Once Upon a Hill

Ort: Stromberg | Datum: 15.08.2017 | Wetter: bewölkt, Regen, 26°C

Wind weht um den Stromberger Berg. Und trägt Düfte heran. Alte Obstbäume. Pflaume, Apfel. Spärlicher die Holunderbeeren. Kürzlich gemähtes Gras. Und etwas Malziges. Maische aus der naheliegenden Brennerei oder Brauerei? Silage? Leberwurstbrote? Leberwurstbrote in Tupperware. Apfelstücke. Trinkpäckchen. Den Strohhalm aus der Hülle friemeln. An einer Stelle ist die durchsichtige Hülle an den weißen Halm geschmolzen. Knibbeln mit dem Fingernagel. Durch die Silberfolie pieksen. NICHT RENNEN BEIM TRINKEN!

„Erwachsene erinnern sich nicht daran, wie es war, ein Kind zu sein.

Auch wenn sie es behaupten.

Sie wissen es nicht mehr. Glaub mir.“

Burg im Rücken, der Blick vom Stromberger Berg: überwiegend Äcker, Weiden und Dörfer OWLs. Wenn man sich auf die Zehenspitzen stellt, den Hals lang macht und an den Brombeerranken und Büschen vorbeischielt, kann man einen Blick in Richtung meiner Heimatstadt werfen. Und meiner Grundschule. Die App sagt, sie liegt etwa 20 Minuten entfernt.

Gepicknickt wurde auf der Wiese an der alten Kastanie. Es brauchte etwa die Hälfte meiner Klasse, um sie mit weit ausgestreckten Armen und Gesicht in der Borke zu umschließen. Der Stamm schon damals zu Teilen ausgehöhlt. Den Kopf weit in den Nacken gelegt, um nach den Früchten in der Krone zu sehen. Heute springt der Blick. Zoomt. Stellt scharf. Der Hügel, ja. Aber sie ist nicht mehr da. Etwa 130 Jahre ist sie alt geworden. Ich komme ein Jahr zu spät, erfahre ich am Abend.

„Manchmal reden die Erwachsenen davon, wie schön es war, ein Kind zu sein. Sie träumen sogar davon, wieder eins zu sein.“

Ich steige die verschiedenhohen und -breiten Stufen des Stromberger Bergs herunter. Das Gassbachtal. Stöcke von der Brücke werfen. Schiffchen fahren. Bis sie am nächsten Kiesel hängen bleiben. Oder – Attacke! – kentern. Und der Spielplatz mit der längsten Rutsche überhaupt. Noch immer rutschen die Turnschuhe auf nassen Halmen beim steilen Aufstieg. Ob mir beim Erklimmen die Puste ausgegangen ist? Heute kann ich den Gegner zumindest benennen: Beckumer Berge.

Musik fließt mir die Stufen herab durch den Wald entgegen. Ein erster Vorgeschmack auf den Abend. Das Herzstück eines jeden Stromberg-Ausflugs: das Kinderstück der Freilichtbühne. Damals waren es Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer. Eine Insel mit zwei Bergen und dem tiefen blauen Meer. Auch heute Abend alte Bekannte. Und ein weit entfernter Ort. Eine geheimnisvolle Insel. Und wieder: Meer.

Bunte Gestalten bevölkern bereits jetzt den Vorplatz. Ein Weihnachtsmann, ein Mädchen mit Huhn, zwei Statuen. Dazwischen Kinder in Regencapes mit Stift und Zettel. Die Figuren führen bereits ein in die Welt der Kinder- und Jugendbuchautorin Cornelia Funke. Ein Kinder-Funke-Fest. Ein paar glaube ich bereits in den Kostümen des heutigen Abends zu sehen. Die beiden Statuen zum Beispiel. Die Meerjungfrau. Die Nonne. Und die beiden alten Damen in schwarzen Kleidern.

„Aber wovon haben sie geträumt, als sie Kinder waren?

Weißt du es?

Ich glaube, sie träumten davon, endlich erwachsen zu sein.“

Der Herr der Diebe. Ein Kinderstück? Eher ein Familienstück. Wie auch die ihm zugrundeliegende Geschichte. Die Geschichte der Waisen Prosper und Bo, die es in die Stadt aus den Erzählungen ihrer Mutter verschlägt. Die magische Stadt. Die Stadt des Mondes. Venedig. Auf den Stufen vor der Heilig-Kreuz-Kirche. Den Burgplatz zu fluten habe man dann doch nicht in Angriff genommen. Auch wenn sich das Wetter kurz vor Beginn der Abendvorstellung nochmal alle Mühe gibt. Aber: Taubenschwarm, Touristen, Löwen und geschwungene Brücke. Und Musik.

Zu Melodiefragmenten aus der Unendlichen Geschichte und dem Herrn der Ringe entrollt sich das Abenteuer der beiden Brüder, die bei einer venezianischen Kinderbande Unterschlupf finden. Einer Bande um den Herrn der Diebe, hier die jüngste Meisterdiebin aller Zeiten. Die erwachsen sein will. Weil dann niemand mehr Vorschriften machen kann. Ihnen auf den Fersen der Detektiv Victor. Und über allem: eine Erzählung. Und Magie. Die schließlich auch am Rad der Zeit drehen kann.

„Was tun Erwachsene so den ganzen Tag, Victor?“, fragte er.

„Arbeiten“, antwortete Victor. „Essen, einkaufen, Rechnungen bezahlen, telefonieren, Zeitung lesen, Kaffee trinken, schlafen gehen.“

Ich habe den Bulli an der Grundschule am Hang geparkt. Es sind Sommerferien, die Parkplätze leer. Mittlerweile ist es dunkel. Asphalt und Blätter noch nass vom Regen. Erstes zögerliches Gezirpe. Vom Stromberger Berg schaue ich in die Ferne. Oben Wetterleuchten und Windradblinken. Unten wabernde Lichter. Die Musik noch im Ohr, die Geschichte im Kopf. Der Schemen einer Kirchturmspitze zwischen den Lichtpunkten. Vielleicht der Campanile di San Marco.


Venedig im Münsterland, könnte man das Programm der Burgbühne Stromberg diesen Sommer überschreiben. Der Herr der Diebe, für die Bühne bearbeitet von Wolfgang Adenberg, stand zuerst fest. Mit dem Wunsch, beide Stücke mögen am selben Ort spielen, wurde dann das Erwachsenenstück ausgesucht: Der Impresario aus Smyrna (Carlo Goldoni). Noch bis Anfang September erweckt das ca. 100-köpfige Ensemble auf und hinter der Bühne die Lagunenstadt unter der Regie von Hendrik Becker zum Leben. Dafür lohnt sich das Erklimmen des Burgbergs!

Die Zitate sind Cornelia Funkes Herr der Diebe (2000) entnommen.

Mehr von Claudia Ehlert

City upon the hill – Philosophenbänkchen (Schmallenberg Teil 2)

Das mit Schmallenberg als der größten Stadt NRWs (siehe Blogeintrag von Gestern) wird natürlich ironisch erzählt. Ironie schmückt das lässige Selbstbewusstsein der Leute hier im Sauerland. Denn wohl kein „Buiterling“ wie ich und auch kein Ur-Sauerländer würde Schmallenberg ein „urbanes Zentrum“ nennen. Eher ein Suburbia ohne Urbia, eine ewige Vorstadt ohne Bezug zu einem Zentrum. Stadt im engen Sinn? Braucht hier keiner, hat kaum einer Sehnsucht nach. Außer mir, der schon immer von einer Großstadt mitten in der Natur, mit Bergen und Meer in Nähe träumt. Gefunden hab ich sie bisher nur in Vancouver und Seattle. Zu weit von hier. Im Sauerland fehlt das Meer – aber das Leben ist voller Kompromisse. Na gut, die Stadt müssten sie auch erst noch bauen.

Schmallenberg mit seinen 82 eingemeindeten Orten hat rund 25.000 Einwohner (Kernstadt Schmallenberg knapp 6.000, und damit knapp über der Definitionsgrenze „Kleinstadt“). Sie ist größer als die Örtchen drumherum, sieht beim Reinfahren auch aus wie eine Stadt – Kreisverkehre mit Kunst drauf, Discounter-Märkte und Möbelhäuser und Werkshallen am Stadtrand, Ampeln.
Aber sie fühlt sich nicht nach Stadt an, wenn man aussteigt. Das Städtchen (passender? Ich bin sprachlich noch auf der Suche) ist im preußischen Klassizismus mit Fachwerk vor rund 200 Jahren nach einem Brand wiederaufgebaut worden. Es gibt viele kleine Läden, einen Uhrmacher, einen Optiker, einige Restaurants (toll: der „hauseingelegte Sauerbraten“ bei Stoffels!), dazu Hotels, Bäckereien, eine Buchhandlung und nur wenige der öden und üblichen Ketten von Kik bis Tedi. Schmallenberg ist old-school: Inhabergeführter Einzelhandel, viel Mittelstand (Falke Gruppe), einen schönen Platz mit Cafés drumrum. Sie verstrahlt wegen der nur schlendernd sich fortbewegenden Touristen eine fast karibische (ja!) Langsamkeit. Dazu breite Straßen (na gut, zwei breite Straßen, als Brandschutz), sogar ein Theater, das mal Kino war und nun irgendwie beides ist.

Ich als geborenes Großstadtkind mit einem Hang zu riesigen, räudigen Städten, zu unüberschaubaren, überbevölkerten, dauerbewegten, brodelnden, kreischenden und anstrengenden Orten wie Kairo, Neapel oder New York in den 80er Jahren dachte, obwohl ich ja in Dortmund wohne, das manche zurecht das größte Dorf im Sauerland nennen, ich dachte: Ist toll hier. Aber Stadt ist es nicht. Vor allem wegen der Bänkchen. Denn die Sitzbänkchen, die in Schmallenberg auf den Treppenabsätzen sehr vieler Häuser stehen oder fest am Geländer angebracht sind, sie sind nach einem Tag Schlendern, Essen und Trinken mein Beleg, dass der Ort nicht Stadt ist, es auch nicht sein will und nicht zu sein braucht. Diese kleinen, meist metallenen Bänkchen bieten maximal zwei Leuten Platz, sind direkt am Geländer oben nach zwei oder drei Stufen am Treppenabsatz der alten Häuser angebracht. Sie sind die Straßen hinunter blickend ausgerichtet und wirken immer einladend, gehören zum Haus.

Als ich das erste Bänkchen sah und im weitern  Verlauf der Ortsbegehung erkannte, dass viele Häuser solche Ausblicke haben, war ich sofort ergriffen. Ich stellte mir vor, dass die Bewohner Schmallenbergs an guten Tagen und an fast allen Abenden da sitzen, mit anderen karibisch Daherschlendernden quatschen, rauchen, Kaffee, Aperol oder Selbstgebrautes trinken und übers Leben sinnen. Wie in einer utopischen Philosophenstadt der Antike, da oben auf einem Hügel, nur ohne Tempel und Säulen und Sklaven, dafür mit Schieferfassade, Fachwerk, groben Schuhen und wetterfester Kleidung.

Diese Bänkchen vor der Tür machen den Unterschied zum Guten! Weg von dem, was ganz diffus und undefiniert für mich „Stadt“ ist: Nämlich ein manchmal fieser Ort. Wer solche Bänkchen baut, ist nicht fies. Ja, Stadt braucht dunkle und schlecht beleumundete Ecken. Wer solche Bänkchen vor der Tür hat, kennt die nicht.  Städte fördern Anonymität und Unsichtbarkeit. Wer auf solchen Bänkchen sitzt, möchte das nicht. Wer solche Bänkchen baut, schätzt einen klaren und sichtbaren und zugewandten Lebensstil, der mir plötzlich sehr attraktiv vorkommt.

So setzte ich mich nieder, frage mich, ob die Schmallenberger eher Stoiker oder Sokratiker wären auf ihren Philosophenbänkchen. Gefühle kontrollieren und im richtigen Moment zulassen und ansonsten egal, was dir passiert, du bist immer noch glücklich? Oder pocht bei ihnen wie bei Sokrates ein stetiges, bohrendes Bemühen, den Dingen auf den Grund zu gehen?
So oder so, ich stelle mir die Schmallenberger da sitzend jedenfalls als glückliche Menschen vor. Menschen, die in sich selbst genug Stadt finden und sich deshalb nicht den Kopf zerbrechen müssen, ob sie in einer leben.

#stadtlandtext

Fotos: Textfotos: Caravante, Titelfoto: cc Lizenz flickr Michael Krämer

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