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Eine Einführung.

Am Freitag Ratschen sie wieder. So wie immer, wie jedes Jahr, in den symbollischen Stunden, die für die Gläubigen zwischen Tod und Auferstehung liegen. Dieses Jahr aber ist ein besonderes Jahr und die Messdiener müssen, Corona wegen, von zu Hause aus Ratschen. Damit die Menschen, für die das Ratschen bestimmt ist, die das laute und klappernde Rasseln an die Gebetszeiten erinnern sollen, die Messdiener mit ihren Ratschen trotzdem hören können, ratschen die Messdiener vom Balkon auf, im Garten oder auf der Straße. So ist es jedenfalls in diesem Jahr in Attendorn, damit die Menschen den Osterbrauch dort trotzdem erleben können.

In seinem Gedicht Osterspaziergang reflektiert Goethe über den Neubeginn, der diesem Frühlingsritus innewohnt. Dabei beobachtet er eine Zusammenkunft an Menschen, und reflektiert, dass sich in dieser sozialen Nähe auch das Menschsein an sich spiegelt.

Der Osterbrauch in der Hansestadt Attendorn ist weit über Südwestfalen hinaus bekannt und dort gibt es außer dem Ratschen auch das Turmblasen, mit dem an die Gebetszeiten während des Schweigens der Glocken erinnert wird.

Für dieses Brauchtum läuft derzeit ein offizieller Antrag, um es als immaterielles Kulturerbe in das Verzeichnis der UNESCO einzutragen.

Bräuche sind Riten, die zeitliche Zäsuren markieren von zwischen untereinander verketteten Tätigkeiten, sie synchronisieren die Anstrengung der Gemeinschaft, bestärken ihrem Glauben an die Wirksamkeit der Gebete und steigern damit die optimistische Stimmung, in der sich der Übergang von Phasen der Ruhe zu konzentrierter Leistung vollzieht, schreibt der Ethnologe Fritz W. Kramer. Und eine optimistische Stimmung, die können wir im Moment brauchen, ob wir nun Christen sind, die das Osterfest feiern oder nicht.

Bereits Wochen vor Ostern werden in Attendorn die Osterfeuer vorbereitet, die am Abend des Ostersonntags brennen und am Samstag steht die gesamte Gemeinde auf dem Kirchplatz, um den Semmelsegen zu empfangen. Der Semmelsegen am Karsamstag in Attendorn markiert das Ende der Fastenzeit, er ist seit dem 17. Jahrhundert dokumentiert und die Stadt hat sich ihre Tradition erhalten, so ganz für sich und ganz eigen, als hätte sie jenseits der von Newton eingeführten Zeitmessung, noch ihre ganz eigene Zeit, die für sich und in ihrem eigenen Rhythmus tickt. Dazu gehören auch die vier Osterfeuer und die Prozessionen nach dem Osterfeuer, für die es spezielle Laternen gibt, die „Lüttchen“ genannt werden. Attendorn erlaubt sich, seine eigene Zeit in der Geschichte des Osterbrauchtums zu schreiben.

Riten des Übergangs nennt der Ethnologe Victor Turner Rituale, die wie der Osterbrauch, einen (Jahreszeiten)-Wechsel markieren. In ihnen bildet sich eine liminale Gemeinschaft, eine Zusammenkunft des Übergangs. Eine Gemeinschaft, die sich vom Alltag abhebt und eben dazu dient, im Alltagsgeschehen für mehr Zusammenhalt zu sorgen.

Eigentlich hatte ich vor, den Osterbrauchtum der Hansestadt in diesem Jahr selbst zu erleben. Ich wäre nach Attendorn gefahren, hätte mir einen Semmel gekauft, um ihn segnen zu lassen, hätte zugesehen, wie die „Poskebrüder“ die Fichtenbäume für das Osterfeuer aufstellen. Für den Moment des Rituals wäre ich Teil dieser Gemeinschaft gewesen, hätte mich darüber gefreut, und darüber geschrieben. Aber in diesem Jahr ist Corona und wir alle bleiben zu Hause.

Die Gottesdienste und der Semmelsegen werden per Livestream übertragen, so kann die Gemeinschaft doch noch irgendwie zusammen sein. Denn Zusammensein ist wichtig, wenn auch nur virtuell, ohne das, existiert eine Gemeinschaft nicht. Sie ist dann nicht mehr als eine Gesellschaft, so hat es der Soziologe Ferdinand Tönnies beschrieben, nur jeder seinen eigenen, individuellen, Willen verfolgt.

Es gibt in diesem Jahr einen „Semmelsegen to go“ damit man sich sein Brot zu Hause selber segnen kann. Segen ist ja ein bisschen wie Magie, man kann ihn aussprechen und hoffen, dass doch noch irgendwann alles besser, alles gut wird. Und leichter ist es natürlich, in Gemeinschaft zu hoffen, auch wenn sie gerade nur virtuell sein kann.

Semmelsegen in Attendorn, hochgehaltene Brote

Osterfeuer

 

 

Mehr von Barbara Peveling

Tanz den Flamingo

Ort: Zwillbrock | Datum: So, 16.07.2017 | Wetter: bewölkt, 18°C

Rosafarbene Zuckerwatte am Stiel, wie auf der Kirmes. Nur mitten in den See gesteckt, unweit des Schilfgürtels in der Ferne. Kunst? Skulptur Projekte, eine Stunde Fahrt von Münster entfernt? Über allem das Geschrei der Lachmöwen, wenn auch heute verhältnismäßig ruhig, so Bettina. Als wüssten sie, dass Sonntag ist. Da vorn eine Gans, da drei Kormorane, unbeweglich, mitten im Grau. Der Nieselregen setzt wieder ein und ein leichter Wind kommt auf. Da, plötzlich, es muss ein Geräusch gewesen sein. Unruhe auf dem See. Die Zuckerwatte fliegt auf.

Flamingos. Im Münsterland. Nicht im Zoo, nicht im Kino. In freier Wildbahn. Ja, genau. An der Palme links und dann Sandstrand voraus? Nicht ganz. Im Naturschutzgebiet Zwillbrocker Venn, mitten im Lachmöwensee, liegt die Flamingoinsel. Von Strandbar, Cocktails und Sonnenschirmen sind wir hier allerdings weit entfernt. Seit 1982 kommt jedes Jahr eine Flamingokolonie hierher. Um zu balzen, zu brüten und die Küken großzuziehen. Bis es, wenn die Jungen flügge sind, zum Überwintern in die Niederlande ans Rheindelta geht.

Do the Flamingo Dance: head-flagging, marching und wing-salute

Ich bin heute Morgen an der Biologischen Station Zwillbrock verabredet. Mit sieben Kindern und Elternanhang geht es ins Zwillbrocker Venn. Geführt von Bettina. Und Frieda und Fred. Frieda ist ein Chileflamingo. Fred ein europäischer Flamingo. An den beiden kuscheligen Miniaturausgaben können wir die Unterschiede der beiden Arten erkennen. An der Farbe der Beine, des Schnabels und der Augen. Sie begleiten uns auf unsere Expedition. Und finden zeitweise Unterschlupf in Bettinas Tasche, als wir selber erproben, wie die Flamingos zur Balz tanzen. Oder herausfinden, dass sie sehr viel müheloser auf einem Bein stehen können als wir. Beneidenswert.

Wir stoßen entlang des Lachmöwensees auf einen Wasserskorpion, daumennagelgroße Frösche – die Saison hat gerade begonnen – und Moorschnucken. Die Flamingos hingegen habe sich in Richtung Insel verzogen, hinter den Zaun. Der wurde zum Schutz vor Meister Reineke im seichten Wasser aufgestellt. Um die brütenden Flamingos nicht zu stören. Heute dürfen wir, in Begleitung von Bettina, die öffentlichen Wege verlassen und schlüpfen durch ein Tor auf der gegenüberliegenden Seite des Zauns. Der Trampelpfad ist schmal. Als es über einen Steg geht, wird deutlich, dass wir tatsächlich mitten im Moor unterwegs sind.

Seeblick-WG mit Familienanschluss

Neben einer kleinen Holzhütte klettern wir auf einen Hügel. Tatsächlich: Flamingos im Münsterland. Mitten im See. Die sechs Flamingoküken tarnen sich in der Gruppe der Lachmöwen auf der Insel. Ebenso grau-weiß. Überhaupt eine gute Partnerschaft, erklärt Bettina. Denn es müsse eher Flamingoeltern statt Rabeneltern heißen. Naht ein Feind, lassen sie alles stehen und liegen. Auch ihre Küken. Da sind die Lachmöwen sehr viel verteidigungslustiger. Und sie sorgen dafür, dass der ansonsten nährstoffarme See mitten in der Moorlandschaft genügend Futter für die Flamingos und alles, was da sonst so kreucht und fleucht, bereithält.

Woher die nördlichste freilebende Flamingokolonie im Zwillbrocker Venn kommt, weiß niemand genau. Vielleicht aus einem Zoo oder aus privater Haltung entwischt? Eine Vermisstmeldung gab es jedoch diesbezüglich nie, so Bettina. Chileflamingos und europäische Rosaflamingos kommen seit Jahren gemeinsam zum Balzen und Brüten her. Bis im letzten Jahr war sogar ein Kuba-Flamingo dabei. In Zukunft gibt es dann vielleicht den Zwillbrocker Venn Flamingo. Darauf dann einen Cocktail!


Von März bis August kann man mit etwas Glück einen Blick auf die Flamingokolonie im Zwillbrocker Venn erhaschen. Entweder auf dem sechs Kilometer langen Rundweg aus der Ferne, oder, mit einer der geführten Wanderungen des Bildungswerks der Biologischen Station Zwillbrock, von einem näher gelegenen Beobachtungsposten. Zum Beispiel in Begleitung von Bettina und Flamingo Frieda. Bettina Hüning ist Diplom-Landschaftsökologin und führt für das Bildungswerk der Biologischen Station Zwillbrock Klein und Groß durch das Zwillbrocker Venn.

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