Flecken

 

Wir waren  im Flecken. So heißt ein Stadtteil in Freudenberg, in dem nur alte Häuser stehen. Als wir dort rumliefen, räumte ein Mann vor seinem Haus ein paar Sachen zusammen und da er mich mit den Kindern Französisch sprechen hörte, wollte er wissen ob es uns hier gefallen würde und woher wir aus Frankreich kamen. Ich musste daran denken, dass vor mehr als zweihundert Jahren französische Truppen unter Napoleon in Freudenberg waren, wo sie plünderten, und im Siegerland selbst um ihre Kriegskasse beraubt wurden. Kein Mensch hat das noch erlebt, aber die Häuser im Flecken  schon. Ob sie damals auch so schweigend in ihren Reihen standen wie heute? Im Gespräch sagte ich zu dem Mann, dass mir sein Haus wirklich sehr gefallen würde und er meinte ja, früher, da hätten sie hier ein Geschäft gehabt, aber nun nicht mehr, seit seine Frau tot sei, fünf Jahre schon. Da stand dann plötzlich eine gewisse Traurigkeit mit uns auf der Straße und er meinte, er wäre ja nun schon alt, aber das Geschäft wollte er doch irgendwann wieder aufmachen, nur ginge das gerade nicht wegen Corona.

Ich habe gefragt, was sie denn verkauft hätten und er meinte Glas und solche Sachen und machte eine ausladende Handbewegung auf die Fensterfront. Hinter den putzigen Scheiben mit ihren gestickten Gardinen waren die Schatten von Figuren und Objekten zu sehen, es war Glas, aber auch Zinn, oder Stein, vielleicht sogar Eisen. Ich nickte, ließ meinen Blick über die Hauswand schweifen und meinte, es wäre sicher schön in so einem Haus zu leben.

Er machte eine zustimmende Bewegung, diesmal mit seinem ganzen Körper, und sagte schon, aber schön sei es doch überall auf der Welt, auch in Frankreich. Er wäre öfter mal das gewesen, früher, mit seiner Frau.

Stimmt, gab ich zu und wollte wissen wo.

An einem Ort im Süden, an der Küste, er nannte auch den Namen, aber wir sprachen nicht weiter darüber, denn die Kinder waren schon weiter gelaufen, standen mit schlackernden Armen auf mich wartend am Ende der Straße, doch sie waren es nicht, die mich weiter trieben, es war diese große Traurigkeit die unausgesprochen zwischen unseren Worten auf den Pflastersteinen stand und dort verharrte, wie die Erinnerung an all das, was war und niemals wieder sein würde und der Mann verabschiedete sich von uns, drehte sich, um wieder zurück in sein Haus zu gehen, und mir war, als ginge er gebückter als vorher, als wäre da eine Last, die er mit auf seinen Schultern zurück ins Innere seiner Wohnstätte nahm.

 

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Amnesie

Immer wieder taucht in meinen Gedanken diese Frage auf, was denn meine Großeltern gemacht haben, damals, ob diese Nazis gewesen waren oder nicht. Dabei weiß ich schon, dass meine beiden Großväter nicht in der nationalsozialistischen Partei gewesen waren oder an die Front geschickt wurden. Aber die Suche nach der Haltung meiner Vorfahren gegenüber der rechten Vergangenheit meiner Heimat bricht nicht ab. Es ist eine Konstante meiner Existenz, sie gehört zu mir, genauso wie eine Allergie, Asthma oder eine Sehstörung. Die Vergangenheit ist eine Gegenwart, mit der man leben lernen muss. Einer meiner Großväter war Arzt und deswegen freigestellt, der andere als Soldat bei der Nachrichtenübermittlung eingezogen. Meine Großeltern haben den Krieg vielleicht überlebt, indem sie sich anpassten. Das kann eine Antwort sein. Trotzdem habe ich in meinem Kopf nie wirklich Klarheit gegenüber der Frage gefunden, was meine Großeltern gemacht oder besser gedacht haben, in der NS-Zeit, welche Position sie  innerlich bezogen haben. Denn es war ja eine Zeit, in der über viele Ansichten nicht gesprochen wurde oder durfte. Da ist eine große Leerstelle in meinem Gedächtnis. Die jetzt in der Coronakrise sogar noch größer geworden ist. Denn ich kann die Ängste, Sorgen und Verzweiflung meiner Großeltern, die Krieg, Bomben, Rezension und Hunger erlebten, nun vielleicht besser spüren und nicht nur erahnen. Und trotzdem ist da ein schales Gefühl geblieben, eine Bitterkeit, ein Fragezeichen, eine offene Gleichung.  Im Gegensatz zu meinen Vorfahren, kann ich mich derzeit wenigstens selbst Glauben machen, dass die Gegner kein politisches System sind, sondern eine tückische Krankheit, gegen die ich allein machtlos bin. Doch damals war es vielleicht nur eine andere Form von Virus, der sich nicht über Atemwege, sondern über gesellschaftliche Strukturen verteilte, und gegen den man sich doch hätte wehren können.

Wenn meine Vorfahren auch nicht in der Partei gewesen waren, nicht selbst im Nationalsozialismus mitgemacht hatten, so waren sie doch nicht im Widerstand aktiv, und wenn nicht, wer waren sie dann gewesen?

Vielleicht waren sie einfach nur Mitläufer, hatten sich vom Strom treiben lassen und sich nicht gegen das braune System gewehrt.

Ohne Mitläufer, schreibt Géraldine Schwarz, wäre Hitler nie in der Lage gewesen, die Verbrechen zu begehen, für die wir Deutsche uns heute noch schämen. Die Frage, was geschehen wäre, wenn in Deutschland die Mehrheit nicht mit, sondern gegen den Strom geschwommen wäre, wurde sich in Deutschland lange nicht gestellt, zu beschäftigt war man damit, das Land, die Gesellschaft neu aufzubauen, die aktiven Täter zu benennen und zu verurteilen, der Opfer zu gedenken. Überhaupt, es wäre unmöglich gewesen, die acht Millionen Mitglieder der Partei ins Gefängnis zu werfen und zu verurteilen.

Man musste sich arrangieren, um weiter zu leben, nach vorne sehen und so wurde aus denen, die von den Alliierten Mitläufer genannt wurden, auch weiter Träger der Gesellschaft.

Der Großvater von Géraldine Schwarz, Karl Schwarz, war einer dieser Mitläufer, er hatte eine Mineralölgesellschaft in Mannheim, und wurde nach dem Krieg von seinem ehemaligen jüdischen Geschäftspartner verklagt, dessen Anteile am Unternehmen er zu Kriegsanfang unter dem Naziregime viel zu günstig erworben hatte. Géraldine Schwarz schreibt von der Verleugnung oder Negierung ihres Großvaters, dem déni. Denn Karl Schwarz ist es nahezu unmöglich anzuerkennen, dass das dritte Reich ein illegales Regime war und folglich auch diese seine Geschäftstransaktion unter diesem Aspekt beurteilt wurde. Diese historische Amnesie war typisch für die Nachkriegsepoche, Schwarz erinnert an die Worte von Hannah Arendt, die in den fünfziger Jahren schockiert war, von der Abwesenheit eines Schuldbewusstseins in der deutschen Bevölkerung.

Diese kollektive Amnesie hat dazu geführt, dass nicht wenige Menschen in einer ähnlichen Situation sind wie ich, nicht genau wissen, welche Position ihre Vorfahren bezogen haben und warum. Eine soziale Amnesie, die ihren Ursprung in einem kollektiven Trauma hat. Emotionale Taubheit und Erstarrung sind beispielsweise Reaktionen auf Traumas, die auch in der Gemeinschaft ihren Ausdruck finden können.

So habe ich also nie viel über meinen Großvater gewusst, der im Rahmedetal aufgewachsen ist. Wenn ich mich für das Regionsschreiberstipendium beworben habe, dann, weil ich an einem Roman über meinen Großvater arbeite. Mit diesem Text versuche ich eine dieser vielen Fragen zu beantworten, die sich mir bei der Lektüre der Gedächtnislosen über die Vergangenheit meiner Vorfahren in Südwestfalen stellte.

„Mutmaßungen über einen Großvater“ hieß einer der Texte, mit denen ich mich für das Stipendium beworben habe, eine Kurzgeschichte, die in der Zeitschrift „Kunst und Kultur“ erschien.

Meine Erinnerungen an meinen Großvater sind sehr verschwommen. Ich erinnere mich an einen sehr großen und breitschultrigem Mann, der vor uns Kindern durch den Wald läuft, wir folgen ihm und sind bemüht, die Hände im Rücken gekreuzt zu halten, so wie er. Aber das ist ein Foto, von dem ich diese Erinnerung habe und wahrscheinlich ist er viel zu früh verstorben, als dass ich erzählte von erlebter Erinnerung unterscheiden könnte.

Er soll gut in Sprachen gewesen sein, geschickt und schlau, heißt es. Ich habe mir für meinen Roman einen Großvater erfunden, der einem Puzzle gleicht. So habe ich mich von der Erzählung meines Grundschullehrers inspirieren lassen, der beim Spielen am Dorfrand während des Einmarschauf einen Panzer der Alliierten stieß und sogar ein Stück mitfuhr, um Bonbons und Schokolade zu erhalten. Das muss 1945 gewesen sein, vielleicht zur Ruhrkesselschlacht. Jedenfalls habe ich es mir für meinen Roman so erfunden. Aber seit meinem Stipendium weiß ich, dass ich mir diesen Großvater im Roman nur ausgedacht habe, dass manche Teile des Puzzles vielleicht nie zusammen passen werden. Aber was ich nun als Regionsschreiberin gelernt habe, ist, dass mein Großvater als Kleinunternehmer wahrscheinlich das gemacht hat, was so viele in seiner Heimat dort schon immer gemacht haben, eine Werkstatt gründen, etwas herstellen, ein Teil der Metallindustrie werden, oft aus Draht, ein Fabriksen aufmachen.

Gar nichts spektakuläres, sondern einfach die Fortsetzung einer langen Geschichte lokaler Produktivität, die sich in der Gestalt des Pott Jost, dessen Denkmal in Altena steht, wohl am besten manifestiert. Die Legende um Pott Jost erzählt von dem Erfindungsreichtum eines lokalen Kaufmanns, der zum kleinen Fabrikbesitzer wird.

Zu dieser lokalen Produktion gehörte auch die Teilnahme der lokalen Industrie an der Zulieferung von Teilen für die Kriegsmaschinerie. Genau wie heute lokale Unternehmen in der Krise aufgerufen werden, Atemschutzmasken und Desinfektionsmittel herzustellen, wurden Unternehmen im zweiten Weltkrieg augerufen, sich an der Waffenproduktion zu beteiligen.

Denn wenn der Zeiger auf fünf vor Zwölf steht, dann kommt danach Null.

Bei den Mesopotamiern bedeutete Null so viel wie Nichts. Griechen hingegen, als auch Römer brauchten gar keine Null, auf dem Abakus blieb die entsprechende Stelle einfach leer. Eine Stelle, bei der etwas fehlt, steht im Duden und stellt dabei die Frage, was denn da nun hingehört. Schwer vorstellbar, dass es mit einem Nichts anfängt, aber vielleicht auch nur ein anderes Wort für der Punkt, an dem sich alles trifft. Charles Seife hält die Null für den Zwilling der Unendlichkeit. Die das Unbeschreibliche und das Unendliche erahnen lässt. Sie wird gefürchtet und geächtet.

Die Stunde Null ist ein Gründungsmythos der Bundesrepublik. Die deutsche Gesellschaft und ihre Träger in Kultur und Industrie waren auch nach Kriegsende mehr mit dem NS-Regime verstrickt, als sich bislang eingestanden wurde, eine schmerzhafte Vergangenheit, die übersehen wurde, die niemand so wirklich wahr haben wollte, eine Wunde, die sich schließen musste, um sie später, heute, als Narbe betrachten zu können. Der Journalist Thorsten Mack hat kürzlich eine Dokumentation veröffentlicht, in der er die NS-Verstrickung der Gründungsväter von Documenta und Berlinale vorstellt.

Solche Dokumentationen sind ein wichtiger Schritt im kulturellen Gedächtnis der Gesellschaft, um die Vergangenheit zu bewältigen und mit dem gewonnen Bewusstsein der Gegenwart zu begegnen. In den städtischen Museen von Lüdenscheid wurde eine solche Dokumentation in Form einer Ausstellung von November 2019 bis Februar 2020 präsentiert. Der Leiter Dr. Eckhard Trox und seine Mitarbeiterin Ursula Delhougne haben dabei eine umfangreiche Bestandsaufnahmen zusammen- und ausgestellt, die sich in produktiver und nicht anklagender Weise mit der kriegsbeteiligenden Vergangenheit der Region auseinandersetzt, daher auch der Titel der Ausstellung: „Friedliches Lüdenscheid?

Ein Mittelpunkt der Ausstellung war die Spitze eine V2 Rakete. Die Vergeltungswaffen, oder auch V-Waffen wurden im zweiten Weltkrieg nicht nur gegen militärische, sondern auch zivile Ziele eingesetzt, wie beispielsweise im Raum London und Südengland. Aus Angst vor Spionage wurde die Produktion dieser Waffen dezentralisiert, und so teilweise auch in Südwestfalen hergestellt.

Fotonachweis: Jutta Rudewig/Lüdenscheider Nachrichten

Die Rolle der südwestfälischen Industrie als Zulieferer für die Kriegsmaschinerie wurde lange aus dem kollektiven lokalen Gedächtnis verdrängt. Zu der Ausstellung gehörte das Tagebuch des Rüstungskommandos Lüdenscheids, das dokumentierte wie in den Kriegsjahren gut bis zu 209 Unternehmen zu Rüstungsbetrieben wurden. In der ersten Zeit wurde sich mit Information begnügt, aber schon bald Druck ausgeübt auf Unternehmen, die sich der Rüstungsfertigung verweigerten und weiterhin Zivilgüter herstellen wollten. Solchen Unternehmen wurde mit Stilllegung oder Enteignung gedroht. Auch über den Mangel an Rohstoffen, Treibstoff, Gas und Kohle, sowie Arbeitskräften wurden Unternehmen in ihren Entscheidungen beeinflusst. Arbeiter, die in keiner kriegsrelevanten Tätigkeit beschäftigt waren, wurden eingezogen. Firmen, die sich dem Rüstungskommando unterstellten, bekamen Unterstützung.

Die regionale Industrie wurde zum Mitläufer im kriegstreibenden Alltag des NS-Regimes, indem kaum jemand den Mut fand einen Handschlag mit der NSDAP abzulehnen, wie Konrad Adenauer es bereits 1933 getan hatte.

Auch Zwangsarbeiter wurden in der Region eingesetzt. In dem Rüstungstagebuch ist eine distanzierte Haltung zu der Einstellung dokumentiert. Es waren Fremde, die zum Arbeiten kamen und durchgefüttert werden mussten. In der Ausstellung „Friedliches Lüdenscheid?“ war auch der Holzkoffer eine Fremdarbeiterin zu sehen, mit der sie, vielleicht fünfzehn oder sechzehn Jahre alt, nach Lüdenscheid kam. Das historische Objekt wurde mit einem berührenden Brief gestiftet, indem eine Frau aus Lüdenscheid ihre Kindheitserinnerung an die Besitzerin des Koffers, Anuschka, schildert.

Fotonachweis: Jutta Rudewig/Lüdenscheider Nachrichten

Ob diese Anuschka aus der Ukraine wohl mal meinen Großeltern über den Weg gelaufen ist? Ich weiß es nicht, und werde es nie wissen, denn die Zeit ist zu schnell vorbei gegangen und mir keine geblieben, sie danach zu fragen. Und mein Großvater hat sein Unternehmen auch erst nach Kriegsende gegründet. Wie das möglich war, ist mit Sicherheit unspektakulärer gewesen, als ich es mir für den Roman überlegt habe. Es ist sogar sehr wahrscheinlich, dass diese Gründung sich in die Kontinuität des Lokalen einschrieb: aus einer Garage wird ein Fabriksen und daraus dann eine Fabrik. Was mal mit der Erzgewinnung anfing, wird zur Drahtherstellung, zu Knöpfen und von der Metallverarbeitung zu Verbindungsteilen für die Elektrotechnik. Vor kurzem bin ich bei der Recherchearbeit auf ein sogenanntes Grubentuch gestoßen.

An diese blau- oder graukarierten Tücher kann ich mich noch genau erinnern, sie hingen bei meinen Großeltern in der Küche, sie wurden im Fabriksken meines Opas gebraucht, wurden dort im Maschinenraum eingesetzt, genauso wie auf der Toilette. Das Grubentuch als Relikt und Metapher für die lange Dauer der Bergmannszeit in Südwestfalen, bei der aus der Eisensuche schließlich Eisenproduktion wurde und in der es immer einen Pott Jost gegeben hat und geben wird, jemand der aus sehr wenig eine große Erfindung macht.

 

 

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Heimat festhalten – die Wunderkammer von Holthausen – TEIL 2

‘Wir, die Überlebenden, sehen alles von oben herunter, sehen alles zugleich und wissen dennoch nicht, wie es war.’ W.G. Sebald, Ringe des Saturn

„Wer ist eigentlich dieser Heimat?“ – diese Frage stellte sich vor, während und nach dem Besuch im Westfälischen Schieferbergbau und Heimatmuseum in Holthausen. Einige unfertige und andeutende Gedanken schrieb ich schon in TEIL 1 dieses Versuchs über Heimat und Erinnerung und das Glück der Entdeckung.

Beim Gang durch die vielen, verschachtelten, mal luftigen, mal engen Räume, bei dieser Reise durch Volksfrömmigkeit und Religion, Jagd und Waldwirtschaft, durch Schieferbergbau und Industrie, Handwerk und am Ende sogar Kunst, sind es weniger die einzelnen Objekte, die erzählen, als das ganze Haus. Vor allem erzählt es von der Unmöglichkeit das Leben zu zeigen, wie es ist, oder war. Gerade in dieser Vergeblichkeit, die durch die schiere Masse an Objekten und Themen und Darstellungen nur noch deutlicher wird, darin liegt die Kraft und das Faszinierende. Nie weiß ich, was mich im nächsten Raum, am Fuss der nächsten Treppe erwartet, welches Licht, welcher Böden, welche Epoche, ob Vitrinen oder Bilder, Möbel oder Maschinen, welcher Teil der Geschichte aus dem Sauerland.

Romanmaterial und blinde Flecken
Elektrisiert arbeite ich mich von Raum zu Raum. Es ist genau, was ich liebe, egal ob in Literatur oder Film oder eben einem Museum: Fragmentierte, parallellaufende Erzählungen, durch winzige, höchstens erahnbare Linien verknüpfte Momente oder Artefakte – im Grunde bedeutungslos, aber durch den hinzugedachten Menschen, ein Lebenszeichen. Das sind Rufe aus der Vergangenheit – mal berührend, manchmal unverständlich, immer ein bisschen rätselhaft.

Jeder Weg zwischen zwei Räumen kurbelt an der eigenen Fantasiemaschine: Wer waren F. C. Selz und A. J. Wendler, zwei sauerländer USA-Auswanderer im 19. Jahrhundert, deren Namen allein schon für einen Thomas Pynchon Roman reichten. Fotos von Männern im Saloon der beiden in Canyon City, Oregon: Alle an einen langen Tresen gelehnt, alle ohne ein Lächeln, dafür mit mächtigen Schnurrbärten. Draußen der Witz von einer Stadt mitten im Dreck – wie das nächste Foto zeigt.
Wer war die kleine Elisabeth Schrewe, die nur zwei Jahre alt wurde, Anfang des letzen Jahrhunderts, wer hätte sie sein können und was erlebt? Ist „Kindersterben“ jemals Alltag gewesen? Was aus der Strickwaren Fabrik Solomon Stern ab 1936 wurde, ist bekannt, wenn auch hier nicht erzählt. Diesen ekligen, ausbeuterischen, räuberischen Teil des Nationalsozialismus gab es aber auch im Sauerland. Wenn der Hammer eines Schusters oder das Fernglas eines Jägers etwas übers Sauerland erzählen, oder ein Saloon in den USA und Tabakpflanzen in einer Vitrine die Vergangenheit greifbar machen sollen, dann doch eigentlich auch das Schicksal des größten jüdische Unternehmens, der Firma Salomon Stern mit 120 Beschäftigten.

Und plötzlich Kunst
Mitten im Museum, in Bauch und Brust des Hauses, residiert die Südwestfälische Galerie – eine Sammlung mit 7000 Werken ab dem 19. Jahrhundert, die „aus dem Sauerland stammen oder über die künstlerische Arbeit mit dem Sauerland verbunden sind“. Rund 150 Bilder werden durchgehend gezeigt und es gibt immer wieder Ausstellungen zeitgenössischer Kunst.
Die Dauerausstellung beginnt mit Selbstportraits. Passend, denn das ganze Haus ist im Grunde ein komplexes, unüberschaubares, widersprüchliches, inspirierendes Selbstportrait der Region. Es gibt Werke hier ansässiger und verzogener Künstler zu sehen, Skulptur, Malerei, Grafik. Auch hier wie im Rest des Hauses folgen die Werke keiner ausgearbeiteten Narration, sondern „Sauerland“ ist der weite, vielschichtige und assoziative Rahmen für alles.

Hach, Heimat. In diesem Museum jedenfalls sollen die Objekte nicht bloß eine „Storylinie“ illustrieren, sondern zeigen widersprüchliche, vereinzelte, befremdliche Objekte in einer räumlichen und zeitlichen Co-Existenz. Das Museum erzählt immer auch von der Welt, vom Leben, wenn es von sich selbst erzählt. „Erinnerung“ wird zum kreativen Prozess – ohne Anspruch auf Korrektheit, Vollständigkeit oder wissenschaftliche Nüchternheit – zu einer  wahren Wunderkammer. Hooked to Heimat. Dies war das erste, wird aber nicht das letzte Heimatmuseum für mich sein.

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Heimat festhalten – Die Wunderkammer – TEIL 1

„Lauter Buchstaben und Zeichen aus dem Setzkasten der vergessenen Dinge“, W.G. Sebald, Austerlitz.

Bremse ziehen, rechts ran, was ist DAS denn? Etwas oberhalb der Straße ein gigantischer, sicher 30 Meter hoher und 100 Meter breiter Schieferhaufen. Nein, vielmehr ein enormer Schieferschuttberg, wie die Ruine einer antiken Hügelgrabstätte, riesig, schwarz, glänzend. Im Sauerland wartet weiterhin hinter jeder zehnten Kurve eine Überraschung. Und der Hügel passt in doppelter Hinsicht: Ich bin auf dem Weg ins Städtchen Holthausen zum „Westfälischen Schieferbergbau und Heimatmuseum“.

Eine Herausforderung, wegen des – jedenfalls für mich – ambivalenten, unklaren, gern als Kampfbegriff verwendeten Worts „Heimat“. Soviel vorab: dieses Museum ist für mich ein Ereignis. Wie der Schiefer-Schuttberg bei der Anreise türmten sich beim Besuch bald Assoziationen, Fantasien, Erinnerungen und grundsätzliche Fragen über Heimat, Vergangenheit und museale Präsentationen übereinander. Dieses Haus ist eine Wunderkammer.

Der Blogtext in zwei Teilen ist mein bescheidener Versuch einen Weg auf diesen Hügel aus Gedanken zu finden – und vielleicht eine Aussicht.

Heimat ist fremd
Das Museum in Holthausen – ich gestehe – ist das erste deutsche Heimatmuseum meines Lebens. Heimatmuseum – das klang für mich piefig, national und provinziell. Bei mir kam eh immer nur Fernweh, nie Heimweh. Heimatmuseum, ob an der Nordsee, im Schwarzwald oder Sauerland, ist das nicht konzeptionsloser, konservativer Krimskrams mit handgeschriebenen Hinweisschildern? Ist das nicht eine Erd- & Schollenverbundheit, die mir fremd aber nicht Heimat ist? Heimat ist immer da, wo man liebt und lebt, dachte ich lang. Um dann – vermutlich eine dieser leidigen Alterserscheinungen – festzustellen: Heimat ist in einem, egal wo man hingeht. Sicher kann man sie auch woanders finden, irgendwo ankommen, weit weg von dem Ort, an dem man aufgewachsen ist. Allein, dann ist das die so genannte „zweite Heimat“.

Luftblasen aus der Tiefe
Heimatmuseum bedeutete bisher für mich einen Versuch, etwas zu konservieren, das allzu sehr im Fluss ist, etwas, das Interpretationen und erinnerungspolitischen Absichten unterworfen ist, die mehr mit dem Heute, als dem Gestern zu tun haben. Dazu, Heimat ist individuell und nicht kollektiv zu fassen. Sie besteht aus Erinnerungen und Gefühlen, Gerüchen und Familientraditionen, aus nostalgischen Anwandlungen und der eigenen Geschichte – die man ja selbst kaum korrekt und zusammenhängend erzählen kann.

Heimatmuseum bedeutet hingegen ausgewählte Alltagsobjekte meist namenloser Besitzer in Schaukästen mit einer zusammenhängenden Erzählung zu versehen und zu behaupten: So ist das hier. Die Menschen, die Geschichte machen, verschwinden hinter Gegenständen, die alles und deshalb nichts bedeuten können.
Ein Hammer, eine Schürze, ein Kruzifix, eine Stickerei, ein Tisch, ein Geweih – was erzählen die als Haufen von Zeug auf einem Flohmarkt? Und was bedeuten sie im Museum? Und wo sind darin die Menschen, die jeden Tag vor die Tür gehen, gut gelaunt, mies drauf, vorfeudig, traurig, gestresst, allein, mit Absichten und Unzulänglichkeiten? Heimatmuseum, Volksfest, Trachtenverein, Brauchtumpflege und Heimatfilm: allerhöchstens Luftblasen aus der Tiefe des kulturellen und biografischen Ozeans einer Region und ihrer Menschen. Oder?

In Fraktur
Das Grundproblem vieler historischer oder Heimatmuseen, die Auswahl und das Auslassen, fand ich gleich am Eingang zum Museum in Holthausen auf der „Historischen Tafel“ bestätigt, laut der die neuzeitliche Geschichte der Region so verlief:

„1929 bis 1933 Weltwirtschaftskrise, 1939 bis 1945 Zweiter Weltkrieg, 1945 Gründung der UNO, 1949 Konrad Adenauer wird Bundeskanzler.“

1933-39, Nationalsozialismus, Verfolgung und Vernichtungkrieg? Nö. Diese Haltung ist „Heimatschutz“ als blinder Fleck. Warum braucht „Heimat“ so verzweifelt eine Geschichte von Erfolgen und Siegen? Egal, denke ich, jetzt reingehen, wer weiß, wer diese Tafel in Frakturschrift angebracht hat und warum sie immer noch hängt – hoffentlich ist sie kein Motto für das, was mich drin erwartet, sondern selbst ein Artefakt vergangener Denk- und Schreibweisen.

Damaskuserlebnis
Dem Betreten der Räume, ich kann es nicht anders sagen, folgte sehr bald meine Bekehrung, mein Fall vom Pferd vor Damaskus. Ich bin schon im dritten Raum hellwach und begeistert. Der Rundgang beginnt recht unvermittelt mit Kunstwerken des sauerländer Bildhauers Eugen Senge-Platten und einigen Fotos von ihm, führt hinauf in Räume, wo in großen Glaskästen vor Fototapete drapiert ausgestopfte Tiere aus Wald, Wiese und Himmel erstarrt sind. In einer Ecke grobe Holzskulpturen, in einer anderen bunt bemalte Fensterläden mit der Geschichte einer Sauerländer Mörderin. Weiter geht es in Räume, die komplette Werkstätten von Schuhmachern, Druckern und dem untergegangen Handwerk des Stellmachers beherbergen. Dazwischen mal Fotos, mal Leuchtkästen, mal Arrangements zu Strickwaren, Tabak, zur Auswanderung in die USA oder zur „Holzwurst“. Kabinette mit Stubeneinrichtung und Totengedenkbildern, Urkunden von Dorfwettbewerben, Hinweisschilder, Fotoerklärtafeln über Holzwirtschaft und das Zimmer des Künstlers und Verkehrsamtsleiters und freien Mitarbeiter des Museums Leo Bittner.

Jedes Objekt, ob besonders, alltäglich, verständlich oder fremd, wurde bei meinem Rundgang Teil eines nicht fassbaren Ganzen. Da entstand Energie zwischen den tausenden Dingen und ihren unendlichen Geschichten in den vielen, verschachtelten Räumen. So kann ich Heimat glauben. Weil so Leben ist.

Ich verliere mich bald in den sich immer wieder auftuenden Räumen und Kabinetten, Themen und Gegenständen, ich schreibe, fotografiere, erinnere mich an Besuche im Sauerland als Kind, ich assoziiere so wild und durcheinander in Bildern und Worten wie Christoph Schlingensiefs Theater…. Und dann werde ich nur durch Zufall nicht im Haus eingeschlossen – was vielleicht das größte Abenteuer als Sauerlandschreiber hätte werden können. Vor dem Haus, an einem Sommerabend kann ich nur noch denken. Mehr davon!

„Es liegt einem auf der Zunge, wie hier Vogelfutter in der Fixierschale, Blumensamen neben dem Feldstecher, die abgebrochene Schraube auf dem Notenheft und der Revolver überm Goldfischglas zu lesen sind.“ Walter Benjamin, Das Passagen-Werk

ENDE TEIL 1

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