04:27 Uhr, Großmarkt Dortmund

Nachts sind alle Städte schön. Nur nachts möchte ich sein, durch Straßen streifen, Fahrtwind spüren und keinen Gegenverkehr. Kälte in Zuneigung verwandeln und in ein Ich, das schaut, sammelt und sich lässt. Alles mit sich machen lässt – und die Welt annimmt, wie sie ist.

Auf dem Großmarkt in Dortmund muss man die Welt annehmen, wie sie ist. Diese Welt aus Fischen und Früchten, aus Hubwagen und Kisten. Aus Männern hinter Pulten und Männern unterm Scheffel. Stilisierte Frauen werben still für Äpfel, Physalis und Bananen. Das Eigentliche findet in den Hinterzimmern statt. Geschäftiges Misstrauen in den Blicken, wer sind die, was wollen die, Großkunden sehen anders aus. Anekdoten über Händler, die sich mit Kunden streiten. Ich habe dich beim Nachbarn gesehen, zu mir musst du nicht mehr kommen. Streng reglementierte Besitzverhältnisse und ein Verständnis von Jovialität, das dem Jetzt nicht mehr entspricht. Jede Halle ist einem eigenen Regiment unterworfen, das Obst ist träge. Es wird in Kulturen unterschieden, gedacht und gehandelt – eine vertane Chance; auch Suppe ist eine Option, um fünf Uhr morgens. Gegen die Entwicklungen in der Branche fühlt sich niemand mehr gewappnet. Allein sitzt der Mann in seinem Häuschen im Containerverschlag, der für die Wertstoff-Sortieranlage genutzt wird. Er sitzt schon lange da, und wird es noch eine Weile tun. Hinter den Hallen erinnern Gleise an einst genutzte Transportwege. Verkehrsschilder hängen schief. Und dann ist da der Wendekreis.

Am Wendekreis endet die Welt, und sie beginnt. Jemand hat sein Fahrrad dort abgestellt, ein anderer Paletten. Danach geht es zurück, immer wieder. Der Gedanke daran ist das schönste Bild. 04:58 Uhr



>Großmarkt Dortmund<

Pförtnerhäuschen mit Atmosphäre. Die Anlage wurde 1951/52 gebaut. ©mhu
Pförtnerhäuschen mit Atmosphäre. Die Anlage wurde 1951/52 gebaut. ©mhu
Vielleicht muss man bald von einem Relikt sprechen, denn die (inter-)nationalen Marktstrukturen sprechen mittlerweile eine andere Sprache: Wie ein Großmarkt im wörtlichen Sinn fühlt sich der Großmarkt Dortmund nicht mehr an. In eine andere Welt taucht man trotzdem ein.
So, wie der Großmarkt heute ist, gibt es ihn seit 1951/1952 auf dem Bundesgelände am Bahnhof Dortmund Süd. 1976 gründete sich die Großmarkt Dortmund Genossenschaft, seither betreiben ansässige Unternehmen den Markt selbstständig. Der Dortmunder Großmarkt ist einer der zehn größten Märkte in Deutschland (es gibt insgesamt 25), aktuell sind 23 Händler dort tätig. Bei dem Großmarkt handelt es sich um einen Frischemarkt. Es werden Obst und Gemüse, Frischfisch, Fischwaren, verpackte Lebensmittel, Frischfleisch, Kartoffeln und Zwiebeln verkauft. Daneben gibt es eine Bananen-Reiferei, Kühlhäuser und Lager. Der Großmarkt versorgt nach eigenen Angaben in einem Radius von 200 Kilometer etwa 3 Millionen Einwohner.

 

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Wie Kiezgrößen entstehen – Eine Gebrauchsanweisung

Nimm ein Viertel, nicht groß. Ein Viertel kann schon eine Straße sein. Das ist legitim, ist mir mehrfach untergekommen. Wer das Ziel hat, schnell Bekanntheit zu erlangen, der suche sich am besten ein Ein-Straßen-Viertel. In der Straße sollte man aber nicht wohnen. Man hat ja nicht immer Muße, erkannt zu werden. Eine Wohnung in einer Nebenstraße ist oft günstiger und verstärkt das Mysterium um einen selbst (wo wohnt er/sie bloß?) und damit – natürlich – den Bekanntheitsgrad.

Wichtig ist es, so schnell wie möglich andere Kiezgrößen ausfindig zu machen. Den Kontakt sollte man nicht scheuen, es geht um alles. Und dann geht es auch erst mal so: Andocken, integrieren, absorbieren lassen. Dabei sein, also oft. Sich aber auch rar machen. Nicht zu oft, aber oft. Empfehlenswert ist es, sich in zeitlichen Schüben zu zeigen: Mal eine Woche täglich, dann wieder Tage nicht mehr. Zu Veranstaltungen oder Kneipeneinladungen erst auftauchen, wenn die anderen bereits angeheitert, aber noch nicht allzu betrunken sind. So entstehen Freundschaften, das hat etwas mit Spatien zu tun. Das ist lateinisch und bedeutet Zwischenräume. Kommt nicht von mir, hab ich mir von einem Freund geliehen. Was den Sympathiewert erhöht: Wortschatz des anderen annehmen. Aber: nicht alles. Gerne auch mal ironisch brechen, aber nicht übertreiben. Gleiches gilt für das Angehen gemeinsamer Projekte: Entgegenkommen, zum Teil. Dann klar formulieren, was man will. Dann machen.

Für den Nervenkitzel und vor allem für den eigenen Spaß: Improvisationsmomente zulassen. Nicht alles durchdenken, nicht alles verplanen. Dinge passieren lassen. Vom Hörensagen leben, das kommt dann schon.

Die anderen Kiezgrößen nicht verdrängen. Man lebt in friedlicher Koexistenz, eine Unterscheidung in den Künsten ist zu empfehlen. Nicht das gleiche machen wie die etablierte Größe. Was auch immer die jeweilige Kiezgröße so Besonderes kann, das kann nämlich alles sein. Von der Marke „verkannter Musiker“ über „verkannter Kunstlehrerkünstler“ bis hin zum Viertel-Juristen, der aussieht wie ein französischer Schauspieler und auch so guckt und der auch noch genauso leger über die Straße läuft in seiner ockerfarbenen Bluson-Jacke und diesem melancholisch-kecken Ausdruck in den Augen und seinen Haaren und … Nun gut.

Man sollte in jedem Fall genau beobachten und dann: was zusammen machen. Funktioniert nicht immer mit dem Wunschkandidaten, aber man sollte am Anfang nicht wählerisch sein. Das gleiche gilt für Straßen-Bekanntschaften: Alle Menschen grüßen, die man kennt und an einem im Viertel vorbeilaufen. Kurz quatschen. Drei Minuten aber maximal, dann weiter.

Das alles durchziehen für eine x Zeit, dann aber auch wissen, dass man gehen muss. Auch, wenn es schwer fällt. Sehr schwer. Zum Heulen schwer.

Je Viertel schaffen es immer nur ein bis zwei Kiezgrößen auf Dauer. Man kann davon ausgehen: Man selbst ist es nicht. Deswegen: fluktuieren, andere Viertel finden. Noch mal von vorne anfangen.

Bis dahin, eigene Erfolge wie folgt feiern:

den Kleidungsstil ändern, leicht aber nur. Bloß nicht zu viel. Das gleiche bei Bewegungsabläufen, Mimik und Gestik. Menschen in die Augen schauen. Scham ablegen. Draußen essen. Alleine unterwegs sein. Promenieren, im wörtlichen Sinn. Lesen. Schweigen.

Und: sich in Ruhe anschauen lassen.

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03:16 Uhr, Handy Lampe Boden

Keine Erinnerung verdrängt die Nacht.

Es regnete, und es regnete nicht. Feuchte Paletten und beige-braune Duschvorhänge vor Klospülungen, derbe Wassermotive. Aus den Containern elektronisches Wummern. In der Handynotiz steht „03:16 Uhr Handy Lampe Boden“. Es muss eine Geschichte dazu gegeben haben. Sie wurde mit der Notiz auserzählt. Ich möchte sie füllen, mit weiteren Notizen, bei denen es keiner weiteren Ausführung bedarf.

Etwa Stunden zuvor in der Kokerei Zollverein. Literaturgestalten bei Burger und Bier. Auf 23:34 Uhr terminiert, der Eintrag:

Gegenüber von Robert Menasse sitzen und Robert Menasse nicht erkennen, sich aber fragen, warum der Mann ein Buch von Robert Menasse vor sich liegen hat. Kurze Zeit später darauf hingewiesen werden, dass es sich bei dem Mann um Robert Menasse handelt. Robert Menasse aus Höflichkeit fragen, wie seine Veranstaltung war. Auf seinen Satz: „Woher soll ich das wissen? Das kann ich ja schlecht einschätzen“ antworten: „Also bitte, haben Sie denn keinen persönlichen Eindruck?“ Eine Schriftstellerfreundschaft wird das wohl eher nicht.

Vorgespult, Tage später, Nachtrag:

22:28 Uhr Als ich einmal Robert Menasse traf, den ich nicht als Robert Menasse erkannte und der dann drei Tage später mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet wurde.

Zurück zur Nacht:

04:45 Uhr Die rechte Hand hebend, Handinnenflächen, -außenflächen im Wechsel drehend, seltsamer Move, ist das schon politisch? Der Boden hart wie Stein und Krümel von Zerbrochenem

Absatz (wahrscheinlich auch zeitlich):

Nebel, Rauch, plötzlich wieder Gesagtes

Und gestückelt, in den Wochen zuvor (Auswahl):

21:40 Uhr Dauergeweitete Pupillen und zorniger Zynismus

08:57 Uhr Nach drei Monaten alles sehen wollen, laufe ich nun an den Dingen vorbei.

22:56 Uhr Hornby sitzt mit BVB-Schal da, halb Jubel-, halb Buhrufe, Typ neben mir schläft, zu viel Fußball, Arsenal, obsessions or passions, Have you a clue about women now?, Hornby, der „Männererklärer“

21:25 Uhr Ab Dortmund: Iserlohn, 17:23 Uhr Gleis 3 oder ab Gelsenkirchen: 16:29 Uhr, Gleis 6, umsteigen in Dortmund auf den 17:23er. Zurück: 21:51 oder 22:51. Klempner anrufen

17:24 Uhr Eving, Brechten, Brambauer: Je weiter es raus aus dem Dortmunder Stadtgebiet und rein in die einst angelegten Arbeitersiedlungen geht, desto mehr Menschen stehen an offenen Fenstern. Postindustrielles Romantik-Motiv?

Ist postindustriell der richtige Begriff oder klingt es nur gut?

14:44 Uhr Wenn du dich an einen anderen Ort wünschst: Wer willst du dort sein?

21:55 Uhr Rosa Kotze

20:26 Uhr … und dann erschüttert es mich, dass es dunkel ist draußen.

21:51 Uhr – ist, glaub ich, Fußball, kein Sex

 


>Die Katze Erinnerung<

Nachts; Hof. ©mhu
Was war und was ist? Und was will Wirklichkeit? Manchmal ist es auch gut so. Für den Rest gibt es die Notizfunktion im Handy.  ©mhu

 

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14:57 Uhr, Dortmund Westenhellweg

Vor einem Bekleidungsgeschäft am Westenhellweg hockt ein Mann. Neben ihm: Stromkasten, unter ihm: Isomatte. Er sitzt da öfter, wenn nicht täglich. Jetzt ist Samstag und einiges los in der Innenstadt. Der Westenhellweg wirkt an solchen Tagen wie ein stark befahrenes, aber recht kontrolliertes Flussbett. Ab und an ein Rempeln, ein Hallo, gehts noch, genervtes Schauen, verschworenes Lachen – aber wo ist das nicht? Zwischen Taschen und Tüten schlängelt sich ein kleiner Mann durch, neben sich schiebt er ein Fahrrad her. An Lenkrad und Gepäckträger sind handbeschriebene Plakate aus Pappe angebracht. Irgendetwas Prophetisches steht drauf. Er kommt hier auch öfter vorbei. Der Mann neben dem Stromkasten guckt leer. Kennt er schon. Kennt er alles schon. Als ihm aber eine Frau plötzlich ihre Zigarette in die Hand drückt mit den Worten: „Hier, nimm ruhig meine Fluppe. Ich muss mal kurz in den Laden da rein“, schaut er verwundert auf. Er will etwas sagen, aber die Frau ist schon bei den Tops am Eingang des Modegeschäfts. Schlaff qualmt die Zigarette zwischen Zeige- und Mittelfinger. Der Mann mit dem Fahrrad ruft mal wieder: „Das Ende ist nah!“ 15:04 Uhr


>Innenstadt Dortmund<

Eigentlich ein Foto vom Ostenhellweg – aber der Westenhellweg liegt am Horizont. ©mhu
Eigentlich ein Foto vom Ostenhellweg – aber der Westenhellweg liegt am Horizont. ©mhu
Im Mittelalter waren der Westen- und der daran anschließende Ostenhellweg Teil der Heer- und Handelsstraße Hellweg, die bereits Karl der Große genutzt haben soll. Damals verliefen die beiden Wege innerhalb der historischen Mauern von Dortmund. Der Westenhellweg ist eine der meistbesuchtesten Einkaufsstraßen in Deutschland.

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Maria, die „gute Seele“ vom Kloster Steinfeld

Ich wollte immer wissen, was ein Mädchen dazu treibt, ins Kloster zu gehen. Wie diese Entscheidung getroffen wird? Was sie dazu motiviert, ihr Leben Tag und Nacht als „fromme Dienerin“ zu verbringen? Nun steht vor mir eine Frau im fortgeschrittenen Alter, die meine Mutter sein könnte. Sie sieht ihr ähnlich: dieselben hellen, lebendigen Augen, hohe Wangen, ein dunkler Rock, das helle Hemd, keine Uniform. Sie lächelt mich an, nicht weniger neugierig auf mich als ich auf sie. Ich fühle mich wohl bei ihr, habe keine Hemmungen, stelle ihr Fragen, die ich einer Nonne oder einer Ordensschwester schon immer stellen wollte und mich nie getraut habe.

——

Wenn Maria Goretti Augustin, 78, gütige Augen, Igelfrisur, glänzende Zähne, zurück auf ihr Leben blickt, strahlt sie Ruhe und Gelassenheit aus. Ob sie alles richtig gemacht habe, das wisse der Herr besser als sie. Sie habe ihm, dem Allmächtigen, ihr Leben geschenkt, ihre Träume anvertraut, ihre Ängste auch, sie habe ihre Gelübde abgelegt für ihn, Gott, den Schöpfer, um für die Menschen „da“ zu sein. Eine Art Eid, ein Versprechen, das sie „mit Herz und Seele“ immer gehalten habe.

„60 Jahre lang“.

St. Maria Goretti Augustin

Für Gott und die Menschheit da sein

Als Maria noch Rosa heißt, macht sich ihre Mutter große Sorgen. Das Mädchen, fünfzehn Jahre alt, gerade nicht mehr Kind, lebendig, neugierig, ganz dieser Welt zugewandt, habe nicht nur den Jungs den Kopf verdreht.

Rosa will alles sehen, hören, riechen, alles erleben. In einem Kloster will sie sogar drei Tage lang versuchen, zu schweigen. Die Ordens-Schwester, die die Einkehrtage organisiert, muss über das Mädchen laut lachen:

„Aber nicht Du, Rosa! Länger als eine Minute still zu bleiben, das schaffst Du, mein Kind, sowieso nicht!“

Diese Worte ärgern Rosa und wecken ihren Ehrgeiz. Gepackt vom Trotz und dem Willen, allen und sich zu beweisen, sie könne alles, auch drei Tage schweigen, geht sie mit der frommen Mädchengruppe in ein Schweigekloster: und sie schafft es. Tatsächlich hält sie drei Tage lang komplett ihren Mund. Sie sitzt ruhig und hört Stille. In der Stille begegnet sie einer Stimme. Rosa hört diese Stimme in sich wie eine Vision, die so „klar, so entschlossen“ gewesen sei wie nichts bis dahin:

„Ich will für Gott und die Menschheit da sein! Ich will eine Ordensschwester werden!“

Ihre Mutter habe nur den Kopf geschüttelt, als Rosa nach drei Tagen Schweigekloster nach Hause kommt mit ihrem frommen Wunsch.

„Ach, Kind, Du machst mich noch wahnsinnig. Hattest du vor dem Kloster nicht eine andere Vision? Wolltest Du nicht Mutter von 12 Kindern werden? Eine große Familie haben? Nun willst Du die Welt retten: für Gott und die Menschheit da sein!?“

Rosas Vision: Gott

Rosa schweigt zuerst und kämpft dann. Wie ein Mantra wiederholt sie, sie wolle in das Kloster gehen, sie wolle Gott und der Menschheit dienen, sie wolle in einen Orden eintreten, bis ihre Eltern schließlich ihren Widerstand aufgeben.

Diese Sätze hören sich in den Ohren von Rosas Eltern wie eine kaputte Schallplatte an, wie eine Schleife, sich unendlich wiederholend wie ein Wahn. Sie sind besorgt, wissen nicht, wie sie ihre einzige Tochter zu Vernunft bringen sollen. Der Vater, ein verschlossener, in sich gekehrter Mann, vom Krieg gezeichnet, versucht sein Kind mit Versprechungen zu lenken: er wolle Rosa, seiner Tochter jetzt schon alles geben, ihr sein ganzes Vermögen hinterlassen, jetzt schon sie glücklich sehen. Rosa schweigt. Sie sei glücklich, wenn ihre Eltern sie gehen ließen, sagt sie. In den Orden. Zu den Salvatorianerinnen.

Die Eltern weinen, segnen sie, und dann lassen sie ihre Rosa ziehen..

Mit 17 tritt Rosa in den Orden der Salvatorianer ein und nimmt einen neuen Name an. Es ist der Name eines italienischen Mädchens, das gerade im Vatikan heilig gesprochen wird. Maria Goretti, die Märtyrerin, die um ihre Unschuld gekämpft hat bis zum Tod, ist ab jetzt ihr Vorbild.

 Stimme der Stille

 Rosa kam ein Jahr bevor der Krieg ausbrach in Plattling bei Passau zur Welt als erstes, als erwünschtes, mit „Liebe und Freude umarmtes“ Kind.

Ihr Vater muß an die Front. Das Kind erinnert sich an ihn kaum. Maria erinnert sich an Wiesen, Wälder, Bäche. Das schöne grüne Bayern, ihre Heimat taucht immer wieder in ihren Träumen auf. Auch die Tränen ihrer Mutter, ihr Zittern als die Schüsse, „die Donner des Krieges“, zu ihnen nach Bayern kamen. Der Vater kam aus dem Krieg wie gebrochen. Das lebendige, aufgeweckte Kind fühlt sich manchmal sehr einsam, eingequetscht zwischen den schweigsamen Eltern, der besorgten Mutter und dem traurigen Vater, träumt Rosa manchmal von einer großen Familie. Sie will 12 Kinder haben.

Doch dann hört sie in der Stille des Schweigeklosters diese Stimme und folgt ihr. Sie verlässt ihre Eltern und  und wandert, wie von ihr verlangt, von einem Kloster des Ordens zum nächsten. Sie entdeckt die Bundesrepublik kreuz und quer. Im Allgäu, auf ihrer ersten Station, beginnt sie, in einem Kindergarten zu helfen. In Schweinfurt arbeitet sie in einem Krankenhaus als Pflegehelferin. In Horrem bei Köln wird sie Postulantin, Nonne auf Probe. Ein Jahr später legt sie in Köln ihr Gelübde ab.

Als Ordensschwester dient sie in den nächsten vier Jahren in Westfalen. In Warburg wird sie das „Mädchen für alles“. Sie hilft, wo sie gerade gebraucht wird: in der Küche, Wäscherei, im Garten, bei der Erziehung der Heimkinder.

Die Arbeit mit den Kindern habe ihr so große Freude gemacht, sagt Maria, dass daraus ihr Beruf wird. In Dortmund hat sie in den 60-er Jahren ihre Erzieherinnenausbildung absolviert und wird nach Kall in der Eifel in ein Internat versetzt. Hier findet sie ihre Berufung. Sie erzieht in den nächsten 30 Jahren 177 Kinder: schwer erziehbare Kinder, Kinder aus schwierigen, zerrütteten Familienverhältnissen, Kinder von alkohol-und drogenabhängigen Eltern, Kinder, die viel Leid und Gewalt erlebt und gesehen haben, Kinder die wenig Liebe gespürt haben, Kinder die keiner will.

Marias 177 Kinder

Marias ganze Freude, Marias ganze Sorge, Marias Leben: Die Kinder. Keine zwölf eigenen, wie sie sich das als junges Mädchen gewünscht habe. Dafür 177 Heimkinder! Jungs im Alter von 12 bis 14: verlassen, misshandelt, empfindsam, traurig, aggressiv, zart.

„Alle Geschöpfe Gottes“, sagt sie.

Sie habe sie herzlich empfangen und geduldig getröstet, unterrichtet, motiviert, ihnen geholfen, wieder auf die Beine zu kommen. Mit jedem einzelnen habe sie gelitten, gehofft und sich gefreut.

Am Anfang, als sie ins Internat kam, sei sie noch jung gewesen. Der Ton im Internat war streng, barsch und autoritär. Die Kinder sollten mit Regeln und Rute gerade gebogen werden und wurden „mit fester Hand“ gezüchtigt. Sie sei grundsätzlich immer dagegen gewesen. Sie sei mit den Kindern milder, freundlicher umgegangen, habe sie angelächelt, ihnen vergeben, mit ihnen geredet, an sie geglaubt.

„Laissez-faire“ kontra autoritär

In den Siebzigern sei es dann zu großen Veränderungen in den deutschen Internaten gekommen. „Über Nacht und per Gesetz“.  Der Erziehungsstil verwandelte sich in ein „Laissez-faire – lass jonn!“. Und habe die Kinder machen lassen, was sie wollen.

„Auch falsch!“ meint Maria, die erfahrene Erzieherin. Die Kinder hätten sich beschwert, niemand interessiere sich für sie, hätten sie gesagt. Überhaupt keine Regel, überhaupt keine Strenge täte den Kinder genauso wenig gut wie „zu viel Strenge, zu viel Rute, zu viele Regeln“. Kinder suchten Halt.

„Und was Kinder vor allem brauchen ist die Liebe!“ sagt Maria. „Wenn sie Liebe spüren, wenn sie sich auf jemanden verlassen können, dann können ihre schlimmsten Verletzungen geheilt werden. Dann verändern sich Kinder, werden fröhlicher, entspannter.“

Maria Gorretti wird bald Leiterin des Internates und arbeitet dort bis zur Pensionierung.

Zweifel und Pflege

Ob Sie Zweifel gehabt habe, die richtige Entscheidung damals getroffen zu haben, frage ich.

„All diese Jahre…?“

„Zweifel? Naja… wer hat keine Zweifel?!“ sagt Maria.

Die Zweifel gehörten zum Glauben. Für ihre Entscheidungsfreude sei sie sehr dankbar. Die Entscheidung sei weniger wichtig als ihre „Pflege“. Egal was man im Leben entscheidet, man müsse es „pflegen“. Wer heirate, Kinder habe, solle das pflegen. Genau wie die Entscheidung für den Orden.

„Alles braucht Pflege. Ohne Pflege geht alles kaputt.“

Maria glaubt, dass nichts verloren gehe, was man pflege. Es bleibe für immer.

„In diesem oder in einem anderen Leben.“

An das ewige Leben glaube sie selbstverständlich!

„Wir Menschen haben den Himmel auf der Erde. Unser Schöpfer hat uns die Fähigkeit gegeben, aus Himmel und Erde alles zu schaffen. Gott hat uns den freien Willen dazu gegeben! Voilà“.

Schmerztabletten

Aus dem Internat Kloster Steinfeld ist heute ein schickes, topmodernes Gästehaus geworden, in dem Geschäftsleute, Hipster und Künstler Ruhe und Inspiration suchen. Maria Goretti Augustin, 78, genießt ihre Gesellschaft.

Sie freue sich, von ihnen „frische, windige Energie“ zu bekommen und ihnen etwas von ihrer „Ruhe, Liebe und Freude“, die sie in all diesen Jahren im Dienste Gottes für die Menschheit gewonnen habe, „im Gegenzug“ zu geben. Und sie freue sich und sei Gott dankbar, dass das Kloster dank eines tüchtigen Geschäftsmannes, „einem aus der Gegend“, und seinem Manager, der als Kind im Kloster zur Schule gegangen sei, jetzt weiterhin existieren könne und sie und ihre drei Mit-Schwestern und die neun Patres da leben und beten lasse.

„Mit Geduld, Freude und Dankbarkeit“, trage Maria alle ihre Kreuze. Sie erzählt von ihrem Brustkrebs, der Operation, der Chemotherapie, den Bestrahlungen, der Prothese, einem Fahrradsturz, einem Hund, der sie gebissen habe, gerade als sie sich von den Strapazen der Krankheit erholt hatte, mit einem Lächeln. Ich traue meinen Ohren nicht und glaube etwas falsch verstanden zu haben.

„Aber das muss doch alles furchtbar wehgetan haben. Wie kommen Sie mit Schmerzen klar? “

„Ach, Schmerzen…! Es gibt so wunderbare Schmerzmittel!“, sagt Maria und lacht so herzlich, als ob sie einen guten Witz erzählt hätte.

Ich bin perplex. Alles habe ich erwartet, aber nicht so eine profane Antwort, so unpathetisch, ehrlich, eine, die dazu auch noch stimmt. Ich habe keine Fragen mehr.

Maria Rosa Goretti Augustin, „die gute Seele“ vom Steinfeld Kloster, wie alle im Kloster die Schwester nennen, habe vor 60 Jahren einen „Deal mit dem Herren“ abgemacht. Sie diene ihm und allen seinen Geschöpfen, „ohne wenn und aber“, leidenschaftlich, ehrlich, geduldig, und ER trägt dafür all ihre Ängste, beruhigt ihre Zweifel, stillt ihre Schmerzen. Mit Schmerztabletten, wenn es sein muss.

„Dank sei dem Herren dafür.“

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20:46 Uhr Dortmund Campus TU Dortmund

Am rechten Rand der Otto-Hahn-Straße blitzen zaghaft zwei Dutzend spitz-weiße Pavillons. Zwischen dem IT & Medien Centrum und dem Institut für Roboterforschung kommt die Kälte von unten. Die Wiese ist weitläufig, und dann ist sie mehr: eine Metapher vielleicht, eine Leere zwischen Robotern und IT. Eng beieinander sitzen die Gäste, Gras macht die Füße feucht. Kleine Plakate kündigen den Programmpunkt an: Eröffnung, Campfire Festival für Journalismus und Neue Medien. Vier Kameras sind auf die Bühne gerichtet. Am Klavier: der palästinensisch-syrische Pianist Aeham Ahmad, am Tisch daneben: Ariel Hauptmeier, Journalist. Das Leuchten ihrer Stimmen, Hände und Augen ist der einzige Wärmefilter des Abends. Manch eine rückt näher an die andere, konzentriert wird geschaut, so etwas bindet, vielleicht.

„Ist jetzt nicht so die Musik für Wodka“, ist da vom Rand der Bühne zu hören.
„Auch nicht so für Gin.“
„Ich hol mal Bier.“

Eine Gruppe von Männern hockt auf schwarzen Getränkekisten. Einer bringt mehrere Bierflaschen, auf den Etiketten ist das halbe Ruhrgebiet vereint: „Hattingen“, „Waltrop“, „Duisburg“, „Bochum“, „Unna“. Es wird geprostet, es wird geredet, spekuliert, getrunken. Nach einer Weile löst sich aus dem Publikum eine Frau. Sie kommt auf die Männer zu, sagt: „Könnt ihr ein bisschen leiser sein?“ – „Klar“, brummt es laut. Dann zückt einer sein Smartphone, richtet es auf die Bühne. Die anderen versammeln sich hinter ihm. Wie zur Aufstellung eines Gruppenfotos stehen sie da, schauen angestrengt auf das Display. „Die Qualität ist so scheiße“, sagt der mit dem Smartphone. Als Ariel Hauptmeier zum nächsten Kapitel aus dem Buch „Und die Vögel werden singen“ ansetzt, ist die Gruppe verschwunden. 21:03 Uhr


>Campfire – Festival für Journalismus und Neue Medien<

Es ist die erste Ausgabe des Campfire – Festival für Journalismus und Neue Medien. Organisiert vom Institut für Journalistik an der TU Dortmund und dem journalistischen Portal Correctiv geht es noch bis 9. September um Themen wie Datenjournalismus, Programmieren für Anfänger, Recherche im Darknet, politischer Journalismus, Umgang mit Fake News, aber auch Reporter Slam, Kolumnen schreiben, u.v.m. Die Festival ist kostenlos, das Programm ist hier einzusehen.

 

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