Fünf: Die Chronik

Wieder klopft es, diesmal bin ich schnell genug, eine Meise, aufgeregt flattert sie um den Türknauf, pickt dumpf mit ihrem Schnabel gegen die Scheibe, sie setzt sich, fliegt wieder auf, als sie mich bemerkt, ist sie fort. Später sehe ich sie am Fenster, neugierig blickt sie hinein, was will sie nur? Sobald ich mich nähere, flieht sie, ich trete hinaus, sehe ihr nach, von irgendwo tschilpt es, aus sicherer Entfernung.

Ich mache Fortschritte, habe die Eieruhr entdeckt, die im Bad über der Steckdose sitzt. Wenn ich sie aufziehe, gibt die Steckdose Strom, mit einem hohlen Klick springt die Elektroheizung an, Wärme für zehn tickende Minuten. Später gehe ich hinaus, laufe an der Brucht entlang in Richtung Brakel, dann rechts den Berg hinauf und zurück ins Dorf. Im Frischehandel Schäfer kaufe ich Brot und Käse, ein wenig Obst, Nudeln, eine Fertigsoße. Die Registrierkasse ist alt und mechanisch, fast traue ich mich nicht zu fragen, ob ich mit Karte zahlen kann. Na klar, sagt Frau Schäfer, reicht mir das EC-Terminal über die Theke.

Dann sitze ich wieder an der Chronik, blättere durch die Jahrhunderte. Krus fängt von vorne an, ganz von vorne, im siebten oder achten Jahrhundert, in dem das Dorf gegründet wurde, vermutlich von einem Mann namens Balder oder Baldhari. Der Winter 1072/73 ist mild, vier Jahre später fällt er dagegen streng aus. 1181 tragen die Bäume schon im Februar Früchte, einige Jahre darauf liegt bis Pfingsten Schnee. Der Kirchenzehnt geht an Kloster Corvey.

Der Tag, an dem die Haxthausens ins Spiel kommen, ist der 13. März 1465. Krus zitiert aus der Urkunde: „Wir Simon von Gottes Gnaden Bischof von Paderborn […] haben belehnet und belehnen in diesem Brieff unsern lieben getrewen Godtschalk von Haxthausen undt seine Erben mit der Apenborgh und mit allen ihren Zubehoerungen […]“. Das Gut Abbenburg liegt an der Landstraße nach Bellersen, die Haxthausens residieren dort noch heute. 1479 expandieren sie, erhalten weitere Lehen, diesmal aus Corvey, darunter Bökendorf, wo der Bökerhof liegt, das Anwesen also, in dem später Annette von Droste-Hülshoffs Großeltern wohnen, wo die Gebrüder Grimm ein und ausgehen, Brentano, aber auch der Jurastudent Heinrich Straube, ein Bürgerlicher, der die adlige Dichterin umwirbt, kurz darauf stößt August von Arnswaldt hinzu, auch er macht ihr den Hof, aber es ist eine Intrige, in die ihre Verwandtschaft verstrickt ist, sie wird bloßgestellt, reist ab, erschüttert. Fortan meidet sie den Bökerhof, überhaupt die Haxthausens, erst siebzehn Jahre später traut sie sich zurück, zieht es aber vor, in der Abbenburg zu nächtigen, der Bökerhof bleibt ihr suspekt. Bei Krus kein Wort zu Droste-Hülshoffs Jugendkatastrophe, für das Jahr 1820, in dem sich diese zugetragen hat, nur zwei Einträge. Bellersen und Bökendorf errichten gemeinsam ein Pfarrhaus. Ludwig Emil Grimm malt eine Karikatur. Eine Kaffeerunde beim Bellerser Pastor.

Ich blättere zurück, bleibe an der Paderborner Reformation hängen. Bischof Hermann ist von Luther offenbar sehr beeindruckt, 1545 will er die katholischen Zeremonien abschaffen, kurz darauf gibt er sein Amt auf. Sein Nachfolger ist erst 1578 gefunden, er ist verheiratet, will das Hochstift in ein weltliches Fürstentum überführen, aber er stirbt, bevor er das verwirklichen kann. Dann kommt Bischof Dietrich von Fürstenberg an die Macht, ein strammer Gegenreformator. „Das ist die grobe Skizze der Entwicklung, die auch in Bellersen ihren Neiederschlag findet“, kommentiert Krus. Man merkt, er hätte hier gerne ausführlicher berichtet.

Dann Konflikte zwischen Dorf und Adel, 1644 beschwert sich der Pastor, die Haxthausens hätten dem Gesinde ketzerische Schriften vorgelesen. Ich rätsele über diesem Eintrag, kein Hinweis, welcher Art diese Schriften gewesen sein könnten. Kurz darauf gibt es Streit um Holz, die Bellerser klagen vor dem Reichskammergericht, sie haben ohne Genehmigung im Wald geschlagen, der Förster hat alles beschlagnahmt, was die Bellerser nicht akzeptieren, störrisch haben sie es dem Förster wieder abgenommen, sie wollen es als Baumaterial für das Haus des Küsters nutzen. Daraufhin fordern die Haxthausens 20 Taler von ihren Untertanen, die ihrerseits Klage gegen ihre Herren erheben, zuerst in Paderborn, dann in Speyer. Irgendwann geht es um einen Graben auf dem Schmandberg und um die Frage, ob der Graben das Waldstück markiert, in dem die Bellerser schlagen dürfen oder nicht, auch das Mastgeld ist von Bedeutung, das bezahlt werden muss, um Schweine darin zu treiben, ich komme nicht ganz mit.

1780 stirbt Pastor Böger. Krus notiert akribisch seinen Hausstand: „Im Pastorat werden vorgefunden: In der Stube eine Bettlade mit Gardinen mit einem Unterbett, zwei Kissen und zwei Pfühlen (Daunenbetten); ein Tisch; sechs neuwertige Stühle; drei alte Stühle; zwei kleine Tische; zwei Fensterläden, neun einfache Bilder; eine Flinte; sechs Karthienne“, hier macht Krus ein Fragezeichen, offenbar weiß er auch nicht, was das sein soll, ich google, finde vier Einträge, alle auf portugiesisch, außerdem Bilder, einmal eine freundliche Ärztin, die auf die stilisierte Darstellung einer Gebärmutter deutet, außerdem eine Frau mit Lupe vor dem Gesicht.

Ich lese und lese, 1788 schreibt Winkelhan, der mutmaßliche Mörder des Soistmann Berend, einen Brief aus Algier an den Fürstbischof in Paderborn, er bettelt, man möge ihn aus der Sklaverei freikaufen. Vergeblich, sein Gesuch wird zu den Akten gelegt, solche Bittschriften, notiert Krus trocken, gehörten zum Geschäftsmodell des damaligen Sklavenhandels.

Ich überblättere strenge Winter, Namensregister, statistische Erhebungen, auch einen Jungen, der tödlich vom Huf seines Pferdes getroffen wurde. 1936 halten Bellerser Schweine den Wagen von Adolf Hitler auf, der Hirt vertreibt die Tiere von der Fahrbahn, Hitler steigt aus, bedankt sich mit Handschlag. Am Ende bleibe ich bei einem Eintrag von 1956 hängen, ein Lehrer schickt seinen Schüler Terpentin holen, übergießt damit den Nachbarshund, ein Freund des Lehrers steckt ihn in Brand. Die Putzfrau hört das Jaulen und Winseln, findet und löscht das brennende Tier mit einem Eimer Wasser, es ist schwer verletzt, der Metzger tötet es mit einem Bolzenschuss. Vor Gericht behauptet der Lehrer, er habe dem Hund nur eine Lehre erteilen wollen, um ihn von seiner Hündin fernzuhalten. Der Freund gibt an, er habe das Tier keinesfalls anzünden, ihn mit der brennenden Lunte lediglich vertreiben wollen. Sechs Wochen Gefängnis ohne Bewährung. Sie gehen in Revision. Es bleibt bei vier.

Es wird spät, aber ich lese weiter, es geht um die Bundestagswahlen, um den Stand der örtlichen Viehhaltung, aber auch um Schützenfeste und den steigenden Wasserverbrauch, irgendwann schrecke ich auf, das Licht brennt noch, draußen dämmert es wieder, ich liege halb auf der Chronik, aufgeschlagen, ein bisschen ver­knickt. Herbst 1990. Die Kläranlage bekommt einen zweiten Block, außerdem einen Schönungsteich.

Schönungsteich, denke ich, als ich Zähne putze. Schönungsteich, als ich Kaffee koche. Ich gehe vor die Tür, laufe in die Bruchtauen, passiere die Anlage, den Tümpel, in der eine Ente sitzt. Schönungsteich, denke ich.

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Vier: Der Archivar

Frederik reicht mir ein schweres Buch über den Tisch, der Umschlag waldgrün. Kleine Chronik des Dorfes Bellersen. Der Autor ist ein Horst-D. Krus. Schenk ich dir, sagt Frederik. Oh, wow, sage ich. Das Kind steht im Flur, lugt schüchtern in die Küche, versteckt sich dabei halb hinter der Mutter, ich sage hallo. Das Kind heißt Antonia, die Mutter Andrea, beide sind kränklich und heute zu Hause geblieben, erzählen sie. Antonia quengelt etwas, aber als ich mit Frederik aus der Haustür trete, läuft sie uns neugierig hinterher, ich winke, sie winkt, dann wird es ihr unheimlich, sie rennt zurück in die Küche. Was denn?, höre ich Andrea von dort. Was ist denn?

Draußen erzählt Frederik von Horst Krus, dem ehemaligen Kreisarchivar, kürzlich verstorben, ein herber Verlust für das Dorf und die ganze Region. Er führt mich durch das Werkhaus, dem Vereinssitz, zeigt mir eine Ausstellung, die Krus noch selbst kuratiert hat. Es geht um einen Mordfall, um Hermann Georg Winkelhan, der den jüdischen Händler Soistmann Berend hinterlistig ermorderte und dann floh. Um die von Haxthausens, das örtliche Adelsgeschlecht, das damals über Bellersen herrschte, und um die Tochter einer geborenen von Haxthausen, Annette von Droste-Hülshoff, die aus Winkelhan den Protagonisten ihrer Novelle „Die Judenbuche“ machte, Friedrich Mergel, das Opfer hieß dort schlicht: Aaron. Würde man heute alles anders machen, sagt Frederik, deutet auf die Exponate, aber trotzdem, damals haben wir einen Preis bekommen. Aha?, mache ich und fotografiere die Schautafeln, damit ich sie später in Ruhe lesen kann. Krus sei ein Getriebener gewesen, habe einen unendlichen Forscherdrang gehabt. Zuletzt habe er sich Arabisch beibringen wollen. Ich blicke auf. Aha?, mache ich wieder. Die deutschen Archive seien so schlecht, habe er immer gesagt. Er habe in Algier recherchieren wollen, wo Winkelhan in Gefangenschaft und Sklaverei geraten sei, bevor Napoleon ihn freikaufen ließ. Aha, mache ich. Und dann, zack bumm, sei er tot umgefallen, einfach so. Das habe keiner erwartet. Frederik schüttelt den Kopf. Schlimm sei das für das Dorf. Für den Verein. Schweigend gehen wir durch die Ausstellung, ich trete so weit von den Sperrholzwänden, wie möglich, um alles ins Objektiv zu bekommen. Er könne mir sein Haus zeigen, sagt Frederik irgendwann. Wessen Haus?, frage ich.

Warte hier, murmelt er, geht über die Straße, ich bleibe stehen, sehe an der Fassade hinauf, roter Klinker, Efeu und wilder Wein, nebenan ein schief stehender Verschlag mit Feuerholz, das feucht aussieht, der Garten ein Urwald, Gestrüpp und Sträucher mit verholzenden Stämmen. Der Aufgang zur Tür ist überdacht, eine Sitzbank mit Aschenbecher, der angefüllt ist mit verblichenen Zigarettenfiltern. Dann steht Frederik hinter mir, ein klingender Schlüsselbund in seiner Hand.

Innen riecht es, modrig und schwer. Moment, sagt Frederik, geht hinein, ein blechernes Geräusch, dann das Klicken eines Schalters, endlich Licht. Staub liegt auf dem Boden, vor einer alt gewordenen Tapete hängen Bilderrahmen, ein Glückwunschschreiben adressiert an den Kreisarchivar a.D., eine Urkunde, daneben das Bellerser Wappen als Schnitzarbeit aus dunklem Holz. Links geht ein Raum ab, Bücher bis unter die Decke, in den Regalen, vor den Regalen, in der Mitte des Raumes stehen Regale gestapelt. Er hat alles gesammelt, sagt Frederik, alles, was mit der Region zu tun hat, oder mit Irland, Irland war ein Hobby. Mhm, murmle ich, während ich die Buchrücken abgehe, sein Ablagesystem zu verstehen versuche. Die Säugetiere Westfalens. Die Amphibien und Reptilien Westfalens. Die Avifauna von Westfalen. Darunter: Die Geschichte des Corveyer Waldes. Verbreitungsatlas der Farn- und Blütenpflanzen Nordrhein-Westfalens. Historische Landkarten Europa. Dann eine Illustrierte Geschichte der Medizin in sechs Bänden. Ein biographisches Lexikon in zehn Bänden. Ein Nachschlagewerk zum Deutschen Aberglauben in zehn Bänden. Neben der Tür ein beinahe mannshoher Stapel von Jahrgangsbänden der Westfälischen Forschung, außerdem vierunddreißig Bände Grimm-Gesamtausgabe. Abwesend streife ich durch die Räume, lege den Kopf nach links, nach rechts, nach links. Burgenkunde. Europas Wehrbau. Die deutsche Stadt im Mittelalter. Jüdische Literatur in Westfalen. Historische Orgeln. Barock in Westfalen. Wie viel Geld hier drin steckt, sagt Frederik, sieht sich um. Er muss jeden Cent in Bücher investiert haben. Ja, sage ich, kniend, um mir die Bände in den unteren Fächern anzusehen. Lexikon für Theologie und Kirche. Dörfliche Gesellschaft und Kriminalität. Lexikon der Philatelie.

Wir haben schon etwas aufgeräumt, aber du siehst ja selbst, er zeigt auf einen schiefen Stapel Unterlagen, Broschüren und Ordner. Plötzlich ein Menschenschädel, grinsend starrt er zwischen Buchrücken hervor. Hm, ja, macht Frederik. Horst Krus war der Meinung, jeder große Denker müsse einen Schädel besitzen. Frederik zuckt mit den Schultern. Mir fällt ein: Goethe hat sich Schillers Schädel auf einem blauen Samtkissen bringen lassen. Er soll einen geblümten Gehrock getragen haben, während er in Schillers Mundhöhle umherfingerte.

Oben geht es weiter, mehrere Regalmeter voll nummerierter Aktenordner. Das ist die Chronik, sagt Frederik, zieht einen heraus und schlägt ihn auf. Ausgeschnittene Zeitungsartikel auf Kopierpapier geklebt, handschriftlich daneben Datum und Quellenangabe, manchmal zusätzlich mit Schlagworten versehen, dann in Klarsichthülle abgeheftet. Was für eine Fleißarbeit. Er hat alles archiviert, dokumentiert und abgelegt, alles, erzählt Frederik, während er den Ordner zurück ins Regal schiebt. Und das da ist das Fotoarchiv, ich drehe mich um, bemerke jetzt erst die Stapel von grauen und schwarzen Dia-Behältern. Bei jedem Dorffest, bei jedem runden Geburtstag ist er vorbeigekommen, hat fotografiert, das ist alles hier abgelegt, sagt er. Langsam wird mir klar, was hier lagert, zwischen staubigen Teppichen, vergilbten Tapeten, es ist das kollektive Gedächtnis eines Dorfes. Wahnsinn, sage ich. Wahnsinn, mehr bringe ich nicht heraus.

Frederik erzählt von Anträgen, die sie gestellt hätten, von einem riesigen Projekt. Sie wollten die Bibliothek unbedingt erhalten, das Archiv, und die Dias müssten digitalisiert werden. Unten solle ein Begegnungsraum für das Dorf entstehen, oben vielleicht ein Atelier für Kunstschaffende, Schreibende, wer auch immer sich mit Bellersen beschäftigen wolle, mit seiner Geschichte, mit der Region.

Am Ende des Ganges ein dunkles Zimmer, schemenhaft erkenne ich ein breites Doppelbett, darüber einen Bilderrahmen, verstreut stehende Möbelstücke. Ah, mache ich, das ist das Schlafzimmer gewesen? Nein, Frederik schüttelt den Kopf. Das war das Schlafzimmer seiner Eltern. Es wirkt unverändert, wie die Eltern es zurückgelassen haben. Echt? Frederik nickt. Das hat er also auch archiviert, murmle ich. Wir schweigen. Hm, ja, macht Frederik dann. Draußen dämmert es.

Ich gehe über die Straße, sehe mir von dort das Haus an, für einen Moment wirkt es beinahe belebt, bewohnt, aber innen läuft Frederik durch die Räume, ich höre seine Schritte, nach und nach erstirbt das Licht in den Fenstern, bis alles dunkel ist, verlassen liegt es da. Die Haustür scheppert hohl im Rahmen, dann kommt Frederik die Treppe herunter. Der Garten, sagt er, zeigt mit dem Daumen über die Schulter, wie er die Fahrbahn quert, ist eigentlich auch eine Sammlung. Er hat sich für Botanik interessiert, alle möglichen seltenen Pflanzen hat er da draußen gehabt, konnte dir genau sagen, was das eine ist und was das andere. Aber jetzt, Frederik guckt zurück, jetzt ist es ein Dschungel.

Mit der Chronik unterm Arm laufe ich durchs Dorf, die Laternen springen an. Als ich die Tür aufschließe, brüllen die Rinder von der Weide.

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