Die Fingernägel

Was glauben Sie denn? Dass ich nicht mehr putzen muss, oder wie? Da kann ich Sie aber beruhigen. Sind noch meine eigenen! Alle zusammen. Und die pfleg ich. Und dafür kauf ich auch mal neue Zahnpasta. Wenn Sie gestatten, junger Mann!

Ach so. Na, die neue hab ich gekauft, weil die alte nichts mehr getaugt hat. Obwohl ich die lange gehabt hab. Aber ich hab das im Blick! Und eins kann ich Ihnen sagen: Kommen Sie mal in mein Alter. Dann geben Sie sich auch nicht mehr zufrieden. Mit etwas, das nichts taugt. 

Ach, die Farbe gefällt mir sowieso. Aber ist doch Papperlapapp. Wissen Sie, was wichtig ist? Schmecken muss die. Ja, ja, ja, das wollen Sie jetzt nicht hören. Ich ess die ja nicht am Stück. Aber bei der Zahnpasta schmeckt man es heraus. Wenn die gut sauber macht? Dann brennt das auf der Zunge. 

Hab ich auch den Damen in der Drogerie gesagt. Da sind ja jetzt so junge Verkäuferinnen. Die kommen auch nicht alle von hier. Da schimpft die Hilde immer. Ach, die Hilde ist nur meine Nachbarin. Aber ich schimpf dann zurück. Warum? Ja, tüchtig sind sie, die jungen Frauen! Und ich sag Ihnen noch was. Solche Fingernägel haben die. 

Sie machen sich keine Vorstellung. Das hab ich denen auch schon gesagt. Ich sag: Wie räumen sie denn das Regal ein, mit diesen Pranken? Aber die Damen, die lachen da nur. Ich sag: Finden das denn die jungen Männer schön? Da sagt die eine, die immer auch Samstags da ist, die sagt: Mir doch egal. Ich find das schön, sagt die. Da bin ich aber zur Hilde. Ich sag: Die jungen Leute, die sind doch nicht ganz verkehrt. 

Sicher gehe ich gern hierher. Ich komme jeden Tag in die Drogerie. Das riecht, sage ich Ihnen! Da kann ich auch mal eine Stunde sein. Oder zwei. Man ist ja nicht mehr so flott unterwegs. Wenn es noch ein Kaffeechen gäbe, das wäre schön. Aber was es sonst alles gibt! Nur manchmal drucken die das so klein. Auf die Verpackung. Erzählen Sie mir nichts. Das kann doch kein Mensch lesen. Früher gab es das nicht. 

Früher war das ein ganz anderer Laden. Also, eine Drogerie war es auch. Aber die hat dem Dings gehört, dem Herrn mit dem Schnäuzer. Der hat sich immer neben einen gestellt. Wenn man mal ein bisschen länger gebraucht hat. Wenn ich mir meinen Tee ausgesucht hab, hat der immer so getan, als würde er da was einräumen müssen, genau an dem Regal. Ja, hören Sie mal! Unsereins klaut doch nichts? Da hat das auch noch nicht so gut gerochen, damals. 

Jetzt ist das so eine Kette. Da schimpft die Hilde auch immer drauf. Aber ich find die Kette gut. Ich weiß gar nicht, wie man das ausspricht. Der Laden ist auch viel größer geworden. Manchmal finde ich Sachen, die hab ich noch gar nicht entdeckt. Und einmal haben sie mir einen Stuhl geholt. Da ist mir ein bisschen flau geworden. Hinten bei den Windeln. Ich weiß gar nicht mehr, warum ich da hin bin. Den Stuhl hab ich ihnen dann aber schön ausgeredet. Ja, was meinen Sie? So alt bin ich nun doch noch nicht. 

Sicher, ich wohne schon immer hier. Nicht Wuppertal, ich bin aus Barmen. Meine liebe Mutter ist schon geboren in dem Haus. Und den Krieg hat das auch überlebt, also, die ersten Etagen. Das hat sich natürlich alles verändert. Außer mir wohnt da niemand mehr von früher. Die ganze Stadt ist ja ausgewechselt, inzwischen. Aber eins ändert sich nicht. Nämlich dass hier jeder sein eigenes Süppchen kocht. 

Ja, wie soll ich das meinen! Ich hab mich mal in einen verguckt. Aus Elberfeld war der. Da hat mir mein Vater aber was erzählt. Das kam für den sowieso nicht in Frage. Aber aus Elberfeld schon gleich gar nicht! Hab ich den dann heimlich getroffen. Aber das war auch nichts. Der wollte mir nur schöne Augen machen. Ich bin dann nur noch raus, weil ich eigentlich nicht mit einem aus Elberfeld gedurft hab. Übers Fenster, sag ich Ihnen. Wenn ich das heute sehe. Da wird mir sechzig Jahre später noch schwindelig bei. 

Die Hilde sagt, das ist alles nur wegen der jungen Leute. Weil die nicht mehr hilfsbereit sind. Aber das ist auch Kokolores. Manche Sachen, die waren wohl schon. Wobei, was ich mich ja frage. Wie machen das denn die Damen aus der Drogerie? Wenn die mal für einen aus Elberfeld aus dem Fenster klettern wollen? Mit diesen Fingernägeln? Die kommen doch keine Hauswand runter! Na, ich frag sie einfach mal. Wenn ich das nicht vergesse. Morgen. Da bin ich wieder hier. 

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