Alles aus einem Topf

Nicht nur die Südwestfalen aus meiner Geschichte im Beitrag Zur Soziologie der Mahlzeit träumen von Paris, von Austern und Champagner. Der Germanist und Schriftsteller Hans-Josef Ortheil erzählt in seiner Hommage für Roland Barthes, wie er sich letzteres in einer Pariser Brasserie bestellt. Dies geschieht in der elsässischen Brasserie Bofinger, in der Barthes selbst weder Austern und Champagner, sondern Bier und Sauerkraut zu sich genommen hat.

Ortheil reflektiert über diesen Regressmoment des französischen Philosophen, der mit dem Verzehr von Speisen und Getränken, die an seine Herkunft anknüpfen, in die Ursprungskammer der Lebenslinien begibt. Diese Kammern, denen man seine Existenz verdankt.

In der Liebe zur Brasserie ist also nichts anderes als eine atavistische Neigung zu sehen, eine Rückkehr zu den Wurzeln, ein sich Fortträumen in Kindertage, an denen sich das Kind bei den Großeltern an den Tisch setzte.

Auch ich befinde mich in den von Ortheil beschriebenen atavistischen Zustand, als ich Sylviis „Tischlein deck dich“ in Altena das erste Mal betrete. Ein in sich geducktes Fachwerkhaus, ein Lokal wie ein Wohnzimmer, die Tische mit feinen Tischdecken gedeckt, der Geruch von gekochten Kartoffeln, Kohl und Fleisch, ein lächelndes Gesicht hinter der Theke.

Das kleine Restaurant von Sylvia Schmerder wirkt wie ein Lichtfleck im Trist der Arbeiterstadt, die sehr große Abwanderungszahlen zu verkraften hat. In der es Tradition war, dass die Männer in den Kneipen nach dem Schaffen noch was trinken gingen, damit die Frauen sie dann nach Hause holten, bevor der ganze Lohn an der Theke blieb. Dabei wirkt Altena gar nicht so grau und trist, wie sein Ruf.

Die Fahrt durchs Rahmedetal ist sehr schön. Die zwölf Kilometer am Fluss entlang fühlen sich an, als jage mein Wagen durch ein aufgeschlagenes Geschichtsbuch, eine Zeitreise rückwärts. Am Ufer liegen rostige Fabrikgebäude, man könnte meinen, sie wären den Bildern von Bernd und Hilla Becher entflohen, aber dann würde man völlig übersehen, dass hier schon vor tausend Jahren Menschen Eisen und Draht herstellten.

Der Fluss hier hat ältere Geschichten zu erzählen, von drehenden Rädern, die die Blasebalge der Schmiedefeuer und die Fallhämmer in Gang brachten, um das Erz, das aus den Bergen Südwestfalens geschürft wurde, zu schmelzen und zu Eisen zu verarbeiten.

Wovon mögen sie sich wohl ernährt haben, die Schmiede, die sich dort bereits seit dem Mittelalter auf das Drahtziehen spezialisiert hatten? Ihnen diente als Nahrung das, was in der Region zu finden war, der aus dem Mittelmeer eingewanderte Kohl, die aus Amerika kommende Kartoffel, Karotten und das Fleisch vom Hof oder aus den Wäldern.

Landwirtschaft war niemals primärer Produktionssektor der Region, hier wurden von den Männern die Metalle aus den Bergwerken geschafft, während die Frauen Kinder, Haus und Hof versorgten, gemeinsam wurden die Felder bestellt, das Nötigste eben, was zum Leben gebraucht wurde, der Kosmos des Alltags reduzierte sich auf Arbeit, Familie, Nachbarschaft. In dieser Reihenfolge. Und so ist es heute noch.

Die Zeit ist stehen geblieben in Südwestfalen, was vor allem auch daran liegt, dass sie hier niemals gezählt wurde. Als um Dortmund und Essen noch Äcker standen, gab es hier bereits eine frühe Form der industriellen Produktion, und die Industrie gibt es heute noch. Die Region passt sich an, sie produziert immer weiter, ohne davon viel Aufheben zu machen.

Ernährung gehört zu den menschlichen Grundbedürfnissen. Aber Essen, so die Sozialanthropologin Mary Douglas, beinhaltet auch immer eine soziale Botschaft. Es erzeugt Nähe und Distanz, ist Faktor der Inklusion, genauso wie der Exklusion. Und das Lokale ist in der Region wichtig.

„Ohne das“, meint auch Sylvia Schmerder, „ginge es hier gar nicht.“

Die Herkunft spielt eine wichtige Rolle im Verständnis der Menschen. Was der Südwestfale nicht kennt, frisst er nicht? Nicht wirklich, denn die Gerichte im „Tischlein deck dich“, sind zwar vom Lokalen inspiriert, weisen aber eine hohe Qualität auf. Regionale Küche der haut de gamme, sozusagen. Doch es findet keine soziale Hierarchisierung statt. Für Sylvia Schmerder es wichtig ist, alle Menschen in Altena mit ihrer Küche anzusprechen und zu erreichen und so passt sie auch ihr Angebot an die unterschiedlichen Bedürfnisse an.

„Alles in einem Topf“, ist nicht nur ein sehr beliebtes Gericht bei ihr, sondern auch Devise. Überhaupt sind Eintöpfe in der Region sehr beliebt.

Denn sie ist sich bewusst darüber, dass der Stand der Bürger im Teller abzulesen ist, Wirsingroulade für die Reichen, Weißkohlroulade für die arme Bevölkerung. Nicht nur in Indien ist die Nahrung ein Marker für die Positionierung in der gesellschaftlichen Hierarchie. Mahlzeiten, so Mary Douglas, haben auch immer eine ordnende Funktion.

Foto: Dirk Vogel

Im Tischlein deck dich gibt es für alle etwas und alle werden auf dieselbe freundliche Art bedient. Kartoffeln in allen Variationen, über Püree zu Reibeplätzchen bis zum Salat. Leberkäse, Mettwurst, Fleischwurst, Bockwurst, Rind, Kalb, Wild. Alles kommt in den Topf und auf die Teller.

Für Sylvia Schmerder ist Toleranz sehr wichtig. Alle sollen bei ihr satt werden. Und so gehören auch die köstlichen Torten und Kuchen, die sie selbst macht dazu. Überhaupt, macht sie alles selbst.

Die Kartoffeln werden abends geschält und eingelegt, genau wie die Brötchen für die Bouletten. Ab morgens früh steht sie in der Küche um mittags ihre Gäste zu bedienen. Sie serviert täglich zwanzig Gedecke, plus den Mahlzeiten zum Abholen. Bei Sylviis gibt es übrigens kein Einweggeschirr. Wer nicht seine eigene Tupperware oder Kochtopf zum Abholen oder Mitnehmen mitbringt, dem wird ein Topf zum Mitnehmen ausgeliehen und das ohne Pfand. Für die Gründerin ist das Restaurant wie eine Großfamilie, die sie täglich versorgt.

Es ist ein modernes Ein-Frau-Unternehmen und gleichzeitig eine lokale Fortsetzung der Region vertrauter Traditionen. In der zwar noch die traditionelle Arbeitsteilung vorherrscht, mit dem Mann auf der Arbeit, der Frau im Haus, die doch auch nur wieder die große Leistung der Frauen für die Gesellschaft verschleiert. Das Los der Care-Arbeit, verkannt und missachtet. Sylvia Schmerder steht als Gründerin allein hinter der Theke, sie bedient, kocht und macht den Abwasch und den Einkauf selbst.

Früher, erzählt sie, hatte ihre Familie noch den eigenen Garten und die Selbstversorgungskultur der Großfamilie sie entscheidend geprägt.

Auch Roland Barthes entdeckt, wie Mary Douglas, in der Ernährung eine Art der Kommunikation. Ein sozialer Code, der sich entschlüsselt indem er wie ein Zeichensystem dechiffriert wird. Essen ist Mythos des Alltags und transportiert sich im kulturellen Gedächtnis.

Die Selbstversorgermentalität ist den Südwestfalen geblieben, doch auch hier wurde sich angepasst. Statt des eigenen Gartens, wird die lokale Küche bevorzugt.

Meine Mutter hat auch oft von dem Garten ihrer Eltern gesprochen und auch sie hat für uns Kinder aus ihrem eigenen Garten gekocht. Eigentlich hatten fast alle unsere Nachbarn einen. Wenn ich hier Garten schreibe, dann dürft ihr euch nicht ein paar Tomatenstauden und Erdbeerbüschel vorstellen, wie man das heute so aus unseren Vor- und Stadtgarten kennt.

Sondern Salat-, Karotten- und Kartoffelfelder, Kräuterbeete, Tomaten und Paprika, Zucchini, Gurken, eben alles was eine gute Küche so braucht, dazu Rhababerfelder, Stachel-, Him- und Blaubeeren. Apfel-, Birnen- und Kirschbäume.

Ein richtiger Garten eben, zu dem auch Hühner gehören und Schafe, Ziegen, vielleicht sogar Bienen. Mit selbstgemachter Marmelade. Nachhaltigkeit ist in der Region von langer Dauer und keine Modeerscheinung.

Das alles gehört der Vergangenheit an, für Hühner hat heute kaum noch jemand Zeit. Aber bei Sylviis kann man sie noch schmecken. Um einen solchen Garten zu halten, müssen mindestens drei Generationen unter einem Dach leben und zusammenarbeiten. Doch dem steht der große Bevölkerungsschwund eben im Weg. Es fehlt an Kulturangeboten, damit die Region attraktiver wird und zum Bleiben einlädt. Dabei gehört Sylviis Tischlein deck dich definitiv zu einem gehobenen kulturellen Angebot, doch nur, wenn dies aus der richtigen Perspektive betrachtet wird, wenn sich bewußt gemacht wird, dass auch Roland Barthes sich gerne Avitarismus hingab, dass daran nichts negatives ist, neben Austern kann auch Sauerkraut und Kohl bestehen, wie bei der Brasserie Bofinger in Paris.

Sylvia Schmerder, die Gründerin von Sylviis Tischlein deck dich

Foto: Dirk Vogel

Bei ihr werden alle satt, und es schmeckt ganz wunderbar.

Foto: Dirk Vogel

Wenn Corona vorbei ist, dürfen wir uns auf köstliche Kuchen freuen.

Foto: Dirk Vogel

Zur Zeit leider, wegen der Coronakrise geschlossen, doch hoffentlich bald wieder offen!

Die Bilder im Beitrag sind von Dirk Vogel, ganz herzlichen Dank!

 

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21:51 Uhr, Essen PACT Zollverein

In den Mulden liegen Seifenreste, fein trapiert für Staunende. Sauberkeit als sinnliches Moment, weißkachelige Emotionen – ein Ort für Menschen ohne Makel, weiche Haut und fließenden Bewegungen. Im Aufführungssaal wird Kontrast gewollt: absolute Dunkelheit, bizarre Schreie, Reenactement am fremden Leib. Eine Verausnahmung des Körpers, des Frauseins, der Witz damit und Brüste, die, schmerzhaft rotierend, Bezüge aushebeln wollen – aber so ganz gelingt es nicht; selbst darin sind die Menschen schön.

Der Weg nach draußen wird fast zur Flucht, eine Flucht aus dem ästhetisch Perfekten, aus der weißfarbigstrahlenden Reinheit. Einkacheln könnte man sich hier, der Wille ist stark, die Umgebung natürlich – aber man selbst? Schweiß, Schmutz, schwarze Gedanken. Was auf der Bühne heraufbeschworen werden wollte, wird nie wirklich ankommen in dieser Welt, nur noch namentlich bekannt als Waschkaue. Die Reinkarnation ist bereits vollzogen, egal, wie oft Canaille gerufen wird.

Wie traurig das Aufatmen nach dem Verlassen des schönsten Ortes, die unbedingte Suche nach dem alltäglichen Kontrast. Der auch eintritt, unmittelbar: In einem matt-grauen BMW vor dem Eingang sitzt ein Mann, der bei heruntergelassenem Fenster Clubmusik hört, dabei nervös mit dem Kopf wippt, während – filmisch perfekt – weitere sechs Männer um die Ecke kommen, Bauarbeiterhelme und Sicherheitswesten tragen, und an dem fein gekleideten Premierenpublikum vorbeigehen. Niemand schaut, jeder ist für sich in seiner Gruppe und doch berühren sie einander. Das ist Schönheit. 21:58 Uhr


Waschkaue

Umkleide- und Waschraum auf einer Zeche. In der Regel besteht eine Waschkaue aus zwei etwa gleich großen Räumen, der Weißkaue und der Schwarzkaue. In der Weißkaue kam die Straßenkleidung der Bergleute unter, in der Schwarzkaue die Arbeitskleidung. Entsprechend kann man sich den Sauberkeitsgrad der Körper der Bergleute (vor der Schicht, nach der Schicht) vorstellen.


>PACT Zollverein<

Das choreographische Zentrum in der ehemaligen Waschkaue von Zeche Zollverein: PACT Zollverein in Essen. © Axel Hartmann
Das choreographische Zentrum in der ehemaligen Waschkaue der Zeche Zollverein: PACT Zollverein in Essen. © Axel Hartmann
Seit Anfang der 1990er Jahre wird die ehemalige Waschkaue der Zeche Zollverein als Aufführungsort für zeitgenössischen Tanz genutzt. Es ist das choreographische Zentrum NRWs, und das merkt man auch. Toller Ort, tolle Atmosphäre – und gute Stücke. Bei meinem Besuch habe ich die Uraufführung aus der Monument-Reihe von Eszter Salamon gesehen: „Monument 0.5: The Valeska Gert Monument„, eine historisch-empirische Aufarbeitung des Lebens der avantgardistischen Tänzerin und Kabarettistin Valeska Gert (1892-1978). Foto Titelbild: Ursula Kaufmann

 

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03:16 Uhr, Handy Lampe Boden

Keine Erinnerung verdrängt die Nacht.

Es regnete, und es regnete nicht. Feuchte Paletten und beige-braune Duschvorhänge vor Klospülungen, derbe Wassermotive. Aus den Containern elektronisches Wummern. In der Handynotiz steht „03:16 Uhr Handy Lampe Boden“. Es muss eine Geschichte dazu gegeben haben. Sie wurde mit der Notiz auserzählt. Ich möchte sie füllen, mit weiteren Notizen, bei denen es keiner weiteren Ausführung bedarf.

Etwa Stunden zuvor in der Kokerei Zollverein. Literaturgestalten bei Burger und Bier. Auf 23:34 Uhr terminiert, der Eintrag:

Gegenüber von Robert Menasse sitzen und Robert Menasse nicht erkennen, sich aber fragen, warum der Mann ein Buch von Robert Menasse vor sich liegen hat. Kurze Zeit später darauf hingewiesen werden, dass es sich bei dem Mann um Robert Menasse handelt. Robert Menasse aus Höflichkeit fragen, wie seine Veranstaltung war. Auf seinen Satz: „Woher soll ich das wissen? Das kann ich ja schlecht einschätzen“ antworten: „Also bitte, haben Sie denn keinen persönlichen Eindruck?“ Eine Schriftstellerfreundschaft wird das wohl eher nicht.

Vorgespult, Tage später, Nachtrag:

22:28 Uhr Als ich einmal Robert Menasse traf, den ich nicht als Robert Menasse erkannte und der dann drei Tage später mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet wurde.

Zurück zur Nacht:

04:45 Uhr Die rechte Hand hebend, Handinnenflächen, -außenflächen im Wechsel drehend, seltsamer Move, ist das schon politisch? Der Boden hart wie Stein und Krümel von Zerbrochenem

Absatz (wahrscheinlich auch zeitlich):

Nebel, Rauch, plötzlich wieder Gesagtes

Und gestückelt, in den Wochen zuvor (Auswahl):

21:40 Uhr Dauergeweitete Pupillen und zorniger Zynismus

08:57 Uhr Nach drei Monaten alles sehen wollen, laufe ich nun an den Dingen vorbei.

22:56 Uhr Hornby sitzt mit BVB-Schal da, halb Jubel-, halb Buhrufe, Typ neben mir schläft, zu viel Fußball, Arsenal, obsessions or passions, Have you a clue about women now?, Hornby, der „Männererklärer“

21:25 Uhr Ab Dortmund: Iserlohn, 17:23 Uhr Gleis 3 oder ab Gelsenkirchen: 16:29 Uhr, Gleis 6, umsteigen in Dortmund auf den 17:23er. Zurück: 21:51 oder 22:51. Klempner anrufen

17:24 Uhr Eving, Brechten, Brambauer: Je weiter es raus aus dem Dortmunder Stadtgebiet und rein in die einst angelegten Arbeitersiedlungen geht, desto mehr Menschen stehen an offenen Fenstern. Postindustrielles Romantik-Motiv?

Ist postindustriell der richtige Begriff oder klingt es nur gut?

14:44 Uhr Wenn du dich an einen anderen Ort wünschst: Wer willst du dort sein?

21:55 Uhr Rosa Kotze

20:26 Uhr … und dann erschüttert es mich, dass es dunkel ist draußen.

21:51 Uhr – ist, glaub ich, Fußball, kein Sex

 


>Die Katze Erinnerung<

Nachts; Hof. ©mhu
Was war und was ist? Und was will Wirklichkeit? Manchmal ist es auch gut so. Für den Rest gibt es die Notizfunktion im Handy.  ©mhu

 

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19:03 Uhr, lit.ruhr VA29

Das Gefühl ist groß, Bewegungen bleiben eingeschränkt, verzweifelt quillt die Emphase aus den Augen der Gedrängten. Noch im Rausch der Überhitzung wird Zorn gekauft, wie viel, wie viel, jetzt sagen Sie doch mal: wie viel? Aufregung sticht in den Fingern – da! Einband gerissen, ach, ärgerlich. In solchen Momenten gehen Leben zu Grunde. Schieben, warten, halten. Sitzt da Baselitz? Wo ist Kluge? Ich hab hier ’nen Kunstdruck, schon lange, den müssen Sie mir signieren!

Base
litz

Auster
litz

Die Litze. Geht es auch um Helden, Tyrannen, Übermenschen? Um die „Stunde, in der das ‚Ich‘ entsteht“?* Ach nein, um Schmutzseiten, vielleicht.

Heute fühlt es sich anders an. Papier, Geduld und das Buch nah am Herzen. Kluge?
Alte Körper drücken weich, das Stehen im Pulk ist ein unabweislicher Kommentar auf die Menscheitsgeschichte.
Etwas fällt, Köpfe senken sich. Nach unten.
Von unten.
„Strategie von unten“?**

Unten ist der Boden so nah, da ist der Boden Boden aus sich heraus.

„Ich wusste immer, dass es Sie gibt“, hat er zu ihm gesagt, die Hände gedrückt, dann den Zeigefinger gehoben: jetzt Puccini, jetzt Seite 96, jetzt. Aber jetzt steht er in der Tür, will nach links, wird nach rechts geschoben, sanft. Der Blick wirkt verwaschen, in Gedanken an das gerade Gewesene. Geräuschlos setzt er sich neben den routiniert signierenden Künstler. Ein Automatismus, dem Kluge noch nicht beigekommen ist. Kurz wird hier unterschrieben, dort. Eigentlich gehört er nicht an diesen, er gehört an einen Schreibtisch, einen Arbeitstisch. Umgeben von Büchern, Zeichnungen, Notizen, Musik. „Ohne Musik ist alles Leben ein Irrtum.“

Wir schauen uns an,
wir sind uns nicht sicher.

Momente, die vergehen. Momente, die bleiben. Ich nehme einen Namen mit. 19:07 Uhr

 


*Kluge, Alexander: Die Stunde, in der das ‚Ich‘ entsteht. In: Alexander Kluge: Das Labyrinth der zärtlichen Kraft. 166 Liebesgeschichten. Frankfurt a.M.: Suhrkamp Verlag, 2009. S. 23f.

**Kluge, Alexander: Der Luftangriff auf Halberstadt am 8. April 1945. Frankfurt a.M.: Suhrkamp Verlag, 2008.

„Das Problem ist, daß uns eines von Fontane trennt, neben dem vielen, was uns von ihm überhaupt nicht trennt: und das ist eine Radikalisierung aller Zeitverhältnisse. Fontane hat z.B. Bombenangriffe, die manchen Berlinern ja noch wohl in den Knochen liegen, nicht gekannt. Es gibt da, wenn man es bildlich ausdrückt immer zwei Strategien. Eine Strategie von oben und eine Strategie von unten. Über die Strategie von oben hat Clausewitz einiges geschrieben. Das ist die Strategie, die das Bomberkommando hat; und das hat ja auch die Mittel dazu. Was eine Frau mit zwei Kindern unten im Keller als Gegenwehr dagegenzusetzen vermag, das wäre Strategie von unten.“

>> Link zum Zitat
>>> Ein weiterer Link zum Thema „Strategie von unten„, wahllos gewählt.


>Alexander Kluge und Georg Baselitz auf der lit.ruhr<

Enkidu und Gilgamesch (2. und 3. von links). ©mhu
Enkidu und Gilgamesch (2. und 3. von links). ©mhu
Die Veranstaltung 29 (VA29) mit dem sperrigen Titel „Weltverändernder Zorn. Nachricht von den Gegenfüßlern. Alexander Kluge trifft auf Georg Baselitz“ des in erster Auflage ausgeführten internationalen Literaturfests lit.ruhr war einigermaßen gut besucht, was in Anbetracht der Tatsache, dass sich auf der Bühne im Museum Folkwang in Essen Urgesteine der jüngsten Kunst- und Kulturgeschichte befanden, für mich nicht ganz nachvollziehbar war. Einmal Alexander Kluge live erleben, das sollte man nämlich. Und Georg Baselitz ist auch ganz interessant. Ihr gemeinsames Buch heißt im Übrigen genauso wie die Veranstaltung und ist bei Suhrkamp erschienen. Und bis 7. Januar 2018 gibt die Ausstellung „Pluriversum“ Einblicke in die Arbeit von Kluge.

 

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16:35 Uhr Essen-Altenessen Kaiser-Wilhelm-Park

„Opa, spielst du bitte mit?“

Ein Mädchen in weißem Sommerkleid und bunten Tüchern an den Handgelenken legt beide Hände auf die Schultern eines älteren Mannes, der auf einer Bierbank sitzt. Hinter ihm türmt sich ein bunter Kreidehaufen, Kinder und Erwachsene malen Häuser und Mandalas auf den Asphaltboden. Andächtig und konzentriert, so scheint es, wie alle an diesem Tag im Kaiser-Wilhelm-Park. Der Mann nimmt die kleinen Hände seiner Enkeltochter und schüttelt den Kopf.

„Ach, bitte. Jeder kann das.“
Die Antwort ist schroff: „Ich nicht.“

Auf der Wiese hinter dem Mädchen stehen Kinder mit ähnlichen Tüchern an den Handgelenken, sie rufen. Das Mädchen löst sich von ihrem Großvater und rennt los. In einer Gruppe stehen sie nun zusammen, auch Erwachsene sind dabei. Sie sprechen sich kurz ab, dann laufen sie im Kreis, machen Flugbewegungen mit den Tüchern. Das Konzept bleibt unklar, aber ein Luftballon in Form eines Delfins begleitet den Wiesentanz. Das macht es dann wieder stimmig. Der Großvater starrt derweil auf den Kreidehaufen. 16:39 Uhr



>Tag im Park, Essen-Altenessen<

Alles für Alle. ©mhu
Alles für Alle. ©mhu
Das Netzwerk X ist ein Verbund aus über 50 KünstlerInnen-Gruppen. Das Netzwerk setzt sich für die Stärkung des Kunst- und Kulturbetriebs im Ruhrgebiet ein. Es gibt monatliche Netzwerktreffen, zu denen alle Interessierte eingeladen sind. Über 100 KünstlerInnen nahmen am diesjährigen „Tag im Park“ in Altenessen teil. „Tag im Park“ versteht sich als genrefreies Kunstfestival. 2016 fand die Veranstaltung zum ersten Mal statt.

 

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12:54 Uhr, Essen Museum Folkwang

Stille, ein Gefühl des Aufgeregtseins, des Entrücktseins, des Dort-, nicht des Hierseins. Lesesaal, Ruhesaal. Möbel im Bauhausstil, klare Farben, zurückgenommen; niemand da. Das Surren einer Anlage, scheinbarer Wind, Zäsur: das Knarzen des Stuhles beim Hinsetzen, Zurücklehnen. Die Suche nach exakten Beschreibungen, nach Worten, die das begreifen, was ist. Kein Geruch, aber der Wunsch nach Strenge, die Möbel: herausgerissen aus einem Schlaf. Keine Begriffe für Klarheit, keine Worte für Glasfenster und Kuben. Ein, ein, aus, atmen. Die Finger in das Polster drücken, Knautschzonen ausmachen, versuchen, Struktur zu erfassen. Warten, bis jemand kommt. Darf jemand kommen? Ist es erforderlich, dass jemand kommt? Muss es zwingend ein ‚zu zweit‘ geben im Raum? Aber dann auch: Muss es Raum geben? Dazu, entfernt aus dem Off: „Wie weit muss in die Vergangenheit zurückgegangen werden, um die jüngste Vergangenheit vergessen zu können?“* Der Blick in den Hof, hier: gewölbt, Skulptur. Einzelne Wirbel der Skulptur mit den Augen abtasten, fühlen, wie es sich fühlen könnte. Der Wunsch nach Nahtlosigkeit, und dann doch: nach einem ‚zu zweit‘, und keinem Raum. Der bewusste Griff nach Übereinstimmung, dem Weltverständnis in einem Satz: „romantisch überzeichnete Ausdrucksmittel“ und „magische[r] Realismus.“**

Und dann, ganz abrupt, geht von links die Tür auf. Ein Mann betritt den Raum. Er trägt einen schwarzen Anzug und einen verkabelten Stöpsel im Ohr. Er schaut verwundert, nickt dann unmerklich, lässt die Tür ihr Übriges tun, geht durch den Raum, seine schwarzen Schuhe quietschen, er schaut auf den Boden, er bleibt unvermittelt stehen, scharrt mit dem linken Schuh, nachdrücklich, es geht nicht weg, er wartet, entscheidet, belässt es, geht weiter, öffnet die Tür – und zwar eine andere. Sie fällt krachend ins Schloss. Irgendwo wird gelacht, und jemand sagt: „Ach komm. Das ist doch Gelsenkirchener Barock.“*** 13:11 Uhr


Quellen der Zitate in der Reihenfolge ihrer Erwähnung:

*Peggy Buth: Leute wie wir. Altenessen, Karnap, Rheinhausen, Marxloh, Bredeney, 2017. 3-Kanal-HD-Projektion, Farbe, S/W, 2-Kanal-Stereo Sound.
**Ausstellungstext im Raum Neue Sachlichkeit, Sammlung Museum Folkwang. Vollständiger Satz: „Sie (die Vertreter der Neuen Sachlichkeit, Anm. d. V.) nutzen romantisch überzeichnete Ausdrucksmittel und entwickeln einen magischen Realismus.“
***Annett Gröschner, Autorin.



>Museum Folkwang<

Das Museum Folkwang in Essen. ©mhu
Das Museum Folkwang in Essen. ©mhu
Die Architektur des Museum Folkwang in Essen ist eine einnehmende. Die Klarheit des Gebäudes lässt Raum für die Kunstwerke, die Inhalte, die KünstlerInnen. Neben der ständigen Sammlung, die Malerei und Skulpturen des 19. und 20. Jahrhunderts beinhaltet, sind die Einzel- und Gruppenaustellungen immer auf der Höhe der Zeit. Mit dem 3. September enden die Ausstellungen von Arwed Messmer (RAF – No Evidence/Kein Beweis), Peggy Buth (Vom Nutzen der Angst) und San Francisco 1967 – Plakate im Summer of Love. Es folgt: Alexander Kluge (Pluriversum). Die Vernissage ist am 14. September, der Eintritt ist frei.

 

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