Zwischenruf: Schnipsel II

Auch die schönsten Regionenschreiberzeiten gehen einmal zuende. Und wenn man das Notizbuch kräftig schüttelt, fallen oft noch ein paar Krümel heraus. Die lassen sich dann mit leiser Wehmut sortieren. Letzte Plätze, letzte Sätze.

Wasserburg Haus Graven. Zwei kleine Kerle, die sich abgeseilt haben. Ihre Eltern trinken Bionade im Burgcafé, sie spielen an der Mauer Banküberfall. Der größere droht seinem Bruder, die Hand zur Pistole geformt: Gib mir 10.000 Euro! Der kleinere will schon in die Kasse greifen, als er den Notierenden sieht. Dann erstarren beide, blicken herüber, ob da einer den Raub verhindern will, oder schlimmer: Mit erwachsener Wirklichkeit pieksen in die Seifenblase Phantasie. Der Notierende schlägt einen Bogen. Da lädt der größere seine Pistole durch und zielt wieder: Aber ein bisschen plötzlich!

Wermelskirchen, Remscheider Straße. In der Kneipe sitzen sich zwei Männer gegenüber. Der eine trinkt Jägermeister und bestellt mit knappem Nicken beständig neue Runden. Vor dem anderen steht ein unberührtes Weizenbier. Das Bier leuchtet in der Abendsonne, doch seine Schaumkrone sackt langsam zusammen. Ein Schaumballen neigt sich dabei über den Glasrand und rutscht langsam das Gefäß hinab. Der Jägermeistertrinker verfolgt den Weg des Schaums bis zur Tischdecke, braucht ebenso lang, um wieder aufzusehen, und sagt zu seinem Gegenüber: Sch’glaub, dei’m Bier s’schlecht.

Bergisch-Gladbach. Alle Alpakas stolzieren auf der Weide umher und kauen Kamille. Nur das kleinste liegt abgewandt und blickt in die Ferne, als seien ihm die anderen peinlich. Als ein Futtertrog nahe des Stalls gefüllt wird, kommt Bewegung in die Herde: Grau, weiß, schwarz, und beige gescheckt, marschieren alle nach und nach hinüber. Nur das dünne Tier mit dem braunen Fell sieht weiterhin Richtung Horizont. Bis die Bäuerin über den Zaun steigt, es aufhebt und behutsam zur Futterstelle trägt. Im Vorbeigehen ruft sie: Es ist ganz lieb, ja, aber auch ganz furchtbar blind.

Kürten, Bergstraße. Die zwei Mädchen, die rauchend an der Ecke stehen und wild diskutieren – bis die eine einen 5-Euro-Schein aus dem Portemonnaie zieht und ihn der anderen hinhält. Die andere nimmt den Schein, kneift die Augen zusammen und reisst ihn mit spitzen Fingern entzwei. Sie hält die Hälften gegen das Licht und gibt sie zufrieden der einen zurück: Kannst du mit beiden zahlen, ich schwör.

Velbert, Haltestelle Schützenstraße. Die Bank ist lang und leer, doch der Alte setzt sich direkt neben den Notierenden. Fragt, ob man noch wüsste, wie ein Kuckuck klingt. Nein? Tja. Und ob man mal einen Zeisig gesehen habe? Zei-sig! Aha. Das habe es früher alles hier gegeben. Hier und hier und da auch. Und jetzt? Alles weg. Was man davon halte? Wie die Natur zugrunde gerichtet werde? Hallo? Er habe etwas gefragt! Das sei ja nun nicht zuviel verlangt, dass man antworte. Und man solle doch jetzt endlich das Ding abnehmen, diesen Mundschutz. Was studiere man überhaupt?

Burscheid, Am Markt. Die Straße kommen in dieser Reihenfolge entlanggefahren:
ein tiefergelegter Fiat Punto in hellblau, der neben dem Café auf Schrittgeschwindigkeit verlangsamt, durch die herabquietschende Scheibe einen Schwall Nikotin und Rasierwasser entlässt, sowie ein aufforderndes Gröhlen in Richtung der pikierten Kellnerin.
ein alter Mercedes, silbergrau, von Technobeats geschüttelt, so dass ihm alles offen steht, die Welt, die Fenster, der Mund des Fahrers, die Beifahrertür.
ein Fahrrad, grün, samt einem dünnen Mann im Anzug darauf, der die Herausforderung angenommen hat, würdevoll einen Helm mit aufgedruckten Delphinen zu tragen.
ein Bollerwagen mit zwei Mädchen darin, die ungläubig großäugig der Freiheit entgegenholpern.
ein bunt besprayter Golf GTI, auf dessen Kühlerhaube ein Plüschhase gefesselt wurde.

Erkrath, Neandertal. Der Vogel, der durch das Fenster hereinfliegt und durch das andere nicht wieder hinaus. Der stattdessen gegen die geschlossene Scheibe prallt, Federn lässt, sich mit großem Radau unter das Sofa flüchtet. Von dem der Notierende panisch aufspringt, aufgeschreckt umherhastet, die Fenster sperrangelweit aufreisst, sich schließlich ratlos in einer Ecke verschanzt. Bis der Vogel, als ihm die Gelegenheit günstig scheint, wieder unter dem Sofa hervorschießt, Beleidigungen zwitschert und durch das nunmehr offene Fenster türmt.

Mehr von Tilman Strasser

Zwischenruf: Schnipsel

Als Regionenschreiber ist man ja oft auf der Jagd. Nach DEM Satz, der wirklich etwas von der Umgebung erzählt, DEM Moment, in dem Menschen etwas offenbaren. Die Jagd macht müde. Deshalb setzt man sich. Und wenn man dann sitzt, ereignen sich Satz oder Moment manchmal völlig unvermittelt. Viel öfter noch ereignet sich gar nichts. Und am häufigsten ein Weder-Noch, das erstaunlich dringend aufgeschrieben sein will. Verstreute Notizen.

Blecher, Talweg. Zwei Jungs in Jeansjacken, die mit Fingern auf das staubige Fenster eines verlassenen Hauses malen. Sie kichern sich zu, der eine vollendet sein Werk mit gekünsteltem Schwung, während der andere ihn vor Aufregung zu boxen beginnt: Schnell, mach schnell! Ihre Gelfrisuren glitzern in der Sonne, endlich ist der größere fertig, sie sprinten los, noch im Rennen platzt Gelächter aus ihnen, ein Kieselstein springt ins Gebüsch. Auf dem staubigen Fenster ein Herz, darin steht: Anna + Nils.

Solingen, Hügelstraße. Die Katze, die den Notierenden mustert, gemessen an ihm vorbeischreitet, noch den Kopf dreht, als sie fast schon an der nächsten Ecke ist, als bliebe sie zu gern auf ein Schwätzchen, würde aber leider dringend andernorts gebraucht.

Remscheid, Am Bahnhof. Vor dem Schaufenster sprechen zwei Mädchen über die darin ausgestellten Handyhüllen. Sie zeigen auf einzelne und lachen schrill und sind sich einig, dass sie süß oder fake oder voll eklig sind. Ein junger Mann tritt aus dem Laden und beschäftigt sich abschätzig mit seiner Zigarette. Er raucht ein paar Züge, die Mädchen mustern ihn. Als er fast fertig geraucht hat, geht er kurz ins Geschäft und kommt mit einer der Handyhüllen aus dem Schaufenster wieder. Er geht zu dem linken der beiden, die etwas längere, glatt-glänzende Haare hat, und sagt: Schenk ich dir. Das Mädchen sieht auf das Produkt hinab, ein Gummilappen mit Flausch, dann sieht es die Freundin an, mit Wimpern, so schwarz und lang, als könnten sie Entschuldigungen zufächeln. Sie fächelt, flüstert fast: Ey, ich hasse die Farbe.

Hochdahl, Hildener Straße. Der BMW, goldbraun, fabrikneuer Glanz, der an den Straßenrand rangiert, als handele es sich um eine denkbar knappe Parklücke (obwohl weit und breit kein anderes Auto steht). Der Mann, der aussteigt und sich Staub von der Kleidung wedelt, er wedelt an sich hinunter, hinauf, noch einmal hinab. Kein Körnchen zu sehen. Dann schließt er die Tür, worauf der Kofferraum aufgleitet, welchem er eine Yogamatte entnimmt. Der Kofferraum gleitet wieder zu, und nach beiden Seiten winkend gehen Mann und Matte ab.

Mettmann, Jubiläumsplatz. Auf der Bank einer Bushaltestelle ein junger Mann mit raspelkurzen Haaren, daneben ein hagerer alter mit ballonseidenem Trainingsanzug. Der junge erzählt, dass er nicht mehr jeden Tag Bier trinken könne, am Jubi, dass er auch mit dem Scheiß aufhören müsse, dass er die Bude aufgeräumt habe, dass die Sachbearbeiterin ihm ein Merkblatt mitgegeben habe, ein Merkblatt, sagt er, an das er sich halte. Er spricht von Perspektive und dass er diesmal durchziehen wolle, er wiederholt, durchziehen, er fügt hinzu, er habe jetzt ein paar Jahre die Zügel schleifen lassen, aber das sei nicht das Ende der Welt. Der alte trinkt Bier und nickt und trinkt und raucht und trinkt und nickt und unterbricht und fragt: Haste noch eins?

Odenthal, Johann-Heck-Straße. Ein Mann mit karierten Hosen stampft aus der Tür. Er blickt um sich, dann läuft er auf einen Wagen zu, packt den Griff, rupft aus dem Inneren ein Päckchen Zigaretten. Er steckt sich eine an, pafft drei Züge, hält dann die Luft an und blickt in den Himmel. Als er den Rauch wieder auspustet, ist kaum mehr etwas davon zu erkennen, als hätten sich die Schwaden in seinem Inneren abgesetzt. Zufrieden hustet er zweimal.

Grund, Grunder Schulweg. Eine Frau mit metallisch gewellter Frisur beugt sich über ein Hochbeet voller Salatköpfe. Mit einem Schäufelchen stochert sie vorsichtig große Radien um die Pflanzen herum. Dabei spricht sie in beruhigendem Ton auf die Blätter hernieder, als müsste sie Pferde bändigen, zärtlich reibt sie einen Lollo rosso zwischen den Fingern. Als sie den Beobachter bemerkt, hält sie die Luft an, dreht dann ruckartig den Kopf und führt ihr Gespräch fort wie nach unterbrochener Verbindung.

Mettmann, Goldberger Mühle. Zwei Gestalten waten ans Ufer des Bachs durch den zähen Moorschlamm Routine. Sie sind mit Fremdheit aneinander gebunden, wie das nur Vater und Sohn gelingt. Der Vater trägt Latzhose und einen Pullover mit greller Aufschrift, der Sohn Baseballkappe und darunter fettiges Haar. Am Rand des Wassers angekommen, zücken sie Angelruten und entfernen sich voneinander. Eine Gruppe Enten gleitet tuschelnd davon. Der Sohn wirft die Angel aus, lässt sie zurücksurren, sein Blick milchig vor Pubertät. Wenn der Vater ihm etwas zuruft, unverständliche Silben, dreht er sich mit einer Schwere um, in der Verzweiflung über die Existenz des Elternteils aufglimmt, sie scheint ihm selbst vor dem Beobachter peinlich zu sein. So angeln sie beide eine halbe Stunde lang, gehen ein paar Schritte hin, ein paar her, achten darauf, einander niemals zu nahe zu kommen, keiner fängt einen Fisch. Dann nickt der Vater dem Wasser zu. Er tritt den Rückzug an, der Sohn folgt ihm, ihre Ruten tragen sie auf der Schulter. Die Enten haben sich in der Mitte des Bachs versammelt, das Schnattern eingestellt, sie blicken den beiden staunend hinterher.

Erkrath, Neandertal. Wie ich das Handy an den Computer anschließe, um rasch ein paar Bilder von meinen Ausflügen auf die Festplatte zu ziehen. Wie es mir entgleitet, zwischen die Sofakissen rutscht und auf dem Boden aufschlägt. Wie ich es an seinem Ladekabel vorsichtig wieder aus dem vergessenen Reich unter dem Polstermöbel hervor bugsiere, vorbei an Beinen, über Teppichkanten hinweg. Wie ich es schließlich hervorziehe und mich das Display anblinkt, staubig und staunend wie ein erwachtes Kind.

Mehr von Tilman Strasser

Von Mikroskopen und wirklich wichtigen Dingen

In der Rankestraße 4-6 in Erkrath steht eine Schule, das Gymnasium Hochdahl um genau zu sein. Eine Schule wie jede andere, eine auf dessen Internetseite Bilder von Jugendlichen sind, die an Mikroskopen sitzen oder an der Tafel stehen, die lachen und Tag für Tag das eigene Wissen der Körpergröße anpassen. Doch was sich am Montag dem 3. Juli dort abspielt, steht der Bildungsrelevanz des regulären Lehrplans nichts nach, ganz im Gegenteil. Denn an diesem Tag stehen in der Aula drei Männer auf der Bühne, die Eindrücke hinterlassen werden, welche man durchs Pauken nicht gewinnen kann. Im Rahmen des internationalen Theaterfestivals «Neanderland Biennale 2017» inszenieren die drei Schauspieler Matthias Kuchta, Laurant Varin und Zbyszek Moskal ein Stück namens «Papas Kriege», das im Kern auf Feldpost und Tagebucheinträgen ihrer Landsleute, nämlich deutschen, französischen und polnischen Soldaten im Ersten und Zweiten Weltkrieg, basiert. Rhapsodisch und unter Einsatz bewegter Bilder, sowie Musik, thematisieren diese drei Schauspieler gleichermaßen minimalistisch wie imposant nichts geringeres als Europa und den Krieg.

Gleich zu Beginn wird dem Zuschauer ein zentraler Kontrast deutlich: Gemeinsamkeiten und Unterschiede. Alle drei tragen weiße Hemden und Jeans, der deutsche mit Gürtel und adrettem Schuhwerk, der Franzose eine 3/4 Jeans und insgesamt legerer gekleidet. Als der Deutsche am Aufbau eines Campingtisches scheitert, scheinbar für ein gemeinsames Picknick, zieht er für seine zwei Kompagnons obligatorische Grenzen aus Kreppband; vergeblich. Unter Jauchzen werden diese übersprungen, ein Spiel entfaltet sich, man tanzt und der kurz darauf ausbrechende Streit wird durch den Schnaps, den der Pole aus der Tasche zieht zunächst beigelegt, bricht gleich wieder aufs Neue aus. Gemeinsamkeiten und Unterschiede eben.

«Die Polen stehlen», «Die Deutschen sind Nazis» und «Die Franzosen sind verniggert», werfen sie dem Publikum nacheinander entgegen. Wer jetzt nicht über seine eigenen Stereotype, gerne auch die unbewussten, nachforscht, dem ist vielleicht nicht mehr zu helfen. Diese kargen, hasserfüllten Worte schweben noch wie ein schmutziger Schleier im Raum als die Drei bald darauf entspannt am Boden liegen und sich einander ihre Träume zuwerfen. Nicht irgendwelche Träume, unter Seufzern verlautbaren sie sich gegenseitig die Namen dieser Träume, «Eva», ruft der Pole, es folgen «Bernadette» und «Annegret».

Immer wieder schwankt die Stimmung dieses Stückes und der Protagonisten zwischen Einigkeit und Twist, doch die Gemeinsamkeiten überwiegen, namentlich die Liebe, das Lachen, der Tanz, aber auch die Angst und die Trauer. Denn während der Eine an der Front vergeblich auf Post seiner Frau wartet, versteckt sich der Andere vor den Bomben und letzterer hat einfach nur Durst. Durch die Authentizität in höchstem Maße ergreifend, sprechen die drei Künstler in den Stimmen von Menschen, die doch viel mehr teilten, als sie trennte. Subtil und brachial zugleich werden hier die einfachsten, urmenschlichsten Dinge vor dem Hintergrund des vielleicht komplexesten, bestialischsten portraitiert; dem Krieg.

Mit breiter Brust fordert der Deutsche nun Respekt für sein Volk und rechtfertigt dadurch den Krieg. «Unser Volk zuerst mit Gottes Segen», schließt die Ansprache. Nein, hier wird kein Soldat im Krieg zitiert, ungefähr so stand es jedoch im Buch «Mein Kampf».

Die Ähnlichkeit zum derzeitigen Protektionismus vom ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán oder Sebastian Kurz, dem österreichischen Bundesparteiobmann der konservativen ÖVP, schockiert. Es ist traurig aber wahr. Gebetsmühlenartig wird ein und derselbe populistische Jargon auch heute noch über jede Vernunft hinaus nicht nur gepredigt, sondern gewählt. Spätestens als Szenen des Flüchtlingsbusses von Clausnitz eingespielt werden, «Wir sind das Volk, wir sind das Volk», jeder kennt die verstörenden Bilder, ist die Aktualität dieses Stückes nicht mehr zu verkennen und die Luft in Millionen kleine Teile zerschnitten, der Kloß im Hals schwer, die Augen feucht.

Das Stück ist vorbei und die Künstler sitzen am Bühnenrand, offen für Fragen und selbst bereit dem überwiegend jungen Publikum fragen zu stellen.

«Europa ist eine Chance zum anders sein, ist Vielfalt», sagt Kuchta. Eine Weile wird über Krieg gesprochen, über Europa, persönliche, familiäre Schicksale werden ausgetauscht und man ist gemeinsam betroffen.

In der Rankestraße 4-6 in Erkrath steht eine Schule, in der am 3.7.2017 weitaus mehr gelernt wurde, als an Mikroskopen oder an der Tafel gelernt werden kann. Denn während in Europa verzweifelt um Einigkeit und Zusammenhalt gerungen wird, wurde hier mit einfachsten Mitteln hinterfragt, ob wir zwischen «uns» und den «anderen» überhaupt unterscheiden können.

Das einzig Üble: Es war die letzte Vorstellung in Deutschland.

Vielleicht ist dies jedoch lediglich eine Chance für Sie unsere polnischen Freunde und Nachbarn kennenzulernen. In Polen, oder besser, im polnischen Teil Europas, wird das Stück noch aufgeführt.

Matthias Kuchta, Laurent Varin & Zbyszek Moskal

Hier finden Sie die Künstler Matthias Kuchta und Zbyszek Moskal

Bis zum 23. Juli haben Sie die Möglichkeit, mitreissende Vorstellungen von Künstlerinnen und Künstlern aus Frankreich, Polen und Deutschland zu besuchen. Lassen Sie die Neanderland Biennale 2017 nicht ohne eine Besuch vergehen.

Mehr von Dimitri Manuel Wäsch