotspot auf das offene W-LAN des benachbarten bordells: „FKK Saunaclub VENUS“. die verbindung ist sehr gut, es ist die beste internetverbindung, die ich bislang auf dem dorf hatte. der umstand stimmt mich auf unbestimmte weise froh. in der nachbarschaft des saunaclubs findet sich an einem gebäude in grauer holzverkleidung außerdem die werbung einer christlichen missionsgesellschaft. vielleicht ist es auch ihr sitz, das lässt sich schwer ausmachen. auf jesusfinden.de jedenfalls (die seite baut sich über das puff W-LAN sehr schnell auf) steht, dass jesus sich finden lässt, weil jesus keine idee, sondern eine reale person ist.

meine freude über den messianischen input während der wartezeit ist temporär, weil ich ein paar minuten später feststellen muss, dass der zug ausfällt. eine erklärung fehlt genauso wie eine durchsage oder andere menschen am gleis, mit denen man sich über die lage austauschen könnte. der nächste ABR kommt in einer stunde. ich (jetzt noch dankbarer über das puff W-LAN als sowieso schon), entschließe mich, der anbindung noch eine chance zu geben und die stunde zu warten. als ich am nächsten tag endlich im zug sitze, habe ich den ärger über den zweiten zug-ausfall längst vergessen. auch die tatsache, dass gestern überhaupt keine züge mehr fuhren, kommt mir weit weg vor. generell denke ich während der ca. anderthalb-stündigen fahrt, es wird mir ein bisschen schwummerig im heißen atem unter der baumwollmaske, dass ich trotz allem vermutlich weniger gestresst bin. früher hätte mir so ein zeitverlust, so ein einschnitt in meine pläne, mehr ausgemacht.

als sich der RE den ballungsräumen nrws nähert, erhöht sich mein stresslevel wieder leicht. mehr menschen mit mimikleeren, da maskenverdeckten gesichtern steigen zu, der abstand verringert sich. zugfahren, sowieso ein anonymer vorgang, ist jetzt noch distanzierter, noch mehr zusammen allein; es ist still im abteil, die atmosphäre beklemmend. als ich einen tag später als geplant köln erreiche, bin ich zunächst überrascht und ein bisschen entzückt von der hässlichkeit der stadt, die sich mir bei der einfahrt über mühlheim und hansaring vermittelt. ich hatte länger nicht an grauen, eckigen beton, an verbaute sicht gedacht.

was dann passiert überrascht mich noch mehr: obwohl es unangenehm klischeehaft klingt, muss ich mich nach zehn wochen außerhalb großstädtischer zusammenhänge tatsächlich eingewöhnen. zustände, die mir sonst gar nicht mehr auffielen, zeichnen sich im kontrast zur landruhe aggressiv in meine heruntergefahrene wahrnehmung: es sind mehr reize, die verarbeitet werden wollen, autos, radfahrer und menschen verhalten sich zur infrastruktur, alles scheint in doppelter geschwindigkeit zu passieren. außerdem ist es voll. die spielplätze, cafés, kneipen und restaurants haben seit montag wieder teilweise geöffnet. zwischendurch wirkt es so, als hätte ich den lockdown in der abstinenz des landlebens nur geträumt.

als ich nach vier tagen im zug zurück sitze, bin ich fast ein bisschen froh. wenn in der stadt etwas passiert, sie räume für austausch, diversität, frisch gezapftes bier und musik schafft, dann hat sie ihre berechtigung. und immer, auch jetzt, ist es schön, seine leute um sich zu wissen. gerade allerdings, in der gesteigerten anonymität, der „neuen normalität“, ist die großstadt noch anstrengender als sowieso schon. selbst das spazieren, das ziellose umherstreifen und beobachten als wahrscheinlich schönste beschäftigung der stadt, die sie dem land voraus hat, gleicht gerade einem mühseligen slalom aus steifen, alarmierten bewegungen.

ein mittelalter mann mir schräg gegenüber niest laut in seine armbeuge, ich rücke einen platz weiter von ihm und seinen aerosolen weg, will „gesundheit“ sagen, um nicht zu abweisend zu wirken. ich sage nichts.

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mittelerde

mit fortschreitender zeit wird immer klarer wie schwierig es ist, eine region zu erfassen; herauszufinden, was das dorfleben ist, wenn – wie überall – kein leben herrscht. mangels sozialer situationen also, die aufschluss über letzteres geben könnten –  schützenfest, kneipe, café oder friseurbesuch – konzentriere ich mich gezwungenermaßen weiterhin auf aspekte der landschaft, die, auch das muss ich feststellen, zwar immer grüner, bunter und aufgebauschter wird, darüber hinaus aber wenig angriffsfläche für neue, mehr oder weniger ausdrucksstarke adjektive bietet. den humor der niederrheiner*innen beispielsweise erahne ich nur durch spaßige beschilderungen, ich lese namen wie „königin susanne allee“, „queen angelika place“ oder „mittelerde“, es scheint hier ein ding zu sein. umso mehr freue ich mich über eine e-mail eines mannes aus der region hünxe, der mir in eben dieser eine reihe von dingen empfiehlt, die ich mir doch mal ansehen könnte:

. das Otto-Pankok-Museum in Drevenack,
. das Haus Schwarzenstein in Drevenack,
. die alte Dorfstraße in Krudenburg
. das Schloss Gartrop in Gartrop-Bühl
. die unendlichen Weiten des Hünxer Waldes
. die Teufelssteine im Hünxer Wald
. die alte Bergschule in Hünxe
. das Witte Hus und die Mühle in Bruckhausen

ein paar tage später lese ich in einer tageszeitung (der lokaljournalismus entpuppt sich wenig überraschend als entscheidende quelle, um sich regional zu informieren) von der niederrhein-wölfin „gloria“, die dort, in hünxe, am osterwochenende zusammen mit einem anderen wolf einen rothirschen angegriffen habe. die region erscheint mir jetzt noch attraktiver als sowieso schon, die unendlichen weiten des hünxer waldes, irgendwo in ihm gloria, es klingt gefährlich und märchenhaft, ich fahre also los.

die strecke umfasst 20 kilometer und ist so wie das wetter außergewöhnlich schön, trotzdem reicht mir das meditative pedaltrampeln und der blick in die sich ähnelnde landschaft nicht mehr; der weg ist nicht mehr vollständig zweckentkoppelt. es ist deshalb umso besser und irgendwie beruhigend, dass all die glatten, asphaltierten und beschilderten pfade zwischen feldern, weiden und koppeln nicht ins leere, sondern tatsächlich immer irgendwohin führen.

die alte bergschule in hünxe ist ein heimatmuseum, das ich eine zeitlang ohne nennenswerte empfindungen betrachte, es ist wie vieles in der region in dunkelrotem klinker gehalten. mehr über diese heimat verrät mir heute (sonntag) eine vergilbte reklame, die an einer straßenlaterne für einen second-hand mode markt am 19. januar in wesel geworben hat, „frauen-kram“ gab es da. ich fahre weiter, kaufe im eiscafé am marktplatz eine kugel nuss-eis, der eisverkäufer muss sie einpacken, täte ihm leid, es sei außerdem vorschrift sie in mindestens 50 meter entfernung vom laden essen. es schmeckt dem ersten eis des jahres entsprechend trotz allem sehr gut.

danach fahre ich nach krudenburg; am ortseingang befindet sich eine eselfarm, ich (esel sind mein sweetspot) bin also an dieser stelle schon überzeugt und voreingenommen. der ort an sich ist historisch und etwas, was man als touristische attraktion bezeichnen würde. selbst an einem coronoa -sonntag sind hier viele fahrradfahrer*innen, deutsche paare und familien in funktionskleidung, von denen wetterbedingt die langen ärmel oder beine gezippt wurden. sie fotographieren im akkord die mir empfohlene „alte dorfstraße“, die mit pflasterstein und ebenfalls dunkelrotem backstein punktet. das alles wirkt ein bisschen zu kulissenhaft, außerdem drängt sich die autobahn akustisch in die atmosphäre des anheimelnden ortes.

 

 

auf dem rückweg, der mich kurz durch ein waldstück führt, denke ich an gloria aber auch an die esel, das kalb, dessen ersten gehversuchen ich gestern beim joggen zuschauen konnte, die kühe und die zwei pandas in einem zoo in hongkong, die sich – von natur aus sexmuffel – endlich wieder paaren, seitdem es keine besucher*innen mehr gibt, an biber in berlin und daran, dass es schon eine pandemie auf dem land brauchte, damit ich mich ehrlich für das tun und lassen von tieren interessiere.

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verdrängung

während der isolation durchlebt man phasen, die an die sieben mentalen etappen eines marathons erinnern: das hoch, die verdrängung, der anflug von panik, die ernüchterung, das tief, die aufmunterung, der wandel. allerdings spulen sie sich im pandemie-fall schneller ab, als während eines ordnungsgemäßen langlaufs, der nach 42,159 kilometern zwangsläufig in einem fest abgesteckten ziel endet. durch die ungewissheit, die derzeit alles bestimmt, wiederholen sie sich, hintergehen die reihenfolge und wechseln sich tageweise ab.

nicht umsonst explodieren die online-tagebücher zu corona: zwar lassen die tagesabläufe von jedem und jeder – zumindest sofern er/sie im systemirrelevanten, existenzsichernden und kinderlosen homeoffice sitzt – so wenig abwechslung wie nie zu: restaurantbesuch, party oder urlaub, ereignisse also, die sonst zum ausstaffieren der illusion einer einzigartigkeit des westlichen alltags und seines individualistischen geschmacks beitragen; die freizeit, findet wenn überhaupt, dann auf dem display statt und für niemanden – zumindest ist mir das noch nicht passiert –  hinterlässt eine gestreamte lesung oder ein dj-set bei insta live bleibende erinnerungen. trotzdem schreiben die leute, lassen andere an ihren gefühlen teilhaben, die sich durch die wenigen einflüsse, den mangeln an zerstreuung und das immernoch surreal erscheinende weltgeschehen zu potenzieren scheinen.

auch meine woche verläuft in sich gekehrter. während ich arbeite, jogge, fahrradfahre, bin ich nach wie vor froh über diesen standort, die vielen tiere, die wenigen menschen, die sonnige weitläufigkeit, die subtile, aber eingängige ästhetik des dörflichen lebens. mangels tatsächlichen kontakts mit den menschen, die dieses leben führen,  spiegeln sich die sieben marathon-phasen für mich weiterhin hauptsächlich in den bildausschnitten bei zoom und skype. selten wurde auf die frage „wie geht’s dir?“ so wahrheitsgemäß geantwortet. die gespräche sind zwar immernoch corona-dominiert, mittlerweile kommt es aber vor, dass die monothematik bricht, man kann das c-wort nicht mehr hören. mit zwei freundinnen führe ich beispielsweise ein langes, anregendes gespräch über zervixschleim.

dass die situation an der substanz nagt, die leute langsam durchdrehen, zeigt sich im kleinen. bei dm stehe ich an der kasse, die kundin vor mir kauft unter anderem toilettenpapier. statt es routiniert über den scanner zu ziehen, hält die kassiererin plötzlich  inne, streicht verträumt, fast zärtlich über die packung, sagt „das haben sie wirklich schön gemacht. wirklich schön oder? und das muster“, sie sucht den blick der kundin, die ihrem ausweicht. ihr ist das ganze sichtlich unangenehm. unbeirrt davon wendet sich die kassiererin zur kassenschlange, „oder?“. „wirklich schön“, pflichtet eine ältere frau ihr bei, und als ich mich umdrehe, sehe ich hinter mir einen mann mit glatze, der intensiv nickt und dabei kurz die augen schließt, in dieser typischen, fachmännischen art.

erst als ich auf dem parkplatz stehe, wird mir die absurdität des eben erlebten bewusst. vielleicht war das die verdrängung.

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