Vergangenheit ist ein fremdes Land (Teil I)

Am Montag bin ich bei Frau Radermacher und am Mittwoch gehe ich die Orte ihrer Kindheit ab. Und es ist alles genau so, wie Frau Radermacher gesagt hat: die Grube Kastor mit der Schwungbrücke davor. Das Eisenerz, das das Wasser rostbraun färbt. Die Bahngleise in Ehreshoven, das Schloss, von dem mir später jemand erzählen wird, dort würde „Verbotene Liebe“ gedreht. Oder sind es „Gute Zeiten, schlechte Zeiten“?

Frau Radermacher hat bei der Zeitung angerufen und mitgeteilt, dass sie mit mir sprechen möchte, ich möge sie anrufen. Am Telefon beschreibt sie mir den Weg: am Kreisverkehr die dritte Ausfahrt, auf der rechten Seite das sechste Haus. Als ich ankomme, steht sie vor dem Haus und weist mich in den Parkplatz ein.

Frau Radermacher in ihrem Arbeitszimmer

Frau Radermacher spricht druckreif und bergischen Dialekt, der sich immer ein bisschen anhört, als würde man während des Redens heimlich singen.

Wir fangen ganz vorne an. 1900 haben die Großeltern geheiratet. Der Großvater war neben der kleinen Landwirtschaft vor allem im Erzabbau tätig. Überall im Aggertal gab es Gruben und Bergwerke: Kastor, Bliesenbach, Silberkaule, Lüderich, Kaltenbach und da oben bei Engelskirchen gab es auch noch eins. 1906 wurde in Niederhof die Grube Bruno erschlossen. Frau Radermacher selbst hat als Kind noch die Masten gesehen, aber nicht mehr die Loren. Kennen Sie die Schwungbrücke an der Grube Kastor, fragt sie mich. Die gibt es bis heute noch. Die hängt in den Seilen und sie schwingt auch ein bisschen, da hat man die Gleise drauf gelegt und so konnte man die Loren über die Agger fahren, um das Erz auf die Züge zu verladen. Die Eisenbahn ging damals nur bis Ehreshoven. Heute fährt hier die RB 25 von Lüdenscheid nach Köln.

Mietfreiheit und eine Kuh

In Bliesenbach, wo sie mit ihren Eltern wohnte, gab es alte Stollen, da lass man reinjehen, sagte ihre Freundin zu ihr, und dann sin wir in die alten Bergwerksstollen reinjekrochen, meine Freundin und ich, kamen da plötzlich die Fledermäuse, da waren wir aber schnell raus, sagt Frau Radermacher und lacht herzlich.

Der Großvater arbeitete als Stellmacher, Hauer, Schachthauer, Zimmermann, Schreiner, Aufseher und Pumpenknecht. Mitte 50 war er bereits Knappschaftsinvalide, die schwere Arbeit hatte ihm eine Staublunge und Tuberkulose eingebracht. Die Versicherung hat ihn ein Vierteljahr in Kur jeschickt, nach Ronsdorf, dat müssen Sie sich mal vorstellen, dat et dat damals in den 1920er Jahren schon jab. Als die Grube Bruno zwei Jahre später wieder geschlossen wurde, übertrug man ihm die Aufsicht über den stillgelegten Betrieb. Einigen Bauern in der Umgebung war wegen des Betriebs das Wasser versiegt; sich um den Schriftverkehr mit den Klägern zu kümmern, gehörte ebenfalls zu Willhelms Aufgaben. Zum Wohnen stellte man ihm ein Kohjödchen zur Verfügung – dat saat Ihnen jetzt nix – aber ein Kohjödchen beinhaltete alles, was eine Kuh braucht: Stall, Wiesen, Ländereien. Wie schreibt man das denn? KOH-JÖDCHEN, dat is en Kuh-Gut, im Bergischen sagt man Jödchen, und da durfte er bis zu seinem Lebensende wohnen.

Mietfreiheit und eine Kuh statt Rente, wer weiß, vielleicht kommt das alles wieder.

Krieg, Brände, Hochwasser, Sturmschäden

Der Großvater, obschon ein einfacher Bergmann, war sehr belesen und hat alles in einem Büchlein aufgeschrieben. Sie zeigt mir das Büchlein. Erinnerungen, Wilhelm Kippels, 1873-1936. Bearbeitet und herausgegeben von Peter Wicharz 1984. Am Abend kamen oft die Männer aus der Nachbarschaft vorbei und da hieß es dann, der Kippels Willelm tut verzälle. Sie zeigt mir die Illustration im Büchlein, wie sie selbst bei ihren Großeltern am Tisch saß, mit Zöpfen und angewinkeltem Bein, denn so saß sie immer da, wenn der Großvater gruselige Geschichten erzählte.

Die Erinnerungen lese ich in einer regnerischen Nacht, der Großvater ist ein echtes Schreibtalent. In die autobiographischen Erlebnisse sind Sagen und Legenden aus dem Aggertal gewoben, gespickt mit historischen Ereignissen wie Krieg, Brände, Hochwasser, Sturmschäden.

Wenn sie bei den Großeltern war, wohnte die kleine Anneliese im Weeterzimmer, sie war gerne da, bei den Großeltern, es war wie ein zweites Zuhause dort. Weeter, so sagte man im Bergischen, das heißt Mädchen. Bei Wikipedia lese ich später nach, dass die Mundart zwischen Bergisch Gladbach, Siegen und Gummersbach als südbergisch oder ostripuarisch bezeichnet wird, und ich erinnere mich an das Gefühl, irgendwo in einem sehr fernen Land zu sein – weniger lokal als zeitlich. Die Vergangenheit ist ein fremdes Land, diesen Satz gibt es bestimmt schon, und nun sitzt er hier neben mir, im Arbeitszimmer der Frau Rademacher in Kürten. Sie ist 90 Jahre alt und ich bin begeistert, dass sie ein Arbeitszimmer für sich allein hat, eins, in dem nicht gebügelt wird, sondern geschrieben, gesammelt, dokumentiert. Frau Radermacher ist eine Art Archivarin geworden und wie jede Wissenschaftlerin hat auch sie den Antrieb, ihre Forschungsergebnisse veröffentlicht zu sehen und so am Diskurs teilzunehmen.

Jemand ruft an und bedankt sich für die Gedichte. Frau Radermacher schreibt nämlich nicht nur Lebenserinnerungen und Leserbriefe, sondern auch Gedichte, für sich und für andere und zu besonderen Anlässen. Manche Gedichte werden gedruckt, zum Beispiel in den Kürtner Schriften.

Das Erzähltalent hat sie vom Großvater geerbt, so viel steht fest.

Vergangenheit ist ein fremdes Land, Teil II

Weiterführende Links zur Straße der Arbeit

Die Straße der Arbeit von Schloss Ehreshovern zur Grube Kastor (Rundweg)
Übersichtskarte (Sauerländischer Gebirgsverein, Bergisches Land)

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