Hier und Nichthier

Ort: Burg Hülshoff | Datum: Sa, 26.08.2017 | Wetter: bewölkt, 19°C

Der Parkplatz füllt sich schnell. Die Leute strömen. Um das hier! zu sehen. Die Sehnsucht in die Ferne. Und das NICHTHIER. Ich bin gerade – in der Mitte. Zwei Monate mit dem Bulli unterwegs durch das Münsterland. Immer ein Stück zuhause dabei: mein Bett, meine Bücherkiste, mein Draht zur Welt. Durch die Windschutzscheibe jeden Tag ein neuer Ausblick. Vor der Tür jeden Tag ein neuer Vorgarten. Bin ich hier oder nichthier, in der Fremde oder doch noch im Eigenen? Vielleicht ist auch die Grenze dazwischen bewohnbar. Die Bewegung. Für kurze Zeit. Wenn die Unruhe nicht wäre.

„Rastlos treibts mich um“

Ein Fünftel ihres Lebens verbrachte die Droste auf Reisen. Zehn Jahre bewegte sie sich auf familiären Routen. Ostwestfalen, der Bodensee, die Schweiz und die Niederlande. Etwa die Hälfte ihres Werks entstand auf Reisen. „The World as Raw Material.“ Ohne das Unterwegs-Sein, in Gedanken wie auf der Straße, hätte auch ich den Großteil meiner Texte so nicht schreiben können. Begegnungen. Menschen in Bewegung. Abgelegene Orte. Ich habe einige gesehen und werde noch einige aufsuchen. Von manchen hatte ich zuvor gehört. Über andere bin ich gestolpert, habe sie auf meinem Weg für mich entdeckt. Einige habe ich beschrieben und geteilt.

„Sehnsucht in die Ferne“ ist der Titel der Ausstellung. So nennt die Droste ihren ganz persönlichen „Plagedämon“. Immer dort sein zu wollen, wo sie nicht ist. Die Sehnsucht in die Ferne immer auch eine Sehnsucht nach dem (anderen) Hier? Nach weiblicher Selbstbestimmung, nach Handlungsmacht? Eine erträumte Freiheit im Schreiben, im heimlichen Lösen des gebundenen Haars. Eine Frau. Unverheiratet. Betritt man die Ausstellung, tritt man zunächst wie selbstverständlich den Reisegefährten entgegen. Auf Augenhöhe. Manchmal begegne ich ihnen auf meinem Road Trip. Dann erntet meine Antwort – „Ja, genau, ich bin allein unterwegs, mit dem Bulli“ – Stirnrunzeln und hochgezogene Augenbrauen.

Daneben dann das Reisegefährt. Die Postkutsche, die Eisenbahn, das Dampfschiff. Technische Entwicklungen ihrer Zeit veränderten das Wie und das Wohin der Reise. Mein Gefährte und Gefährt wäre vielleicht auch etwas für die Droste gewesen: Der Bulli als ein Stück Eigenes in der Fremde. Und statt mobiler Münzsammlung die Bücherkiste. Statt Erpernburger Butterbröde der Filterkaffee im Thermobecher. Und die Rastlosigkeit. Die Unruhe. Sirenengesang der Ferne oder „klingts wie Heymathslieder“? Sehnsucht – in beide Richtungen? Flucht. Suche. Traum. Ziel. Rückkehr.

„Mein Indien liegt in – “

Sehnsucht treibt die Schreibenden um. Nach Räumen. Vermeintlich fern, vermeintlich nah. Die musikalische Performance „NICHTHIER“ lässt die Droste ebenso zu Wort kommen wie westfälische KünstlerInnen der Gegenwart. Ersehnen von Orten. Von Aufbrechen und Ankommen. Nach globaler Entgrenzung und lokaler Verortung. Stimmen sprechen von Westfalen und der Welt. Das Eigene braucht immer auch das Fremde. Zur Abgrenzung. Zur Selbstvergewisserung. Zur Verortung. Wobei beides zum Sehnsuchtsort werden kann: Heimat und Fremde. Heimweh und Fernweh. Im Sehnen scheint die Unmöglichkeit schon verankert – ein künstlerischer Motor?

Wo entsteht Kunst? Was ist der richtige Ort des Schaffens? Der DichterInnen-Ort. Der Ich-Ort der Poesie. Braucht es Sesshaftigkeit oder Bewegung? Verwurzelung oder Ungebundenheit? Den Rückzug ins Ich oder das Mitten-in-der-Welt-Sein? Um Inspiration zu finden. Um kreativ sein zu können. Annettes Ort kann man in der Ausstellung aufsuchen. Die virtuelle Realität ist vor allem – schwer. Im Schaukelstuhl sitzend halte ich die Brille mit beiden Händen. Bin hier, bei mir, das Kissen im Rücken. Das Schaukeln. Bin nichthier, wo sich das Licht im Wassertropfen am Rocksaum bricht, im Grase. Bewege mich. Stetig vor und zurück.

Was sind meine Souvenirs? Was nehme ich mit von meiner bisherigen Reise durch das Münsterland? In meinem „Schatzkästlein“ liegen: ein Stück Sandstein, eine rosafarbene Feder, ein Festivalbändchen, eine venezianische Maske. Mein Atlas des Münsterlandes, der mit jedem besuchten Ort dicker wird. Mehr Zettel ansammelt. Und verschiedenste Texte, die ihren Weg hinein und hinaus finden. Hier dann die Postkarten meines Road Trips. Von: Mir. An: Alle, die mögen. Briefmarke: Sehnsucht in die nahegelegene Ferne, ins Fremde im Eigenen.

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Einblicke und Ausblicke

Ort: Zwischen Haus Rüschhaus und Burg Hülshoff | Datum: Sa, 29.07.2017 | Wetter: sonnig und bewölkt, 21°C

Von dem Fenster über den Ställen, links von dem weißen zweiflügeligen Tor, konnte die Droste den Hof überschauen. Ein Schritt ans kleine Fenster, ein Blick hinaus aus ihrem „Schneckenhäuschen“. Wenn Hufschlag oder Kutschengeklapper nahte, die Gräfte überquerte und auf dem Vorplatz zum Halten kam. Noch bevor die Küche unten betreten wurde und Stimmengewirr durch ein weiteres Fenster in ihre Stube drang, wusste sie bereits, wer den Hof besuchte. Heute hätte sie uns auf dem kopfsteingepflasterten Vorplatz beobachten können, wie wir die Fassade betrachten. Eine Begegnung der Blicke.

Vor uns liegt das Rüschhaus mit seinen zwei Gesichtern. Hierhin zog die Droste mit 29 Jahren nach dem Tod ihres Vaters, erzählt mir Jochen. Der Bruder Werner übernahm den Familiensitz und Geburtsort der Droste, die Burg Hülshoff. Das herrschaftliche Wasserschloss. Annette und ihre Mutter sowie ihre Schwester Jenny wurden, letztere bis zu ihrer Hochzeit, in der von Johann Conrad Schlaun gebauten Sommerresidenz sesshaft. Ein Landsitz mit großem Bauerngarten und Obstbäumen. Mit barocker Pracht im Gartensaal und westfälischem Schinken in der Küche.

Die Droste erkundete die Landschaft, machte sich oft auf zur fünf Kilometer entfernten Burg. Nicht mit der Kutsche. Jochen erklärt mir, dass das Rüschhaus keine eigene Kutsche besaß. Für besondere Gelegenheiten wurde eine geliehen. Annette war meist zu Fuß unterwegs. Ich muss an Jane Austens Stolz und Vorurteil denken. Die Droste als Lizzy Bennet mit Rocksäumen voller Erde und Kletten? Ihr Blick auf Natur und Umgebung sind in jedem Fall prägend für einen Großteil ihres literarischen Werks. Auch in ihren Briefen berichtet die Droste immer wieder von ihren Ausflügen. Wer ihr Werk kennt, kann auch heute Bezüge zur Landschaft ausmachen.

Du starrtest damals schon
So düster treu wie heut‘,
Du, unsrer Liebe Thron
Und Wächter manche Zeit;

(Aus: Die Taxuswand)

Libellen zittern über ihn,
Blaugoldne Stäbchen und Karmin,
Und auf des Sonnenbildes Glanz
Die Wasserspinne führt den Tanz;

(Aus: Der Weiher)

Während Haus Vögeding so aussieht, als könnten die Droste und Levin Schücking gleich um die Ecke biegen, um hier zu Rasten und eine Creme aus Gänseeiern zu essen, hat der Hof Hüerländer seinen Standort wegen des Baus der Autobahn seit der Erwähnung in den Briefen der Droste geändert. Hier wird Minigolf gespielt, als wir den Weg entlangkommen. Ein Stück renaturierte Münstersche Aa hingegen könnte sich dem, was die Droste damals gesehen hat, wieder annähern. Als sie dort bei Hochwasser gestanden und abgesehen hat, ob die Überquerung des Flusses auf ihrem Weg zur Burg möglich ist. Ein Raum im Wandel.

Entlang von Weihern, Wiesen und Waldstücken. Stromtrassen, Windkraftanlagen und der Autobahn. Panoramen und Details. Schweifender und fokussierter Blick. Hier wird demnächst auch ohne kundige Führung ein Einblick in Werk und Welt der Droste sowie darüber hinaus möglich sein. Zwischen Gräftenhof und Wasserschloss soll eine Droste-Landschaft entstehen. Ein Raum des Dialogs. Zwischen Landschaft und Literatur. Zwischen Werk und Rezeption sowie der künstlerischen Auseinandersetzung durch Autorinnen und Autoren der Gegenwart. Aber auch mit Blick auf die Veränderungen von Natur und Kulturlandschaft. Wandel und Brüche.

Nahe der Burg überqueren wir einen kleinen Bach. Hier hat zu Zeiten der Droste eine Wassermühle gestanden, die sie mit ihren Geschwistern in der Kindheit oft aufgesucht hatte. Sie haben in der Bruchlandschaft gespielt. Eine unbeschwerte Kindheit, wie in Bullerbü? frage ich Jochen. Na, dann aber doch auch mit einer Portion Jane Austen. Die Droste nahm auf der Burg am Unterricht ihrer jüngeren Brüder teil. Unüblich für die Zeit, aber die Eltern bestanden darauf, dass auch die Tochter gefördert wurde. Nichtsdestotrotz hatte man sich als Anna Elisabeth Franzisca Adolphine Wilhelmine Louise Maria von Droste-Hülshoff zu verhalten.

Wir folgen schließlich dem Verlauf der alten Allee des Anwesens, die auf ein weißes Tor zuläuft. Wenn die Droste-Landschaft fertig ist, wird dieses Tor geöffnet. Heute gewährt es zumindest schon mal einen Einblick in das Dahinter.


Dr. Jochen Grywatsch, Leiter der Droste-Forschungsstelle und Geschäftsführer der Annette von Droste-Gesellschaft, hat mir Einblicke in Leben und Werk der Droste und ‚ihre‘ Landschaft gegeben. Außerdem einen Ausblick in die geplante Droste-Landschaft und den Ausbau der beiden Dichterorte. Haus Rüschhaus in Münster-Nienberge und die Burg Hülshoff in Havixbeck sollen durch die Annette von Droste zu Hülshoff-Stiftung unter der Federführung des LWL zu einem Droste-Kulturzentrum und Zukunftsort Literatur ausgebaut werden.

Die Zitate aus dem Werk Annette von Droste-Hülshoffs sind dem Droste-Portal entnommen.

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