Die Ankunft
24. Juni 2022
„Sie sind doch ein junger Mann, was wissen Sie schon von der alten Zeit, sie kennen doch die Stadt frühestens, seit es hier eine Eisenbahn gibt. Damals sah es hier anders aus, Mr. Scott, ganz anders. Als ich das erste Mal nach Shinbone kam, bin ich mit der Postkutsche gefahren, sie sah so ähnlich aus wie die hier…“ In meinem Kopf erklingt immer wieder James Stewart, in einer Endlosschleife, wie ein Ohrwurm – wenn man versucht ihn loszuwerden, wird er nur noch schlimmer.
Ich kenne alle Dialoge aus Der Mann, der Liberty Valance erschoss in und auswendig, keine Ahnung, wie oft ich den Film schon gesehen habe. An jedem Zahltag das gleiche Ritual: in den Sonntagsanzug und ab ins Sommerkino. Und jetzt sitze ich in diesem ratternden Zug, mir ist kalt und ich bin müde, aber ich bin nicht James Stewart und mein Ziel ist nicht Shinbone, auch wenn der Name meines Bahnhofs, den ich mir auf einem Zettel notiert habe, fast genauso seltsam klingt. Obwohl ich alle zehn Minuten einen Blick drauf werfe, kann ich ihn mir nicht merken, als würde er in der Tasche mutieren, ein kaputter Kompass, der nach Lust und Laune in irgendwelche Richtungen zeigt.
„Ouarauzen! Ouarauzen!”, ruft der Schaffner vom anderen Ende des Waggons. Meine Haltestelle ist das nicht. Ich habe zwar nicht verstanden, was er gesagt hat, aber als ich vor fünf Minuten nachgefragt habe, meinte er, es dauere noch ein wenig bis dahin. Die Kommunikation war schwierig, aber mit Händen und Füßen haben wir uns am Ende doch noch verstanden, das hoffe ich jedenfalls. Während meiner Zeit hier werde ich bei der Arbeit und im Alltag vermutlich etwas Deutsch lernen. So schwer kann das nicht sein. Der „Mellao“ hat mir mit seinem zahnlosen Grinsen gesagt, dass er mit ein paar Standardphrasen gut durchkomme und ich mir deshalb keine Sorgen machen müsse. Solange sie mir Arbeit geben, ist es egal, ob ich sie verstehe oder nicht.
Sus mulas toas, was für eine Kälte!, wiederhole ich wie ein Mantra, als könnte ich es damit etwas wärmer machen. Weder der Anzug noch die Kordjacke, die fast so viel wiegt wie der riesige Koffer, kommen gegen die Kälte an. Sie geht mir bis in die Knochen, als wäre sie immer schon dagewesen, als hätte mein Körper nach ein paar Tagen schon keine Erinnerung mehr an die Wärme, an die Sonne. Ich verschränke die Arme und drücke sie eng an meine Brust. Das beruhigt mich, wärmt mich, auch wenn ich mir wie ein Verrückter in Zwangsjacke vorkomme.
Am Bahnhof wird mich Juan abholen kommen und zu seinem Haus bringen. Dort werde ich übernachten, bis ich etwas Besseres finde. Ich muss dran denken, ihm den Käse, den Schweinsrücken und den Brief von seinem Bruder zu geben, da wird er sich freuen. Wahrscheinlich rutscht mir irgendwann ein „Mellao“ raus – Juan mag es nicht, wenn man ihn so nennt, aber so haben wir in Utrera immer gesagt, einen Spitznamen wird man nur sehr schwer wieder los, höchstens im Tausch gegen einen noch Schlimmeren. Aufregen bringt nichts, solche Namen muss man einfach akzeptieren. Mir macht es ja auch nichts aus, wenn mich alle Manolito nennen, auch wenn die Verniedlichung nicht wirklich zu einem Mann über dreißig passt. Am Montag gehen wir uns dann in der Fabrik vorstellen, der „Mellao“ … Juan und ich, und reden mit dem Chef, wobei er schon versichert hat, dass alles geregelt ist, dass Not am Mann ist. Ich weiß nicht genau, wo sie mich einsetzen werden, aber es wird schon nicht schlimmer sein als auf den Feldern, wo man mitten in der Nacht aufstehen muss und sich den Rücken kaputtmacht.
Bei mir wird es sicher nicht so wie bei Joaquín, der schon nach zwei Monaten zurückgekommen ist und sich über Kälte und Schmerzen beschwert hat, alle wissen, dass Joaquín ein Feigling und ein Jammerlappen ist. Seine Mutter behandelt ihn wie ein kleines Kind und ohne sie würde er völlig aufgeschmissen sein, das war klar. Man kennt ihn als „el gorrión“, „den Spatz“, weil nicht absehbar ist, dass er jemals das Nest verlassen wird. Aber Cristóbal, der ist nach drei Jahren in einem eigenen Auto zum Urlaub wiedergekommen, und jeder weiß, dass Cristóbal nicht die hellste Leuchte ist. Man muss nur arbeitswillig sein, der Rest wird sich ergeben.
„Sie sind doch ein junger Mann, sie kennen doch die Stadt frühestens, seit es hier eine Eisenbahn gibt, damals sah es hier anders aus, Mr. Scott, ganz anders.“
Alles wird gut, alles wird gut. Es kann nicht schlimmer sein, als weiterhin in aller Frühe für einen Hungerlohn zur Feldarbeit zu gehen. Hier gibt es Arbeit und Möglichkeiten, außerdem ist es ja nur für ein paar Jahre, gerade genug, um ein bisschen Geld zu verdienen und dann geht es wieder nach Utrera. Ich will nicht wie meine Schwestern nach Alcalá ziehen, das ist nur ein Hügel, der so tut, als wäre er ein Dorf. Mit dem angesparten Geld werde ich ein Haus in der Nähe von Santa María kaufen und eröffne dann einen Laden, eine Bar oder eine Bäckerei, sowas wird immer gebraucht und wenn man sich schlau anstellt, kann man damit ganz gut verdienen.
Wie weit ist es noch? Wir hätten doch schon vor einer halben Stunde ankommen müssen? Soll ich noch einmal fragen? Mir ist lieber, sie halten mich für blöd, als dass ich die Haltestelle verpasse. Der Schaffner geht an mir vorbei, ich stehe auf und sehe ihn unbeholfen an. Ich zeige ihm nochmal meinen Zettel. Er nickt und sagt: „Nok fiar estationen.“ Ich schüttle den Kopf, keine Ahnung, was das heißt, ich verstehe nur das Wort Station. Der Mann sieht mich an, ich muss aussehen wie ein Kalb kurz vor dem Schlachter, also hält er vier Finger hoch und wiederholt: „Estationen“. Jetzt nicke ich, vier Stationen noch. Ich falte den Zettel sorgfältig, stecke ihn in meine Tasche und setze mich wieder hin. Der Mann geht weiter und murmelt etwas, das ich nicht verstehe.
Die Landschaft ist weit, endlos, nicht in einem Blick zu erfassen, wie in Das war der wilde Westen, der groß im Kino angekündigt wurde, wobei der Hinweis auf das CinemaScope-Verfahren in der Ankündigung größer war als der Filmtitel. Der Zug bewegt sich zwar, aber wenn man sich die Landschaft genau ansieht, wirkt sie wie ein Standbild, ein Panorama in Grau und Grün vor blauem Hintergrund, darauf ein paar Wolkentupfer. Wenn da nicht dieses schreckliche Grün wäre, sähe es fast aus wie die Felder von Utrera, diese riesigen braunen Flächen voller Furchen unter der sengenden Sonne, die nicht so wirken, als könnte je etwas darauf wachsen. Wie ich diese Sonne über meinem Kopf hasse, von frühmorgens bis mittags, ständig, mit gekrümmtem Rücken, rauen Händen und leeren Taschen.
Im hinteren Teil des Waggons sitzt noch ein anderer Typ mit einer Mütze tief im Gesicht, einem unregelmäßig geschnittenen Anzug und einem großen, schweren Koffer, der in jedem Moment auseinanderfallen könnte. Wie ich schaut er etwas unruhig abwechselnd auf die Uhr und auf einen Zettel. Jede Wette, dass darauf der Name seiner Haltestelle steht. Wir sind uns so ähnlich, also gehen wir einander aus dem Weg, als würde bei einer Unterhaltung auffliegen, dass wir Einwanderer sind, Fremde, nicht von hier. Als ob die anderen Fahrgäste das nicht schon längst wüssten! In seinem Gesicht erkenne ich meine Ängste und Zweifel wieder, also lasse ich ihn lieber in Ruhe. Wir können einander nicht helfen. Außerdem weiß ich ohnehin schon, was wir zueinander sagen würden. Die Gespräche zwischen Immigranten in Deutschland klingen wie Unterhaltungen zweier Gefangener auf dem Gefängnishof: Wie lange bist du schon hier? Warum bist du hier? Wie lange hast du noch? Das Essen schmeckt ja grauenvoll!
„Brumencan! Brumencan!“ Der Schrei klingt durch den Waggon und mehrere Fahrgäste machen sich zum Aussteigen bereit. Koffer stehen im Weg, Stimmen klingen durcheinander, Entschuldigungen werden gemurmelt. Der Zug fährt weiter. Drei Stationen noch.
Diese Holzbänke fühlen sich an wie Dolche im Rücken. Unerträglich. Am Anfang kamen sie mir noch relativ bequem vor, aber nach ein paar Stunden haben sie ihre wahre Natur als Folterbänke offenbart. Ich würde ja aufstehen und mir die Beine vertreten oder mal auf die Toilette gehen, aber es ist zu voll und ich will meinen Koffer hier nicht allein lassen. Und was, wenn ich dann die Haltestelle verpasse? Was dann? Wen frage ich dann, an wen kann ich mich dann wenden, wie sage ich dem „Mellao“ Bescheid … Juan, meine ich. Also konzentriere ich mich besser.
Ich schaue auf die Uhr, es ist Viertel nach vier am Nachmittag. Wir hätten schon vor einer halben Stunde da sein sollen. Draußen ist es schon fast dunkel. Juan und Cristóbal haben mich beide vor dem harten Winter hier gewarnt, die Tage sind wohl sehr kurz, man geht im Dunkeln zur Arbeit und kommt im Dunkeln nach Hause, im Frühling und Sommer kann man aber angeblich danach noch rausgehen und es sich gut gehen lassen. Draußen wird es innerhalb weniger Minuten dunkel, das Grün der Landschaft wird pechschwarz. Das Fenster des Waggons verwandelt sich in eine schwarze Leinwand, einen ausgemachten Fernsehbildschirm, der ein verzerrtes Bild der Person zeigt, die es wagt, einen Blick in die Richtung zu werfen. Das schwache Licht direkt über uns macht die Gesichter schmäler und die Schatten länger. Ich tröste mich mit dem Gedanken, dass der Frühling kommen wird und dann alles besser wird. Dann ist Schluss mit den verfrorenen Gesichtern, den Sonnenuntergängen mitten am Nachmittag, der klirrenden Kälte. Aber dann fällt mir wieder ein, dass noch Mitte Oktober ist, und ich werde wieder auf den Boden der Realität geholt.
„Sie sind doch ein junger Mann, sie kennen doch die Stadt frühestens, seit es hier eine Eisenbahn gibt, damals sah es hier anders aus, Mr. Scott, ganz anders.“ Der verdammte James Stewart geht mir nicht mehr aus dem Kopf.
„Bestel! Bestel!“ Ich verstehe den Schaffner immer schlechter. Der gesunde Menschenverstand sagt mir, dass ich ihn fragen sollte, ob das jetzt meine Haltestelle ist, aber ich habe keine Lust, noch einmal einen müden Blick von ihm zu bekommen und die Aufmerksamkeit der anderen Passagiere auf mich zu lenken, wenn ich wie ein Verrückter gestikuliere, während ich mit dem Zettel wedle und rufe: Baujladen! Baujladen! Es müssten noch zwei Halte sein. Zwei Stationen noch.
Ein paar Bänke weiter sitzt eine hübsche Blondine. Blond, blond, ganz natürlich blond, wie aus einer Zeitschrift. Als Cristóbal letzten Sommer mit dem Auto zurückgekommen ist, hat er damit angegeben, dass er schon mit vielen was hatte, er meinte, die Frauen hier wären moderner und offener, nicht wie die prüden Zuhause. Was für ein Angeber, dieser Cristóbal! Ich würde so gerne auf sie zugehen, mich vorstellen und schauen, ob die Frauen hier wirklich so offen sind, aber was würde ich nur sagen, ich kann ja kein Wort Deutsch. Ich sehe sie an, sie erwidert den Blick, lächelt und sieht weg. Vielleicht habe ich eine Chance, wenn …
„Baujfel! Baujfel!“ Mist! Das ist meine Haltestelle. Ich schnappe mir den Koffer und stürme im letzten Moment zur Tür. Das verdammte Ding ist so schwer! Ich dachte eigentlich, es kommt erst noch ein Halt, aber die Blondine hat mich abgelenkt. Und was will jetzt dieser Typ von mir? „Nein! Nein!“ Der Schaffner stellt sich vor mich und versperrt mir den Weg. „Nein. Di neste. Di neste.“ Ich will ihn wegstoßen und aussteigen, aber der Mann rührt sich nicht vom Fleck. Warum geht er nicht zur Seite? Ich versuche es weiter, aber der Koffer ist so schwer, da kann ich nichts machen. „Di neste“, wiederholt er noch einmal, aber ich verstehe ihn immer noch nicht. Alle starren uns an, überrascht und unangenehm berührt von meiner forschen Art, auch die Blondine, deren Lächeln verschwunden ist. Der andere Immigrant mit der Mütze vor dem Gesicht ist der einzige mit gesenktem Blick, vielleicht ist ihm die Sache peinlich und er will nicht, dass die anderen Fahrgäste uns miteinander in Verbindung bringen. Der Schaffner erklärt mir mit beiden Händen wie ein Meister-Pantomine, dass meine Haltestelle erst der nächste Bahnhof ist. Ich zeige ihm nochmal den Zettel, aber inzwischen weiß er ohnehin, was darauf steht. Er wirft einen Blick darauf. Für einen Moment meine ich ein schwaches Lächeln in seinem Gesicht zu erkennen, aber es ist eher eine müde Grimasse. Er nickt und geht mürrisch durch den Waggon. Die anderen Fahrgäste sehen wieder nach vorne, die Show ist vorbei.
Ich bleibe stehen, es ist ja nur eine Haltestelle und wenn ich zurück zu meinem Platz gehe, müsste ich mich noch einmal dem Blick der Blondine stellen und die Niederlage eingestehen. Vielleicht ist Joaquín, der Spatz, gar nicht so ein Jammerlappen, vielleicht ist es wirklich schwer hier und nicht jedermanns Sache. Aber es sind nur zwei Jahre, die vergehen wie im Flug, und nach der Rückkehr wird alles besser. Außerdem ist bald Frühling. Ja, bald kommt der Frühling und alles wird anders, ganz anders, Mr. Scott, ganz anders …
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