Der Klang des Wortes – Fehlerjäger 02

„Sprache ist eine Waffe!“ Kurt Tucholski

 

Um Integration, Inklusion und Assimilation mache ich mir keine Sorgen mehr. Dafür gibt es ein System: Ämter, Lehrer und Fehlerjäger. Viel Geld und Projekte. Die Turbomaschine färbt die bunten Vögel grau, die schwarze Schafe weiß. Die Fehler werden korrigiert, die Wilden gezähmt, die Unebenen glattgebügelt. Eifrig, auf allen Ebenen.

Der Klang des Wortes

Mein Lebenslauf

brüchig, holprig, eifrig

lange Vokale, raternde „rrrr“

Verkratze die feinen Ohren

Verben wie Attentäter,

locken am Ende des Wortes mit versteckter Botschaft

Mich

Wollen fangen, quälen, küssen, killen,

Nicht

Dative und Akkusative spinnen Netzte

falsche Spuren verführen

Verschwörungen mit Präpositionen ausüben

Mit Trotz, Sturz, Schmerz

Der Klang des Wortes

Mein Verräter

Schaut nicht auf mein Maul!

An Fremdsprachenasenasenbluten verwachsen

Denkt Fehler in Versen erblühen

Hoffnung auf Heilung

Abweichungen schreiben meine Biografie

Mankos hören euer Blut in meinen Versen singen

 

 Wer in meinem Auge ein Krümelchen sieht und in seinen beiden zwei Holzbalken übersieht, muss kein Heuchler sein, der sofort zu einem Priester gehen muss. Der Richter urteilt nach Gesetz und Regel, exakt so wie er verurteilt wird. Vom Leben. Wie jeder. Der Jäger, der die Fehler der anderen mit Kerze am heiligsten Tag ausspioniert, wird seinen eigenen nicht entkommen. Wer in meinem Auge ein Krümelchen sieht, braucht meine Nähe und Umarmung, damit die beiden Balken aus seinen Augen verschmelzen in unsere Sünde. Alle „heiligen Bücher“, ob Bibel, Koran oder Duden, verurteilen auf’s schärfste jeder Art des „Fremdgehens“.

 

Deutsch geht fremd

mit mir

Unsere  Affäre  begann in einem klapprigen Schnellzug,

Der Zug fuhr über hohe Berge, durch weite Täler

ins Land der Denker und Verbrecher,

um meine Ohren flog ein Wirbel wilder Silben.

Ich  verstand nichts. Keinen Buchstaben.

Aus dem Wirrwarr der Geräusche sprang ein Wort heraus,

„Jawohl!“

Ich dachte, ich verstünde es.

es klang für mich wie: „JA VOL! “ – „ich Ochse!“

Der Jägerhut schräg gegenüber schien mir

seinen Ärger anvertrauen zu wollen

– in meiner Muttersprache!

„Jawohl!“

„Ja, vol: ja- ich, vol- Ochse“

Ich warf ihm einen kurzen Blick zu.

Er zog seine linke Augenbraue

hoch und wiederholte:

„Jawohl!“

Ich zwinkerte ihm zu und verzog mich hinter meine Lektüre:

Deutsch als Fremdsprache, ein Lehrbuch für Anfänger.

 

Am Anfang war das Wort. Der Klang des Wortes. Über mich fielen die fremden Buchstaben wie ein Wasserfall. Ich wusste nicht einmal, wo ein Wort zu Ende geht, und wo das andere beginnt. Ich stolperte über die exotischen Klänge, hoffte auf etwas Vertrautes. Manchmal dachte ich, ein Wort unter Tausenden erkannt zu haben. Es fühlte sich an, als ob ich ein bekanntes Gesicht auf einer einsamen Reise begegnet wäre. Mein Herz  schlug schneller, der Blick wurde kühner, das  Lächeln selbstbewusster. Und dann stellte sich doch heraus: „nichts als Schimäre“. Das Wort: „Jawohl“ , „Zutritt“,  ein Irrtum.

 

„Wir sind zu zweit in Sozialamt gegangen und irgendwo an der Tür haben wir gesehen ein Schild „Zutritt verboten!“ Mein Deutsch hat gesagt, komm, wir dürfen rein. Ein Sachbearbeiter hat uns angestarrt: „Was macht ihr bitte hier? Habt ihr nicht gesehen, Zutritt verboten? Mein Deutsch meinte, aber wieso, da steht Zutritt verboten, aber wir sind doch zu zweit….“   Vladimir N. aus Russland

 

Liebe braucht  zwei. Streit auch.

Für den Muttersprachler ist Deutsch

wie die Luft.

Selbstverständlich.

Als Gast muss ich ständig denken

An Regeln.

An Grammatik, Syntax, Phonetik

Ohne die Hausordnung zu beachten

Bin ich, der Gast, schnell raus

 

Deutsch und ich, ein ungleiches Paar,  gehen ein Vierteljahrhundert durch dick und dünn.  Deutsch, die Schöne, Strenge, Genaue, Harte. Ich weich und improvisationsfreudig.

Deutsch, hat viele Gesichter. Ich auch. Ich öffne ihm mein Herz und er, mein heimtückischer Liebhaber, schlägt zu. Ich mache alles, was er von mir will, gehorche bis zur Selbstaufgabe. Und er lacht über mich. Gemein.

Ich wühle ständig zwischen den harten Konsonanten, breche die Zunge an Umlauten, dringe immer tiefer in die Konjunktive, entziffere mühsam die Phonetik, Semantik, Linguistik. Manchmal versuche ich dem Deutsch meine Regeln aufzudrängen. Die Sprache wehrt sich. Sofort. Mit Händen und Füßen. Ihre Großzügigkeit, immer neue Worte zu bilden, dürfe nicht missbraucht werden.  Ich teste die Grenze, springe über den Zaun, will meinen Erlebnissen einen passenden Namen geben, sage: Fremdsprachenasenblutenfehlerjägermeister

 

Juhuuuuu! Ein neues Wort, mein Patenkind, wird vom Computerschreibprogramm akzeptiert! Mein Jubel aber nicht!? „Juhuuuu“ wird hier rot markiert. Das Programm erlaubt das Wort nur mit einem „u“ am Ende des Wortes. Im restlichen „uuuuuus“ steckt aber mein Gefühl! Meine Freude, das Erfolgserlebnis, der Sieg! Ich, die Täterin, tue, was ich will. Ignoriere das Programm, beschimpfe es als Besserwisser, als Klugscheißer mit der roten Tinte und juble aus der ganzen Lunge: Juhuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuu!

 

„Sprache ist eine Waffe!“

Deutsch als Fremdsprache ist eine Landmine,

Wer sich mit ihr einlässt, lebt gefährlich.

Entweder ich entschärfe sie

Oder: sie explodiert

Um Integration, Inklusion und Assimilation mache ich mir keine Sorgen mehr. Dafür gibt es ein System: Ämter, Lehrer und Fehlerjäger. Viel Geld und Projekte. Die Turbomaschine färbt die bunten Vögel grau, die schwarze Schafe weiß. Die Fehler werden korrigiert, die Wilden gezähmt, die Unebenen glattgebügelt. Eifrig, auf allen Ebenen.

Der Klang des Wortes

Mein brüchiger Lebenslauf

mein Verräter.

brüchig, holprig, eifrig

Ich schieße mit meinem raternden „rrrr“

Verkratze die feinen Ohren

Eure Verben wie Attentäter,

locken mich am Ende des Wortes mit versteckter Botschaft

Wollen mich fangen, quälen, killen, küssen,

Deutsch und ich

Wir haben es überlebt.

Und aus unserer Affäre sind ein paar kleine freche Kinder entstanden.

 

Mehr von Slavica Vlahovic

Fehlerjäger

„Mein Deutsch ist perfekt, außer meinen Fehler…“- Gino Chiellino

In der Aachener Buslinie 46, die zum Hauptbahnhof fährt, belausche ich das Gespräch zweier dunkelhäutiger Männer. Sie sind jung, dünn, tragen abgewetzte Jeans. Sie sprechen über einen Film in Youtube, der ihre Flucht über die Balkanroute detailgetreu beschreibt. „Früher uns Leute gut verstehen…“, sagt einer. Der andere nickt: „Ja, jetzt alle denken, wir kriminell…“

Ihre Augen glühen, ihr rudimentäres Deutsch stockt, doch die Sprache ihres Gastlandes scheint sie zusammen mit ihren ähnlichen Schicksalen jetzt zu verbinden, wo auch immer sie herstammen, und was auch immer sie früher gewesen sind.

Wie damals vor 20 Jahren in Augsburg.

„Ich fühle mich wie ein Behinderter, wie ein Sprachbehinderter“, beschwerte sich mein frustrierter Kommilitone aus Helsinki, mit dem ich Mitte der 90er Jahre an der Augsburger philosophischen Fakultät Deutsch als Fremdsprache zu studieren begann. Ich lachte über seiner Ehrlichkeit, auch weil er mir treffend aus der Seele sprach. Ich litt an den gleichen Unbeholfenheiten, den Sprachkrämpfen und Geburtswehen, sich und seine Gefühle und Gedanken nie klar, nie reif in der neuen, schweren deutschen Sprache auszudrücken zu können. Wie ein Erwachsener in Kinderschuhen, versuchte ich die Schritte von sieben Meilen und fiel immer wieder auf die Nase. Ein neugieriges Kind das alles sehen, hören, riechen und erleben will, aber noch nicht einen einzigen perfekte Schritt gemacht hat. Hundertmal fällt das Kind auf den Boden, seine Nase blutet, seine Knie schmerzen, alles schmerzt bis es endlich mal auf dem Beinen steht und läuft und spricht und lacht. Das Kind lernt aus seinen Fehler. Dank seiner Fehlerjäger, die hinter ihm rennen und eifrig, protokollarisch, mit der roten Tinte seine Makel, Mankos und Unvollkommenheit korrigieren. Das Sprachnasenbluten, an dem das Kind, ich, noch leide, sind der Beweis, dass uns die Fehlerjäger wie unser eigener Schatten, noch nicht aufgegeben haben.

 Akzente, konserviert

Meinen Akzent werde ich aber, selbst wenn ich noch so viel versuche, nicht mehr los. Den habe ich Ende der 90er, als ich in Berlin für ein frisch gebackenes Multikulti-Radioprojekt ausgewählt wurde, konserviert. Mein Akzent wurde zu meinem Markenzeichnen. Die deutschen Radiochefs machten sich damals auf die Suche nach mehr „Farbe in den Medien“. Authentizität und Akzente wurden als Chance entdeckt, die deutsche Gesellschaft wollte nach dem Vorbild von Schweden, Holland und England in uns Fremde mehr investieren und von uns und unseren Kulturen lernen. Uns, den Quotenausländerinnen, wurden die Türen in die neuen, offenen deutschen Radioprogramme für einen Augenblick weit geöffnet. Mein brüchiger Lebenslauf passte perfekt in mein neues Glück.

Die Aufträge der deutschen Rundfunkstationen in Berlin, Köln und Bremen flossen mir zu. Mit meinem konservierten Akzent erzählte ich jahrelang meine und tausend Geschichten anderer Aliens aus fernen Welten.

Ich hatte Boden unter den Füßen: Viele Ideen, Begegnungen, Formen, einige Preise, ein Gefühl der Sicherheit, wie früher zu Hause in Sarajevo vor dem Krieg.

Doch eines Tages sah ich einen Schwarzen Schwan. Das Haltbarkeitsdatum meines Glücks war abgelaufen. Die Zeit der sorgfältig erzählten Geschichten sei um, es müsse alles schneller, direkter, billiger gehen, beschließen die neuen Radiobosse. „Wie im Internet!“

Billiges Radio mit luftigen Live-Gesprächen. Möglichst akzentfrei.

Die authentischen Akzente der 90er verkrochen sich wieder unter die Erde, in die U-Bahnen, in Hinterhöfe, in die Busse auf dem Weg zu Bahnhöfen. Sie klangen wie Comedy.

Akzente wurden in den Medien zu komischen Nummern.

Ich konnte nicht lachen, als ein Türke, der in Deutschland aufwuchs, einen „Doofen aus Brasilien“ gab mit seinem unendlich gedehnten „schwaaaouuuuuu.“ Weder ihn noch einen Deutschen, der einen französischen Kochphilosophen nachmachte, konnte ich verstehen und ich fühlte mich nackt und ausgelacht.

Wieder war ich eine Behinderte, eine Sprachbehinderte. Von dem Sender, dem ich als seine Vorzeigepionierin treu wie sein Schatten blieb, bekam ich nur noch selten Aufträge. Meine deutschen Kolleginnen, die auch unter Auftragsverlusten litten, trösteten mich, es sei nicht wegen meines Akzents, sondern wegen meines Alters. Wie wunderbar! Das auch noch!

Welche Chance hat ein älter gewordener Alien im Wunderland, fragt mich jeden Morgen im Spiegel ein hübsches, ein wenig besorgtes Gesicht mit einem  konservierten Akzent aus den 90ern.  Ich ziehe die Augenbrauen hoch, öffne die neue Packung der neuen Collagen-Creme mit Bio-Stempel und fange an, eifrig wie ein Fehlerjäger,  mit beiden Zeigefingerspitzen, um meinen Augenrändern zu kreisen.

„Wer weiß, wozu das gut sein kann“, wiederhole ich  dieses Mantra meiner Mutter, mit der sie uns Kinder mitten im Krieg in die Welt entlassen hat.

„Mein Deutsch ist perfekt, außer meinen Fehler“

Vor dem Spiegel höre ich den frechen Satz meines italienischen Dozenten aus Augsburg, dem Pionier der Emigranten-Literatur, ein Begriff, den er hasst.  Als erster ausländischer Poet und Essayist erhielt er eine Professur an einer deutschen Universität, obwohl er nie gelernt hat akzentfrei zu sprechen und grammatikalisch perfekt zu schreiben.

Ich habe bei ihm studiert und von ihm gelernt: Deutsch als Herausforderung, als Liebhaber, leidenschaftlich, neugierig, offen, mit Charme, Witz und vor allem auf Augenhöhe zu erobern. Von ihm habe ich gelernt „…sich die Fremde nehmen“ – so der Titel seines Gedichtbands…

Er wirkte auf mich wie ein Steppenwolf, ungezähmt, arrogant, empfindsam. Sein Deutsch klang exotisch wie vergessene Lieder aus Kalabrien. Ich verpasste keine seiner Vorlesungen. Als ich zu studieren begann, lehrte Gino Chiellino interkulturelle Literatur an der Universität Augsburg. Er schreibt Gedichte und wissenschaftliche Bücher auf Deutsch. Seine Strategie mit der deutschen Sprache umzugehen, imponiert mir:

„
Es gibt kein größeres Glück, das kann ich sagen, nachdem ich seit 40 Jahren in der deutschen Sprache schreibe, als Glück sagen zu können, ich bin der Schriftsteller in einer Sprache, die ich mir ausgesucht habe und nicht in der Sprache in der ich hineingeboren bin. Es ist ein großes Risiko, man kann scheitern, aber man kann scheitern auch in seiner Muttersprache….“

Um Gedichte oder Literatur schreiben zu können, braucht man eine ästhetische und eine ethische Instanz. Die ästhetische Instanz kann man sich in der Sprache holen in dem man schreibt, es gibt Muster, Modele, gibt es Beispiele. Die ethische Instanz kann man nur aus der Treue zu sich selbst holen. Wenn man zu sich selbst treu ist, riskiert man das, und wenn man etwas riskiert, passt man auf, dass das, was man produziert, in sich stimmig ist. Die Inhalte bitte nicht verraten!“

Seine Einstellung zur Integration bestätigte mich im Gefühl, sich selbst treu zu bleiben:

„Nie auf das Eigene verzichten…Weil…es integriert sich nicht, wenn das Eigene unterdrückt oder aufgegeben wird, sondern wenn man das als eine Möglichkeit der Andersartigkeit auslebt.“

Exotik und Erotik  der Fremde seien die zwei Seiten der gleichen Medaille:

„Exotik hat eine Anziehungskraft, die uns vergessen lässt, was Mühe ist, diese Wiederholung, immer wieder die Wiederholung.  Der Fehler besteht darin, diese kostbare Begegnung billig auszuleben, als ein Abenteuer.“

„Sich die Fremde nehmen“- diese Metapher, ein erotisches Bild, eine Begegnung mit einer unvertrauten Sprache, habe eine erotische Komponente:

„Sie besteht darin, dass sie uns befreit, die eigene Sexualität in einer anderen Sprache auszuleben. In dem man eine zweite, dritte Sprache annimmt, ergibt sich eine Möglichkeit eigene Erotik anders zu erleben. Und wir wissen, dass Erotik in den anderen europäischen Sprachen anders kodifiziert ist. Natürlich kann man mir  als  Italiener, sobald  ich diese Worte: Exotik und Erotik ausspreche, was-weiß- der- Gott- was-alles-nicht unterstellen, aber dann wären wir in einem ganz anderem Klischeebereich…“

Mehr von Slavica Vlahovic

Von gelebter Nachbarschaft

Zu Gast in der Kulturregion Hellweg. Gefühlt ein Gast. Oder Fremder. Oder Eindringling. Oder Beobachter. Oder Besucher. Oder Beschreiber. Oder. Der Blick auf Fremdes spiegelt die eigene Fremde. Blick auf Unbekanntes macht das eigens Bekannte unbekannt.
Mein Zugang zur Region, zum Thema, sind Menschen, die Nachbarschaft neu organisieren. Eine Suche im Fass ohne Boden. Zahllose Einleitungen. In Gesprächen erfahre ich große Offenheit. In diesen Momenten bin ich dankbarer Gast.

Eine Seniorin, ehemalige Förderschulrektorin, initiiert ein Mehrgenerationenwohnen. Elf Wohneinheiten unter einem Dach. Junge Familien helfen Senior*innen, profitieren von Erfahrungen der Mittvierziger, deren Kinder gerade ausgezogen sind. Und umgekehrt, in allen denkbaren Konstellationen. Unter dem Dach des Hauses ist der Lebensmittelpunkt, hier wird Dorf simuliert. Oder Großfamilie. Man lebt gemeinsam. Miteinander und füreinander.

Der Rektor einer Hauptschule. Sein Engagement, seine Offenheit haben der Schule neues Profil verschafft. Vor der Schließung bewahrt. Ein Resultat: Schüler*innen, die das Bergmannslied lernen. Schüler*innen, die zuhause feststellen, dass auch in ihrem Wohnzimmer Partikel dieser Vergangenheit noch auf dem Sofa sitzen, in den Regalen stehen. Das Bergmannslied ist noch bekannt, öffnet verschlossene Stollen der Erinnerung, treibt Tränen in die Augen. Ein anderes Resultat: Schüler*innen, die einen Geschichtspfad bauen. Geschichte erfahrbar machen, Geschichte lebendig halten. Verpflichtung nicht nur Ämtern und Schüler*innen gegenüber, sondern auch dem Ort, der Region. Der Nachbarschaft. Lokaler Tradition und Geschichte, alten Werten.

Weniger Gemeinschaft hingegen im Zentrum. Haben Zentrum und Großstadt Fluktuation gemeinsam, Anonymität? ‚Verwässert‘ das Zentrum? Das Zentrum einer Stadt war einmal die Kirche, der Marktplatz.
Ein Mehrgenerationenhaus im Zentrum Hamms. Es versucht sich darin, Zentrum im Zentrum zu sein. Anlaufstelle für alle. Babytreff, Frühlingsfest, Stricktreff, Tanzstunde. Taschengeldbörse, Smartphonekurs. Angebote für neue Beziehungen. Angebote für Raum. Sich und auch Unbekanntem zu begegnen. Nachbarschaft braucht Begegnung braucht Raum. Ein Gut, das immer knapper wird. Hier wird es angeboten.

Direkt neben der Zentralen Unterbringungseinrichtung, voll von wartenden Menschen, mit langer Reise hinter, langer Reise vor sich, ein erstmal unauffälliges Haus. Im Schatten der Sommerhitze sitzen Senior*innen. Ein wöchentlicher Kaffeetreff. Im ersten Stock ein großer Gemeinschaftsraum. Die Küche wie aus dem Katalog, nur größer. Eine Tafel für vierzig, fünfzig Menschen, blitzsauber. Ein ganz normales Seniorenheim. Jede Bewohnerin, jeder Bewohner mit eigener Wohnung. Sie haben viel Leben hinter sich. In diesem Haus finden sie neue Gemeinschaften und verknüpfen ihre vielen Leben.

Noch nicht ganz viel Leben, aber eine lange Reise hinter sich haben sieben junge Männer. Nach Deutschland gekommen in den vergangenen zwei Jahren, geflohen. Vor Krieg, zum Beispiel, vor Verfolgung und anderem. Geflohene. Minderjährig und alleine, viele Landesgrenzen überquert. Oder das Mittelmeer. Ein Jugendhilfeträger bringt sieben minderjährige, unbegleitete Geflüchtete in einem Seniorenheim unter. Doch kein ganz normales Seniorenheim. Zwei Generationen und viele Kulturen treffen im Kleinen aufeinander.
Ich denke an mögliche Konflikte. An Missverständnisse, an Vorurteile, an Befremden. Differenzen in Alter, in Sozialisierung, in kulturellem Hintergrund. Sicher ist auch das ein Teil der Wahrheit, doch ich erlebe vor allem: Gemeinschaft. Empathie. Solidarität. Heranwachsende, die von Senior*innen bei der Hand genommen werden. Im Gegenzug: Senior*innen, denen die Tasche getragen oder der Einkauf erledigt wird. Im Kühlschrank Kartoffelsalat, den die Seniorin aus dem Nachbarzimmer den Heranwachsenden für den Hunger am späten Abend zubereitet hat. ‚Nicht, dass da einer hungrig schlafen gehen muss.‘

Die Eltern der sieben leben anderswo, weit weg. Manche der sieben sprechen regelmäßig mit der Heimat. Manche überhaupt nicht. Eine kommunikative, eine emotionale Stille. Die Senior*innen sind neue Großeltern. Und Mitbewohner*innen. Sozialpädagog*innen in mobiler Betreuung erfüllen andere, noch diversere Rollen. Manchmal auch solche einer Familie. Dem Sprichwort, es brauche ein Dorf, um ein Kind zu erziehen, wird in diesem Haus auf neue Weise Rechnung getragen.

Die Frage nach Heimat liegt wieder auf dem Tisch. Hart, kantig, schwer, abstrakt, ungreifbar. Heute unbekannt, morgen Nachbar, das ist möglich. Heute Nachbar, morgen Freund. Oder Familie. Oder Feind. Das ist auch möglich. Menschen, die sich als Ur-Westfalen betiteln. Oder echte Deutsche. Überzeugte Europäer. Global citizens. Nicht allzu relevant in der realen Begegnung.

Mehr von Matthias Jochmann