17:11 Uhr, Gasometer Oberhausen
4. Oktober 2017
Drei Mal rufen sie den Namen, drei Mal rufen sie „L’Osteria“, laut, schnell, überspitzt, und es klingt, wie eine Beschwörung, ein Zauberspruch, dessen gewünschte Wirkung unmittelbar nach dem Gesagten eintritt. Allein: Sie tritt nicht ein. In Oberhausen gibt es kein L’Osteria – sagt die Mutter. Google sagt etwas anderes, die Jüngste unter den vier Geschwistern wird von ihrem Smartphone kalt angestrahlt, ihr Gesicht wirkt ätherisch, aber gegen die Mutter ist kein Ankommen. Entweder man müsse nach Bochum oder Herne oder eben nach Hause. Am besten nach Hause, zu Hause gäbe es noch Eintopf. Aber erst einmal soll es da rauf.
Bis 17:45 Uhr sei das noch möglich, ist auf einem Schild zu lesen, die Warteschlange vor dem Panorama-Aufzug sieht länger aus. 15 Personen passen in den Glaslift, weil man die meisten Kinder aber anscheinend nicht als ganze Personen wertet, werden es bei jeder Fahrt mehr. Platt drücken sich die Kleinen die Nase an der Aufzugsscheibe. Unter ihnen liegt die Welt, Eiskappen schmelzen und Blitze kündigen die nächste Matrix an. Ein Erdzeitalter dauert zehn oder 15 Minuten, in jedem Fall wird der Globus, der die dritte Ebene der Ausstellungshalle dominiert, in regelmäßigen Abständen grau, dann bilden sich Raster und die Erde entsteht neu. 120 Meter ist der Gasometer hoch, der Panoramalift steigt und mit ihm das mulmig-erhabene Gefühl des gleichzeitigen Klein- und Großseins.
Dieses atmosphärische Heraustreten aus der Welt: Sie ist intendiert. Es ist der Abschluss einer Zufriedenheit, die einen befällt, sobald man den Gasometer betritt und sich einreiht in den Rundgang, der wirklich rund ist, der zentrisch durchschritten werden muss, wie ein abgehbares Mandala, im Halbdunkel Menschen, Tiere, Bäume und Organismen mit den Augen sammelt und den Sinnen. Und irgendwann auch gar nicht mehr weiß: War ich schon hier? Oder dort? Alles geht auf Eindruck, auf Welthaltigkeit und auf ein Verständnis von Schönheit, das durch Vollkommenheit besticht – und gleichzeitig nichts in Frage stellt.
Gut, dass es dann noch ein Oben, ein Außen gibt. Auf dem Dach des Gasometers haben Tränen eine andere Bedeutung, und der Blick auf das Freizeitareal, das die Stadt „Neue Mitte“ genannt hat und das selbst an Sonn- und Feiertagen Flaniermeile für die Oberhausener*innen ist, holt einen wieder runter – in den Kommerz und den dazugehörigen Freizeitgestaltungsgedanken.
„Gibt es den Benjamin-Blümchen-Park eigentlich noch?“, fragt ein Junge. „Ich glaube, der wird gerade umgebaut“, antwortet der Vater. Sein Kopf steckt zwischen Gittern, sein Blick geht über das Centro, das Legoland, über die König-Pilsener-Arena. Im November wird es dort eine Schlagerparty geben. Beim Hinabsteigen ist es also ratsam, in Mandalas zu denken. 17:48 Uhr
>Gasometer Oberhausen<
Der einst größte Gasbehälter Europas mit der bis November andauernden Ausstellung „Wunder der Natur“ steht im ehemaligen Industriegebiet von Oberhausen – die „Neue Mitte„. Kommt man am Hauptbahnhof in Oberhausen an, ist der Weg dorthin ein einfacher: Alle Busse und Straßenbahnen Richtung „Neue Mitte“ halten an Bussteig 1. Wenn man den Bus nimmt, geht es über Gleise ratternd zum 2,5 Kilometer entfernten Gelände, auf dem man gefühlt wirklich alles machen kann: Flanieren, einkaufen, Tiere sehen, andere Länder bereisen, (Industrie-)Kultur erfahren, Musicals besuchen, ins Kino gehen, zu viert auf Parkbänken sitzen und über das Leben sinieren, erste Dates haben oder schon das dritte und rutschen. So viele Rutschen. Und genau so habe ich mir Oberhausen auch vorgestellt, liegt aber wahrscheinlich auch an dem gleichnamigen Song der Missfits. Und daran, dass der „Strukturwandel“ hier so konsequent umgesetzt wurde, dass man sich wirklich ein bisschen wie im Freizeitpark vorkommt.