FREIHEIT- Die Frage nach der Mutter

«NEIN!» das hat sie tatsächlich gewagt zu sagen:

«Wohngemeinschaft?? Nein! Auf keinen Fall!!»

Stille. Totenstille. Alle im Zuschauerraum versinken in den Boden. Unter der Erde fangen sie an, grün zu werden. Vor Wut:

«Wie bitteeee? Was bildet sich das undankbare Mädchen ein? Weiß dieses kleine, freche Biest überhaupt, wie schwer es ist, eine Wohnung in Aachen zu finden?

Sie ist ein Flüchtling. Eine ohne Papiere dazu…»

Dieses trotzige Kind, das keines mehr ist, weder Kind noch eine Frau, enttäuscht uns, macht uns ratlos, ärgerlich, zwingt uns, über unsere Schatten zu springen.

Das Kind zu verstehen – ein Sprung ins All.

Ein Flüchtlingskind ohne Eltern, ohne Papiere, ohne niemanden… braucht ein Dach über den Kopf und sagt: «Neeein! Wohngemeinschaft? Auf keinen Fall!!! Punkt!»

Zahra

Dieses dickköpfige Kind aus dem Sudan, das so stachelig ist, dass sich von keinem helfen lässt, dass so kompromisslos um seine Freiheit kämpft, das sogar seine Mutter verlassen hat und dann von ihr verstoßen wurde. Dieses Kind bringt uns nun alle zum Schwitzen. Seine Vorstellungen: unrealistisch, unverschämt, peinlich.

Dieses Kind ist wie seine Mutter. Dickköpfig. Stur. Es lässt niemanden sein «Gehirn salzen», ein Wort, mit dem sich meine Mutter wehrt, wenn jemand, mich inklusive, glaubt zu wissen, was für sie, meine Mutter, am Besten wäre. Es ist wie seine Mutter, die von ihrem Kind nichts mehr wissen will, solange es nicht zu ihr zurückkehrt, so wie sie es will.

***

Zahra, 18, ist in Aachen vor zwei Jahren gestrandet. Als minderjähriges Flüchtlingskind.

Ohne Begleitung. Ohne Papiere. Ohne Aussicht auf Anerkennung. Mit Duldung.

Monatelang war das Mädchen auf der Flucht aus Afrika unterwegs. Vom Sudan durch die Sahara, Libyen, mit dem Schlauchboot nach Italien, dann weiter über Österreich und die Schweiz nach Deutschland.

Per Zufall wurde Zahra als Protagonistin für einen Dokumentarfilm entdeckt. Sie und einige andere Jugendliche aus Afrika und Asien, die als unbegleitete Flüchtlingskinder in einem Aachener Kinderheim Zuflucht fanden, bekamen sogar die Kamera in die Hand, lernten ihre Geschichten selber zu erzählen und zu drehen…

«Gemeinsam einsam», ihr Film wurde an diesem Abend in dem Aachener Gemeindezentrum St. Andreas vor einem Dutzend Gemeindemitgliedern gezeigt. Zahra steht nach der Vorführung als kleiner Star vor dem Publikum; neben Zahra auf der Bühne ihre Mentorin, Miriam Pucitta, die Initiatorin und Leiterin des Projekts und Yousseff, der zwei Jahre ältere, fröhlich strahlende Palästinenser. Die Protagonisten und die Projektleiterin antworten geduldig auf zahlreiche Zuschauerfragen. Auch auf Fragen nach der Mutter…

 Die Frage nach der Mutter

Wie ist die Lage jetzt dort, von wo sie geflüchtet sind? Und ob sie ihre Mütter vermissen würden…,  um diese Fragen drehen sich die meisten Meldungen aus dem Publikum. Viele Grauhaarige im Rentenalter, ehemalige Lehrer, Sozialarbeiter, Mitglieder der Kirchengemeinde.

„Meine Mutter wäre stolz auf mich…“

Yousseff ist mit 15 aus Palästina über die Balkanroute nach Deutschland geflüchtet und wird in Aachen seit fünf Jahren «geduldet». Alle drei Monate muss er zum Amt. Er lernt Elektriker und hat sogar seinen Führerschein geschafft, ein Auto gekauft und eine Wohnung gefunden. Auch dank des Filmprojekts. Er geht arbeiten da, wo man ihn gerade braucht. Yousseff, der Sonnenschein, hat inzwischen auch eine deutsche Freundin.

Im Film bringt er ihr bei, wie man Falafel, die Spezialität seiner Heimat, zubereitet. Er schneidet Zwiebel, sie wäscht ein Büschel Petersilie, er dünstet die Zwiebeln, sie zerbröselt trockenes Brot, er püriert das Ganze mit Kirchererbsenmehl, sie spritzt einen Schuss Milch dazu…

«Meine Mutter wäre stolz auf mich!» sagt Youssef.. Die Kamera springt auf ein kleines umrahmtes Bild auf dem Fernsehen: eine Frau im weisen Kopftuch, wohl Youssefs Mutter.

Youssef, der jüngste Sohn, das 13. Kind, vermisst seine Mutter sehr. Wenn er mit ihr telefoniert, weinen er und sie.

Zahra hört zu, trotziges Kinn, unruhiger Blick, distanziert. Sie, kein Kind mehr und noch keine Frau, bewegt sich hin und her, als ob etwas in ihr kochen würde. Sie erinnert mich an meine Mutter, wenn sie den Schmerz spürt und das nicht zeigen will.

«Ihre Mutter habe seit Oktober den Kontakt zu ihr abgebrochen!», erzählt Zahra. Und ihren Vater habe sie nie kennengelernt. Ihr Blick senkt sich zu Boden.

Mit 16 habe sie ihre Mutter heimlich nachts verlassen. Sie wollte nicht, wie sie sagt, zwangsverheiratet und die «Sklavin eines Mannes» werden, den sie nicht liebe, so wie die meisten Mädchen im Sudan das täten, und so habe sie sich auf den gefährlichen Weg nach Europa gemacht und es bis nach Deutschland geschafft… Hier habe sie eine «echte Chance». Sie lerne Deutsch, mache eine Lehre als Kosmetikerin und drehe Filme. Sie liebe Fotografie, sagt ihre Förderin, die Italienerin Miriam.

«Das alles interessiert meine Mutter leider gar nicht.» sagt Zahra. Ihre Mutter habe sie im Oktober letzten Jahres vor eine schwere Wahl gestellt: entweder komme sie, ihr einziges Kind, sofort nach Hause zurück oder sie, die Mutter, wolle von ihr, Zahra, nichts mehr wissen. Seit Oktober habe Zahra keinen Kontakt mehr zu ihrer Mutter. Sie leide wie ein Hund.

Das Publikum leidet mit. Alle stehen auf der Seite der mutigen, jungen Frau, die ihren Weg gehen will. Miriam, die Projektleiterin, unterstützt Zahra so gut sie kann, auch wenn sie ihre Mutter gut verstehen könne. Wenn ihre Tochter, die gerade 16 Jahre alt sei, so weit weg von ihr gehen würde, möchte sie sich gar nicht ausmalen, was sie tun würde.

Was darf ein Flüchtlingskind?

 Nun wird Zahra volljährig und sie muss das «sichere Nestchen», das Kinderheim, verlassen.

Sie freue sich und fürchte sich, erzählt Zahra. Seit Monaten sei sie auf der Suche nach einer kleinen Wohnung. Seit Monaten vergeblich. Langsam sei sie verzweifelt. Sie wolle nicht zurück in den Sudan, aber auch nicht auf der Straße landen, sagt sie.

Miriam, die Filmregisseurin, die Zahra und Yousseff auch privat unterstützt, nimmt das verzweifelte, einsame Mädchen in den Arm und appelliert an das Publikum. Vielleicht habe jemand eine kleine Wohnung zu vermieten, könne jemand der jungen Frau helfen.

Eine ältere Dame aus dem Publikum meldet sich, sie fragt, ob eine WG vielleicht in Frage käme. Zahra hört zu, ihr Blick wird düster, entschlossen schüttelt sie den Kopf: «WG? Nein! Danke. Auf keinen Fall!»

Das Publikum bleibt ohne Atem. Alle scheinen entsetzt zu sein. Ich, die gut integrierte Ausländerin, auch. Was in diesem Moment in unseren Köpfen so herumkreist, ist körperlich spürbar. In dem niedrigen, hitzigen Raum schwitzen alle.

«Waaas? Was will diese kleine Göre? Was bildet sie sich ein? Wie bitteeeee??? Weiß das undankbare Wesen überhaupt, wie schwer es ist, eine Wohnung in Aachen zu finden ist? Als Flüchtling? Als Flüchtlingskind? Ohne Begleitung, ohne Eltern, ohne Papiere, ohne niemanden. In einer fremden Welt?»

Das kenne ich allzu gut. Der Flüchtling ist einfach so: Selbstgefällig von Natur aus! Größenwahnsinnig! Undankbar! Er bildet sich immer viel ein, dass ihm dieses und jenes zusteht. Regelmäßig vergisst er, wer er ist, beschwert sich sogar, wenn man ihn daran erinnert: Er mag das Wort «Flüchtling» gar nicht, betont er zu oft. Als ob es jemanden interessieren würde. Lieber will er Filme drehen, studieren, dies und jenes werden, die deutschen Männer und Frauen verführen…

Was darf ein Flüchtling? Auch Filmdrehen? Studieren?

So wie ich… Ich war auch von Anfang an wählerisch, habe von mir und Deutschland ganz viel verlangt. Mit den Worten «Ausländerin» und «Flüchtling» wollte ich nie etwas anfangen. Typisch! Undankbares Ding!

Ich habe ganz andere Vorstellungen, Ansprüche, Visionen.

 Leben? Ja, leben!

Ich floh nach Deutschland kurz bevor Sarajevo die ersten Bomben erwischten und ich verlor alles: meine Stadt, meine Sprache, meine Arbeit, meine Familie, meine Freunde. Wie ein Neugeborener mit einem schweren Stein auf dem Rücken übernahm ich in einem deutschen Hotel eine neue Rolle. Die Rolle eines Zimmermädchens in einem Allgäuer Hotel. Drei Jahre lang putzte ich die schmutzigen Zimmer, saugte, wischte und spürte, wie sich der Staub auf meine Seele niederlegte. Der Rücken wurden steif, die Lungen eng, die Nächte schlaflos. Eines Tages sammelte ich meinen ganze Mut und vertraute meiner Chefin meinen heimlichen Wunsch an. Sie war entsetzt:

«Kündigen?? Studieren???? Und wovon willst Du leben??????»

Ja, leben! Ich lebe. Immer noch. Und Zahra? Sie will auch leben. Das weiß ich.

Nicht weil sie undankbar, respektlos, unverschämt ist, wie wir alle an diesem Abend – inklusive mir – denken, als sie entschlossen «WG? Nein! Auf keinem Fall!» sagt.

Zahra will leben, weil sie weiß, was sie will. Sie hat eine Vision. Ihre Vision heißt Freiheit! Für ihre Freiheit kämpft sie seit sie 16 Jahre alt ist. Sie hat alle nur denkbaren Gefahren auf sich genommen, die Wüste, Libyen, Gummiboot, Mutterentzug, Duldung, Kinderheim, Einsamkeit…

Sie will jetzt mit 18 endlich ihr Leben in ihre Hände nehmen. Ohne Kompromisse.

So wie wir alle damals mit 18. Warum sollte Zahra, das Powergirl aus dem Sudan, die allen Katastrophen mutig in die Augen gesehen hat, anders sein als wir?

Zahra liebt ihre Mutter. Sie lässt sich aber nicht von ihr erpressen. Sie hat den Mut, ihren Ideen zu folgen, auch wenn das heißt, ihre Mutter enttäuschen zu müssen, sie vielleicht für immer zu verlieren.

An diesem Abend will Zahra das Publikum nicht enttäuschen. Sie sei nicht undankbar. Sie wolle niemanden ärgern. Sie schätze es, wenn sich einer über sie noch Gedanken mache, ihr helfen wolle. Sie wolle aber keine halbe Sache machen. Sie höre ihre innere Stimme. Sie wolle ihren Weg «unerschrocken» gehen. «Um das ganze Ding zu erreichen!»

Es tue ihr sehr leid, sagt Zahra, als die peinliche Schweigeminute in dem Saal nicht mehr auszuhalten ist. Das Publikum scheint von ihrer Direktheit überrumpelt worden zu sein:

«WG? Nein! Auf keinem Fall!» Oh, Gott!

Seit zwei Jahren sei sie unterwegs, immer auf der Flucht, sagt Zahra mit einer bedrückten Stimme. Das Publikum schweigt.

Seit sie ihre Heimat, ihre Mutter, ihre Sprache, alles im Sudan zurückgelassen habe, sei sie alleine, müsse sich aber immer wieder auf wildfremde Menschen einstellen. Sie habe so viel Stress inzwischen erlebt, schlimme Dramen mitbekommen, viele Albträume, Aggressionen…

Das Publikum hört zu und schweigt.

Sie weiß, was sie will

Jetzt sei sie 18, jetzt müsse sie das Kinderheim verlassen. Sie brauche Ruhe! Einen stillen Ort, wo sie sich ausruhen könne. «Endlich!», sagt Zahra leise. Sie wolle ganz alleine mit ihrem Schmerz bleiben, weinen…

Eine Grauhaarige im Publikum nickt. Sie brauche eine «kleine, kleine Wohnung». Nur für sich. Irgendwo. Einen eigenen Platz. Ihre Stimme zittert, weicht aber kein Schritt zurück:

WG? Nein! Eine Wohnung, bitte, bitte, bitte…

——-

Meine Mutter, unsere Mütter

An jenem Abend, als ich mit den Aachener Gemeindemitgliedern von St. Andreas im Publikum sitze und den Film «Gemeinsam einsam» mit Zahra, Yousseff und Miriam sehe, kämpft meine Mutter in Sarajevo um ihren Atem. Die Hitze ist erdrückend. Tagsüber sind es 37 Grad im Schatten gewesen.

Unsere Mutter lebt seit einem Vierteljahrhundert auf Rädern. Sie packt ständig Koffer ein und aus. Sie fliegt von einem Kind zum anderen. Sie schwebe in Wolken. Ihre Kinder, Perlen, seien im Krieg zerstreut. Von Sarajevo nach Berlin, Wien, London, Köln… Ihre Aufgabe: alles zu verstehen, beruhigen, verwandeln, trösten. Ihre Kinder, Enkelkinder. Sie tut es. Jahrelang.

In der letzten Zeit wirkt sie müde,

sie brauche Ruhe.

Doch der neue Flug ist schon gebucht.

Ihre Enkelkinder warten auf sie.

Bevor sie über den Wolken schwebt,

räumt sie ihr Haus und den Garten auf.

Noch ein Fenster will sie putzen,

noch zwei Blumenbeete umtopfen

Kinderbücher für die Enkelkinder kaufen,

damit sie vielleicht die Omasprache lernen

und sie nicht vergessen.

Koffer müssen gepackt werden.

Doch die Hitze drückt.

Tagelang.

Sie habe keine Kraft mehr,

nicht mal zum Atmen.

Abschied

In der Nacht, als meine Mutter mit der Hitze in Sarajevo

um ihren Atem kämpft,

versuche ich Zahra, das Flüchtlingsmädchen in Aachen, zu verstehen.

Sie lässt mir keine Ruhe

Im Morgenrot schleiche ich mich in ihre Haut

und spüre den Schmerz der Einsamkeit.

Zahra ist müde, sie braucht Ruhe.

Zahra will keine Aufgaben mehr.

Zahra hat viel Leid der anderen gesehen,

sich immer auf anderen einstellen müssen.

Konnte nie zu sich kommen,

die Freiheit des eigenen Schmerzes spüren

Angst, hinter sich lassen,

Wüste, Gummiboot, Meer, Kinderheim vergessen.

Schreien, Schlafen, Ruhe finden.

«Kein WG! Bitte, bitte, bitte, bitte, bitte….»

Ein Schrei nach Freiheit

Nach Stille, Ruhe, Friede

Endlich.

Meine Mutter, unsere Mütter

Bevor die Sonne am nächsten Morgen kräftig zuschlägt,

klopft meine Mutter zwei Mal kräftig gegen den Heizkörper neben ihrem Bett.

Bevor die Nachbarn die Tür öffnen können,

ist sie weg.

Tot. Herzversagen, sagen die Ärzte.

Keiner von uns Kinder war dabei.

Vielleicht wollte unsere Mutter das so.

Über den Wolken schweben für immer.

Ohne Ticket, ohne Koffer, ohne Geschenke –

in der Freiheit.

 

Unsere Mutter ist gegangen wie sie gelebt hat.

Still, unabhängig, kompromisslos.

Sie habe die Lebenden und die Toten besucht,

ihr Haus und ihren Garten hergerichtet

ihr Leben von hinten nach vorne betrachtet,

ihr Leid in Geschichten und Witzen erzäht,

geweint, gelacht, sich beruhigt,

sagen die, die sie zuletzt gesehen haben

So ist sie eingeschlafen…

 

Ich bin jetzt Waise, eine Vollwaise –

ich leide, ich trauere, bin sauer, ratlos, fassungslos

Ich liebe sie, meine Mutter, bin stolz auf sie.

Ihren Trotz, ihren sturen Kopf. Ihre Unabhängigkeit.

Ich wünsche jetzt, sie wäre hier und ich wäre wärmer, stiller, geduldiger mit ihr.

Ich wünsche jetzt, sie wäre hier und sie wäre wärmer, stiller, geduldiger mit mir.

Aber dann wäre sie nicht sie, meine Mutter, und ich nicht ich, ihre Tochter…

 

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„Gemeinsam einsam“

GEMEINSAM EINSAM“ ist ein Happy Endings Werkstattfilm von und mit jungen Flüchtlingen, die als unbegleitete Kinder nach Deutschland kamen.  Ein Film über Fragen nach Liebe, Geborgenheit, Freundschaft, Träume, Beruf und auch die Frage nach der Mutter…
Demnächst läuft der Film „GEMEINSAM EINSAM“ im Rahmen von Parkflimmern im Kennedypark in der Open Air Arena der Aachener Nadelfabrik. Das Regieteam und die Protagonisten sind anwesend: Samstag, 26. August 2017 | 20:30 – 22:30  Uhr | Elsassstr 94 |Aachen 52068
Fotos:  
Miriam Pucitta (Zahra), Pasca Vretinari (Youseff) Slavica Vlahovic (Selfie mit meiner Mutter)
Links:
Miriam Pucitta
Happy Endings Film
GEMEINSAM EINSAM

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Wie Aachen zu mir kam – Verfolgung, eine Vorgeschichte (2)

Folge 2   

Tatort: Flora 6

Er, mein deutscher Mann, sitzt nun mir, seiner bosnischen Ehefrau, am Frühstückstisch gegenüber.  Ich höre wie er seinen schwarzen Tee, Marke Assam, den ich ihm wie schon seit Jahren extra stark zubereitet habe, schlürfe. Das leckere Müsli mit frischen Mango, Apfel und Bananen, klein geschnitten und mit echtem griecheschen Jogurt übergossen, den wir beide so lieben, hat er nicht berührt.

Er guckt mürrisch. Einen Löffel nimmt er verkrampft in die rechte Hand, mit der linken stützt er seinen schweren Kopf. Seine Gedanken an die seltsame Begegnung in der Kneipe an Vorabend mit den beiden Männern, die ihm seine bosnische Frau aus purem Leichtsinn, aus Versehen oder wegen ihrer völlig irrationalen Tagträumen angetan hat, scheinen ihn noch immer zu quälen.

Statt sich für sein brandneues Büchlein, gebunden in rotem Leinen und mit den drei eingravierten Buchstaben   und dem spannenden Text am Ende, den er auch noch nicht kennt, zu interessieren und sein neues politisches Engagement locker beim Bier zu bewundern, hat sie den wildfremden Menschen zugewunken und   die Geister gerufen, die sie nicht mehr so schnell los werden.

Seine Laune kippt; seine Hoffnung auf eine gerechtere, freiere und bessere Welt wurde gestern Abend wieder auf den Kopf gestellt. Nur weil sie, seine komische Frau, ihre beiden albernen Bosnier nicht nur in ihren Träumen überall vor sich sieht.

Ich kann mich von Mujo und Haso tatsächlich nirgendwo verstecken. Die beiden bosnischen Urgestalten verfolgen mich auf Schritt und Tritt. Ich sehe sie überall. Seit Jahren sitzen die beiden Bosnier in ihren schweren Trucks und machen Picknick zwischen zwei LKWs und grinsen jeden an, der vorbei geht. Vor ihnen zwei frisch geöffnete Dosenbier, drei Fleischkonserven, Brot und Schnaps. Sie steigen aus den überfüllten Balkanbussen aus, stecken sich eine Kippe in den Mundwinkel , schütteln ihre eingeschlafenen Beine in den Trainingshosen mit den drei Streifen, drehen die Köpfe hin und her und glotzen dann die Welt an, als ob sie sie zum ersten Mal sehen würden. Sie sprechen laut und lachen ständig als ob es noch wirklich etwa zum Lachen gäbe. An den Grenzübergängen nach Europa verwirren sie die EU-Beamten regelmäßig. Mit ihren lässigen Bemerkungen, schrägen Witzen und zweideutigen Augenzwinkern wissen die steifen EU-Herren nichts anzufangen. Sie nicken nervös und versteifen sich noch ein Tick mehr. Mujo, der Bosnier, sieht es und schämt sich, und glaubt, er müsse einen noch besseren Witz machen, einen, den der EU-Beamter vielleicht versteht…

Auch Haso, sein Freund, hat seine Kippe zwischen die Zähnen gesteckt und zündet sie gierig an. Nach der stundenlangen Fahrt durch die kurvigen Balkanberge und dem ewigen Entzug im Bus, will er den brennenden Tabak in seinem Mund in Medizin verwandeln. Ihre müden Augen umrandet von tiefen Falten und dunklen Schatten beginnen nach dem ersten tiefen Zug in alle Richtungen zu flattern. Unbekümmert und sehr selbstbewusst starren sie   die Welt an, ohne es zu merken, dass die Welt zurückblickt.

Gefangen in ihrer Rolle der Beobachterin…

Mein deutscher Mann ist ganz anders. Wie ein Philosoph denkt er ständig, was die anderen von ihm denken und bemüht sich, die Welt und mich von sich zu überzeugen. Nun zieht er sein rotes Parteibuch aus der linken Jackentasche. Er ist gerade in eine Geschichte eingestiegen, aus der die anderen wütend und enttäuscht rausmarschieren. Gerechtigkeit, Gleichheit, gleiche Chance und Bildung für alle! Seine alten Ideale schmücken die abgewälzte rote Fahne der Partei immer noch. Die Krise sieht er, mein deutscher Mann, als Chance! Als seine Chance. Er will jetzt der Partei unter die Arme greifen. Das mit Euphorie und Lust versuchen zu retten, was nicht mehr zu retten scheint, das liebe ich an ihm. Auch seine Treue den jungen Idealen, die er nun mit seiner frischen Reife unterstützen will, imponieren mir.

Der Phönix aus der Asche breitet seine Flügel aus, als die beiden glotzenden Männer mit tief in die Hosentaschen gesteckten Händen, hereinspazieren. Er erzählt, gerade aufgeregt vor seinen historischen Aufgaben, wie er mir, seiner bosnischen Ehefrau, eine  neue Perspektive öffnen möchte. Ich, die Schreiberin, gefangen in meiner neuen Rolle der Beobachterin,  fange auf einmal den Blick der beiden Männer und sehe, wie meine Hand wie von alleine sie grüßt…

Nächste Folge: Verzweiflung

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