Understatement

„…wie sehr es mich immer gefreut, einen gewissermassen Geistesverwandten, engeren Landsmann zu haben- denn bis jetzt ist es sehr selten, dass unter Eisen u. Kohlen unserer Vaterstadt künstlerische Elemente sich entwickelt haben.“

Ida Gerhardi an Karl Ernst Osthaus

 

Halbzeit, und damit der Moment gekommen, Bilanz zu ziehen und darüber zu schreiben, warum Südwestfalen der beste Ort der Kultur-Förderung sein kann.

Wenn ich meinen Eindruck über die Region mit einem einzigen Wort zusammenfassen sollte, dann wäre es dieses: UNDERSTATEMENT.

Südwestfalen ist mit Sicherheit eine Region, die im Außen- und Eigenbild völlig unterschätzt wird.

Südwestfalen, das ist auf den ersten Blick eine Industrieregion mit viel Wald. Die viele und üppige Präsenz der Natur, lässt einen leicht an Landwirtschaft denken. Man stellt sich dann Bauern vor, die Kühe hüten, Frauen mit Kopftüchern, die mit Eimern in den Händen zum Melken ausziehen. Man meint, es wäre eine Gegend, in der die Menschen von ihren Händen leben, indem sie das Feld bestellen, man glaubt, sie seien abhängig vom Wetter, würden gelernt haben, sich dessen Willen beugen, wie der eines alles beherrschenden Gottes. Aber das stimmt nur zu Hälfte. Von der Landwirtschaft allein haben die Menschen in Südwestfalen nie leben können.

Viele Vorurteile existieren bezüglich dieser Gegend, die kulturell gesehen, nicht viel von sich reden macht. Die zahlreichen Schützenvereine lassen an die Vorliebe für Tradition und Folklore denken. Heimat ist ein wichtiges Wort. Und das alles erinnert schmerzhaft doch auch an eine andere Zeit in Deutschland, die wir gerne vergessen wollen. So wurde ich zu Beginn des Stipendiums auch oft gefragt, was ich denn in Südwestfalen erforschen wolle, vielleicht Nazis? Rechtsradikale? AFD-Mitglieder? Den Rechtsdruck gibt es leider aktuell in sehr vielen Regionen Deutschlands und meines Wissens nach nicht herausragend mehr in Südwestfalen als in anderen Gegenden.

Religion ist ein anderes Stichwort, das immer wieder fiel. Dies oft im selben Atemzug mit Max Weber genannt, der ausführlich über den Geist des Kapitalismus im Zusammenhang mit religiöser Tradition geschrieben hat. Es wird nicht selten vermutet, der Reichtum der Region läge an einer gewissen pietistischen Lebensweise. Selbstverständlich hängt religiöse Praxis und Akkumulation von Reichtum zusammen. Dies nicht nur auf Seiten des Protestantismus.

Der Reichtum der Region kommt aber nicht vom Beten, sondern ursprünglich aus den Bergen. Er war lange versteckt in dem unterirdischen Labyrinth, einer Welt, die der des Minotaurus gleicht.

Es gibt überhaupt sehr viele versteckte Schätze in der Region. Vielleicht liegt dieser Zustand an der Gegenwertigkeit der Bergwerke, sie sind zwar stillgelegt, aber immer noch da, wenigstens im kulturellen Gedächtnis der Region. Bergwerke haben es so an sich, das man tief graben muss, um, was Leuchtet ans Licht zu bringen. Vielleicht haben sich die Menschen in Südwestfalen deswegen angewöhnt, ihr Licht unter den Scheffel zu stellen, sich genügsam zu geben, nicht auffällig jedenfalls, denn sie kennen sich aus mit vergrabenen Werten.

Während im Rheinland Kohle abgebaut wurde, waren es in Südwestfalen Erz, Kupfer und Silber. Hier wurde Eisen und Stahl produziert. Altena gilt als die Wiege der Drahtproduktion.

Die Historiker Peregrine Horden und Nicholas Purcell haben in ihrem Werk „The Corrupting Sea“ die Beziehung zwischen Menschen und ihrer Umwelt im Mittelmeer über gut dreitausend Jahre hinweg analysiert und sind zu dem Schluss gekommen, dass es eine lokale Form der „langen Dauer“ gibt. Traditionen, die sich mit der Zeit zwar verändern, aber auch eine lokale Hartnäckigkeit aufweisen. Der Begriff der „langen Dauer“, longue durée ist von Ferdnand Braudel geprägt worden, einem Historiker der Annalen Schule.

Für Braudel verläuft die menschliche Geschichte nicht gradlinig, sondern auf verschiedenen Ebenen, wobei die Ereignisse, die für uns meist zu den wichtigsten historischen Zeitmessern werden, wie der 11. September oder die aktuelle Coronakrise, eben nur Wellen auf der Oberfläche des langen Stroms der Geschichte sind, und der viel tiefere Grund darunter meist verborgen liegt.

Wenn ich nun diese von Braudel geprägte, und von Horden und Purcell weiter entwickelte Theorie auf Südwestfalen anwende, so erklärt sich das lokale verankerte „Understatement“ als ein zeitloses Phänomen, als ein historischer Tatbestand, der in den lokalen geographischen Besonderheiten und im kulturellen Gedächtnis seiner Bewohner verankert ist. Bereits die Kelten sollen dort den Wald gerodet und das Erz aus den Bergen geholt haben. Lange muss man nicht überlegen, um sich vorzustellen, wie diese Art der lokalen Produktion die Menschen formt. Die Schätze der Region befinden sich in der Tiefe ihres Seins.

Die nachhaltige Tradition der Waldrodung (Hauberge) ist eine der vielen Schätze der Region, von denen kaum jemand über die Grenzen hinaus Notiz nimmt. Südwestfalen ist still und unauffällig, mit nicht wenigen Global Players im Unternehmensbereich, ist es auch eine reiche Region. Reich und verschwiegen, wie Heinrich Vormweg in seinem Film „Siegen, Notizen einer Stadt“, erzählte. Der Film entstand 1966 und wurde nur einmal im Fernsehen gezeigt, er ist unerkannt geblieben, wie die Region, über die er berichtet.

Industrie bedeutet Kreativität und Produktivität, doch was ist mit der anderen Produktion, die eigentlich auch systemrelevant ist, die der Kunst? Auch darüber wurde bereits im Film von Vormweg reflektiert, dort ist von Verachtung gegenüber jener Produktivität die Rede, die nichts Verwertbares hervorbringt, also Kunst.

Dabei kann Südwestfalen auf eine eigene glorreiche Epoche in der Kunstgeschichte zurück schauen, der sogenannte „Hagener Impuls“, der hauptsächlich von Karl Ernst Osthaus (1874-1921) beeinflusst wurde. Zu dieser Epoche gehört auch Ida Gerhardi (1862-1921), die in Hagen geborene Künstlerin wurde von mir bereits in einer Youtube-Lesung vorgestellt. Sie ist, genauso wie Karl Ernst Osthaus, das weibliche Beispiel für die Modernität und Aufgeschlossenheit der Region. Ohne Ida Gerhardi hätte Karl Ernst Osthaus zu deutlich weniger französischen Künstlern Kontakt gehabt.

Osthaus-Museum-Hagen, Bild von Simone Scharbert

Von den ambitionierten künstlerischen Projekten des Karl Ernst Osthaus in Südwestfalen sind die architektonisch herausragenden Gebäude geblieben, wie der Hohenhof, das von Henry Van de Velde geplante Wohnhaus der Familie.

Der „Hagener Impuls“ ist kaum über den ihm eigenen Begriff des Antriebs hinausgegangen. Es ist bei einem Anstoß geblieben, das weltweit bekannte Folkwang-Museum steht heute im Ruhrgebiet, das aus diesem Impuls entstandene Bauhaus glänzt heute nicht in Südwestfalen. Dabei hatte Karl Ernst Osthaus angeregt, das soziale Leben durch Kunst zu gestalten. Er wollte die Versöhnung schaffen von Kunst und Sozialem. Eine Künstlerkolonie, Werkstätten und ein Lehrinstitut sollte gegründet werden, sie alle sind nur noch Teile eines Museums. Aber auch davon ist nichts geblieben, als die Gebäude, leere Räume, die heute dort ausgestellt sind wie Sammelstücke, schön anzusehen, beeindruckend sogar, aber leblos. Eine heute tote Utopie.

Osthaus schreibt, dass im Westfalen des 19. Jahrhunderts die künstlerische Tradition nicht wirklich veranker ist: „Kleine Malertalente, die hie und da auftauchten, verließen den Boden der Heimat und suchten in Düsseldorf oder Italien ein Milieu, das ihnen Anregung und Förderung gab.“

Doch ist die künstlerische Produktivität Südwestfalens nicht nur Vergangenheit. Auch heute noch gibt es in der Region viele Perlen künstlerischer Produktion, die still und leise vor sich hin glitzern.

Unter Eisen entwickeln sich auch künstlerische Elemente, wie Ida Gerhardi an Karl Ernst Osthaus schreibt.

Ein Künstler, der Eisen zu seinem künstlerischen Element gemacht hat, ist Eberhard Stroot. Der ehemalige Olympiasportler lebt schon lange in Kreuztal. Viele seine Kunstwerke sind aus Stahl. Das Grundmetall für Stahl ist Eisen.

Kunstwerke von Eberhard Stroot, mit freundlicher Genehmigung vom Künstler

Zu Eberhard Stroot gehört seine Frau, Karin Stroot. Die ist Tänzerin und ist im Siegerland mit ihrem Tanztheater bekannt geworden.

Tanztheater Karin Stroot, mit freundlicher Genehmigung von der Künstlerin

Das Besondere an den Stroots ist auch, dass sie als Künstlerpaar vier Kinder haben. Ich erinnere mich noch genau, wie ich, schwanger mit meinem ersten Kind, bei Karin Stroot in der Küche saß, und mir von ihr erzählen ließ, wie das so geht, Künstlersein und Kinderhaben. Es ist nicht leicht. Die Stroots sind als kinderreiche Künstlerfamilie eine Ausnahme.

Die Performance-Künstlerin Marina Abromavic beispielsweise wurde schwer angegriffen, als sie in ihrer Biographie schrieb, sie habe in ihrem Leben drei Abtreibungen gehabt. Abromavic hat nicht Unrecht, wenn sie behauptet, eine Karriere in der Kunst und Kinder seien nicht vereinbar. Ihre Aktion „The Artist is Present“ stand für meine Aktion „The Reader is Present“ in diesem Blog Pate.

Das Künstlerpaar Stroot hat nicht nur vier Kinder, sondern sich nie gescheut, damit auch offen in der Kunstwelt hervorzutreten. Als das Paar gemeinsam 1981 im Sportstudio auftrat, war ihr erstes Kind dabei und wurde von Bern Heller auf den Arm genommen.

Vierzig Jahre später sind Kunst und Kinder immer noch nicht besonders gut miteinander vereinbar. Frauen sind in der Kunst  weiterhin unterrepräsentiert. Stipendien, die Künstler mit Kindern fördern sind eher die Ausnahme. Es lässt sich nicht von einer familienfreundlichen Nachwuchsförderung sprechen, denn in der Landschaft der Preise, Förderungen und Stipendien wird oft 35 als Altersgrenze angesetzt. Erziehungszeiten werden nirgendwo angerechnet. 2014 hat Julia Franck darauf hingewiesen, dass es in Deutschland eigentlich keine Vereinbarkeit für Kinder und Kunst gibt.

Dies heißt, das Künstler, die sich eine Familie wünschen, sehr gut ihr Leben im Voraus planen müssen, was eigentlich unmöglich, und damit kontraproduktiv ist, denn weder Kinderkriegen noch Familienglück oder das Leben überhaupt sind wirklich planbar. KünstlerInnen zahlen oft einen hohen Preis für dieses familienfeindliche System der Kunstförderung.

In ihrem Roman schildert Isabelle Lehn berührend den Zustand der Zerrissenheit zwischen biologischer Reproduktion und künstlerischer Karriere einer Autorin.

Heute würde eine Kusntperformance mit Kind wie die der Stroots im Sportstudio damals, als Beispiel der Vereinbarkeit gefeiert. Damals gehörte der Auftritt lediglich zum diskreten Charme der Stroots aus Südwestfalen.

Es ist also durchaus eine fortschrittliche Region, die sich wohl selbst unterschätzt und auch von außen unterschätzt wird. Dabei steht sie den urbanen Zentren mit wenig nach, wie religiöses Miteinander, Industrie, Kunst und Kultur zeigen. Aber doch hält sich die Region selbst hinterm Berg und dies hat sicher mit dem zu tun, was der Historiker Fernand Braudel „lange Dauer“ nannte.

Möglichkeit einer Region, so habe ich mein Projekt genannt und eine Möglichkeit ist für mich die Kunst- und Kulturförderung. Eine Option ist an die Ideen von Karl Ernst Osthaus anzuknüpfen. „Folkwang“ kommt aus dem nordischen und bedeutet so viel wie „Halle des Volkes“. Osthaus wollte Kunst allen zugänglich machen und auch Künstlerresidenzen schaffen.

Eine Möglichkeit wäre eine Künstlerkolonie zu gründen, eine, die explizit KünstlerInnen aller Sparten mit Kindern fördert und damit eines der ersten nicht nur in Deutschland, sondern auch Weltweit wäre. Dafür wäre die Region nicht mal auf den Staat angewiesen, eine von UnternehmerInnen gegründete Stiftung könnte dazu eine Alternative bieten. Ein Ort der sich dafür anbieten würde, wäre beispielsweise Altena, eine Stadt mit großer Abwanderung in der Region, aber auch eine Stadt mit einem bedeutenden künstlerischen Erbe, wie das Apollo-Kino.

Südwestfalen könnte Vorbild  und Vorreiter in Deutschland für eine familienfreundliche Kulturförderung sein. KünstlerInnen würden nicht nur eine Unterkunft und Förderung, sondern auch Kinderbetreuung geboten, indem die Kinder für die Zeit des Aufenthaltes in die lokalen Schul- und Betreuungseinrichtungen integriert werden. Daraus könnte eine Win-Win-Situation entstehen, denn indem die Kinder betreut werden, können sich Künstler selbstverständlich auch in das lokale Geschehen miteinbringen.

Ein ambitioniertes Projekt mit dem ich, mit einem großen Bogen zwar, an die Ideen von Karl Ernst Osthaus anknüpfe. Ein Projekt, das einer Region würdig ist, die viel leistet, sich aber selbst gerne unter den Scheffel stellt. Ein Projekt, mit dem aus einem Understatement, ein Statement werden könnte, auf das die deutsche Kulturlandschaft wartet.

Osthaus, Hagen, Bilder von Simone Scharbert, ganz HERZLICHEN DANK dafür!

 

Tanztheater Karin Stroot, Bilder von Karin Strooh, Herzlichen Dank dafür!

 

 

Mehr von Barbara Peveling

Spiritueller Sommer 2017, Prolog

Ich sitze im kältesten Zug NRWs. Auch bei 28 Grad Außentemperatur habe ich extra für diese Fahrt mit dem Abellio immer einen Schal dabei. Andere Passagiere müssen auf Stofftaschen oder mitreisende Hunde zurückgreifen und ungelenk versuchen, sich diese um den Hals zu legen. Wenn Schal, Beutel und Cocker Spaniel fehlen, kann man immer noch später im Krankenhaus auf eine Halskrause wegen steifem Nacken hoffen und hat dann immerhin schon mal einen Kälteschutz für die Rückfahrt.

In der linken Hand halte ich Kafkas Brief an den Vater und scrolle mit der rechten auf meinem Handy durch Facebook – Mindy Kaling ist schwanger?! – als wir stehen bleiben. Wir stehen. Und stehen. Haben die Stadt.Land.Text-Götter mitbekommen, dass ich mich Richtung Regionsgrenze begebe und schnell die Notbremse gezogen? Dann kommt die Durchsage: Personenschaden. Polizeieinsatz. Es wird dauern.

Eigentlich wollte ich zu McDonalds im Hagener Hauptbahnhof fahren, weil ich dort gut schreiben kann. Bei McDonalds im Hagener Hauptbahnhof erhebe ich mich über den kreischenden Fast-Food-Wahnsinn und finde mich in Zen-Konzentration wieder. Zu meinen Ausflügen an diesen besonderen Ort trage ich extra lange Röcke, damit niemand sieht, dass ich schwebe. Nicht auf so eine angeberische Guck-mal-was-ich-kann-Art, in der Jesus übers Wasser lief. Nur ein bescheidenes Vier-Zentimeter-über-dem-Boden-Schweben.

Worüber ich schwebend bei McDonalds schreiben wollte: Entschleunigung und Meditation und den Spirituellen Sommer 2017. Der Spirituelle Sommer 2017 wird vom Netzwerk „Wege zum Leben. In Südwestfalen“ organisiert und bietet über drei Monate verschiedenste spirituelle Angebote inner- und außerhalb christlicher Tradition. Ich wollte über spirituelle Orte in Südwestfalen schreiben, auf die ich mich freue, und meinen eigenen Spirituellen Sommer 2017 einläuten.
Ich übe mich also in einer ersten spirituellen Tugend: Geduld. Vielleicht gibt es gar keinen besseren Ort, über Entschleunigung nachzudenken, als einen stehenden Zug?
In Letmathe, ein Ort, der mir bisher vor allem aufgefallen ist, weil dort der Zug von Essen nach Siegen geteilt wird, bietet sich eine prima Gelegenheit, inne zu halten und zu lernen, mal genauer hinzusehen.

                                        Stillleben, Letmathe, oder: Warum ich keine Fotografin bin ©lka

Auf den ersten Blick denke ich, „Toll, nen Bahngleis, ne Lagerhalle und ein paar Bäume. Was soll ich da jetzt sehen?“. Dann entdecke ich Drahtrollen, entdecke einen Felsen und stelle fest: Das, was ich sehe, entspricht genau dem, wie ich Südwestfalen in den letzten Wochen erlebt habe. Atemberaubend grüne, felsige Landschaft, ganz viel Industrie mit Fokus auf Draht. Oder ist das, was ich durchs Fenster sehe, Stahl? Eisen? (Randnotiz: Ich muss dringend ins Drahtmuseum nach Altena.) Ich starre 20 Minuten auf meine kleine Welt, begrenzt durchs Zugfenster, atme ein und aus, bin einfach da.

Beinahe gelingt es mir sogar, den selbstgerechten Typ auszublenden, der mittlerweile seinen dritten Anruf tätigt, um sich zu beschweren. Aber nur beinahe. Ich habe – nicht ganz spirituell – ein eigenes Fach in meinem inneren Apothekerschrank der kleinen Gemeinheiten für Menschen wie ihn reserviert. Leute, die bei „Personenschaden“ im Zug laut aufstöhnen und in einen Monolog über den Egoismus des Selbstmörders ausbrechen. Heute wird die unsympathischste Performance von diesem Mann abgeliefert, der sich in bester Klischee-Bösewicht-Manier durch sein Donald Trump, Jr.-Gelhaar fährt und sich gerade in Rage geredet hat, „man kann sich ja auch einfach zu Hause umbringen“, als sein Kopf beginnt zu qualmen. Erst kaum sichtbar, dann so sehr, dass Eiszapfen von der Zugdecke klirrend zu Boden fallen.
„Ich hab noch gesagt, ich fahre mit dem Auto. Hätte ich mal! Wegen dem müssen wir jetzt hier bestimmt noch ne Stunde oder so stehen. Scheiße!“ Er merkt nicht, dass er mittlerweile in Flammen steht. Er brennt kurz aber heftig und als nur noch Staub übrig ist, sind wir froh, ihn los zu sein. Ein bisschen wärmer ist es auch.

Dann, das Undenkbare: Bewegung. Nicht unsere eigene, aber die eines benachbarten Güterzuges.
Bomben rollen an uns vorbei, riesige Bonbons auf einem Fließband. Werden sie in wenigen Wochen in einem fernen Land über eine Stadt fallen, wie von einem stark erkälteten Drachen ausgehustet?

„Das nenn ich mal Turbinen, ne?“, sagt ein Mann irgendwo hinter mir. Achso, Turbinen, auch gut.
Ich bin immer so damit beschäftigt, Leute auszublenden, um in Zügen lesen und schreiben zu können, dass ich ganz verlernt habe, mal zuzuhören.
Hinter mir ein lauter werdendes Gespräch einer Clique, die zum einem Festival unterwegs ist. Es geht um Feminismus, eine Frau sagt:

„Was die Gesellschaft uns als Fortschritt verkaufen will, ist doch, wenn Polinnen und Rumäninnen für uns putzen und Babysitten, während wir zum Yoga gehen. Als ob wir nicht merken würden, dass solche Arbeit dann immer noch ausschließlich von Frauen gemacht wird.“
Interessant, so habe ich nie drüber nachgedacht.

Ich nehme mir vor, in den nächsten Wochen mehr zuzuhören, mehr nach außen zu schauen, nicht alle Antworten in mir selbst finden zu wollen. Ich starre eine weitere halbe Stunde bewegungslos aus dem Fenster, lasse Letmathe auf mich wirken, höre zu. Ich bin völlig durchgefroren. Ich bin völlig frei.
Die Fahrt geht weiter. Fast bin ich ein bisschen enttäuscht.

Mehr von Lisa Kaufmann

Tier, das

Scheiße war mein erstes Wort. Scheiße, Hundescheiße, ist doch scheiße, scheiße, halt die Fresse!
Wahrscheinlich kannte ich vorher schon ein paar Worte, aber das war das erste, nachdem ich entschieden hatte: Ich muss diese Sprache lernen. Wie soll ich jemals irgendwas kapieren, ohne diese Sprache zu verstehen?
Scheiße war also das erste. Es war leicht abzuspeichern. Scheiße rieche ich jeden Tag, die Verknüpfung war da. Dann kam Liebling dazu und Futter und Haltsmaul und Fernsehen und Fernfahrer und McDonalds und Mamaistda und Drecksköter. Und Krankenhaus und Frauenhaus und fickdich und Baby und dann hatte ich die Basics zusammen.
Im Nachhinein hätte ich mir die Mühe sparen können. Hat alles keinen Sinn ergeben, auch nicht in Worten.
Als ich ankam, sah es eine Weile echt gut aus. Das Kind nannte mich Meinhund, auch wenn mein Name Mufasa ist. Sie gaben mir etwas zu essen und zu trinken und gingen mit mir in einen Park. Ich zeigte mich von meiner besten Seite, wedelte mit dem Schwanz, wenn sie mich ansprachen, weil Menschen so etwas freut und lief wie ein Bekloppter hinter dem Stock her, was halb Show war und halb Instinkt. Abends bekam ich eine eigene Decke im Zimmer des Jungen und als die Mutter den Raum verlassen hatte, legte er sich zu mir auf den Boden und kraulte meinen Rücken. Dann hob er mein Ohr mit seiner Hand, an der Marmelade klebte, und sagte: „dubistmeinbesterfreund“. Auch wenn ich das damals noch nicht verstand, fühlte es sich gut an.
Zwei Tage später kam der Mann nach Hause. Der Mann hatte kräftige Füße und enorme Waden. Auf die eine war ein Totenkopf gemalt, auf der anderen stand HAGEN in welliger Schrift.
Die Frau hörte auf zu sprechen. Sie wurde kleiner, sie schrumpfte. Sie hörte auf zu essen, aber so schnell wie sie das wollte, verhungern Menschen nicht. Sie sprach immer leiser, sodass sich am Ende ihrer Sätze nur noch die Lippen bewegten. Die Frau lief, als würde sie versuchen zu schweben. Der Junge wuchs ein bisschen, hielt sich aufrecht und mich fest. Ich entschied, ihm nicht mehr von der Seite zu weichen, ihm immer durch die Wohnung zu folgen.
Der Mann schlief viel und wenn er aufwachte, lief er herum und suchte nach Fehlern. Einmal fand er Staub auf einer der Stuhllehnen im Wohnzimmer, da hob er den Stuhl und schmiss ihn auf die Frau. Ein anderes Mal erwischte er den Jungen, wie er mir ein Stück Currywurst gab und schlug ihm mit der Hand ins Gesicht. Das ging drei Tage so und dann war der Mann verschwunden.
Die Frau schaute den ganzen Tag Fernsehen, was mich freute, weil ich so neue Worte lernen konnte: Mord. Staatsanwaltschaft. Cousin. Ralf. Verdacht. Messer. Wut. Gefängnis. Lebenslänglich.
Ich wäre gerne mehr vor die Tür gegangen, gab mir aber Mühe einzuhalten und nicht zu winseln, bis der Junge aus der Schule kam und mit mir raus ging. Wir liefen den ganzen Nachmittag in der Stadt herum, manchmal holte er uns Döner und auch wenn ich wusste, dass ich schrecklichen Durchfall bekommen würde, konnte ich nicht anders, als ihn zu essen. Diese Nachmittage waren perfekt. Manchmal gingen wir zur Ruhr und ich durfte schwimmen, manchmal liefen wir bis zum Buschey-Friedhof. Ich wälzte mich vor Familie Elbers, spielte, ihr prachtvolles Grab sei meine eigene steinerne Hundehütte. Wir rannten auf dem Flugplatz um die Wette und ich ließ ihn gewinnen. Der Junge redete und redete, erzählte mir von Pia, von Mathe, von Pausenbroten, mehr von Pia und von einer extra Klingel, die klar macht, dass Mathe vorbei ist. Pia versuchte ich abzuspeichern. Ich dachte, es bedeutet sowas wie Liebe.
Ich roch, dass der Mann wiederkam. Ich roch es an der Angst der Frau. Beißender Angstschweiß in der ganzen Wohnung. Sie putzte und der Junge und ich räumten auf, statt draußen zu sein. Als der Mann den Schlüssel im Schloss umdrehte, versteinerten die beiden und ich stellte mich vor den Jungen. Der Mann kam mit seinen schweren Schritten ins Wohnzimmer und setzte sich in den Sessel. „Watt steht ihr da so blöd? Mach ma Essen“, sagte er und wir gehorchten.
Abends schauten wir zusammen Fernsehen, aber es war nicht das Gleiche. Im Kinderzimmer musste ich dem Jungen versprechen, dass ich den Mann nie beißen würde, egal was er tat, weil der Mann mich sonst wegschicken würde.
Am nächsten Morgen war die Frau einkaufen und der Junge in der Schule. Ich war allein mit dem Mann und hatte Angst. Mit eingezogenem Schwanz saß ich im Zimmer des Jungen und versuchte, mich unauffällig zu verhalten. „Komm mal her. Hey Köter!“, rief er und ich schlich vorsichtig um die Ecke zum Wohnzimmer. Der Mann klopfte auf das Sofa neben ihm. War das ein Trick? Ich durfte nicht auf das Sofa, diese Regel hatte er selbst erfunden.
Ich ging ein paar Schritte auf ihn zu, er klopfte weiter, aber verzog keine Miene. Weil ich mir nicht anders zu helfen wusste, sprang ich mit einem großen Satz aufs Sofa. Der Mann hob seine riesige Hand und ich erwartete eine Attacke, aber er legte mir die Hand in den Nacken und fing an, mich zu kraulen. „Bist ja ein Guter“, sagte er und ich konnte nicht fassen, was ich hörte. Er kraulte mich ausgiebig einige Minuten lang und gerade als ich begann, mich zu entspannen, hörten wir den Schlüssel im Schloss. Der Mann schob mich mit einer schnellen Bewegung vom Sofa, ich kam hart auf dem Boden auf. Ich drehte mich nicht um, schaute ihn nicht an. Ich wusste, dass das unser Geheimnis bleiben würde und lief zur Tür, um die Frau zu begrüßen. Sowas freute sie.
Abends hörten der Junge und ich den Mann herumschreien, hörten, wie etwas, jemand, fiel. Wir zogen uns die Decke über die Köpfe.
Nach drei Tagen war der Mann wieder weg.
Am nächsten Tag, als der Junge in der Schule war, setze die Frau sich neben mich auf meine Decke und weinte. „Warum kann er sich nicht für sein Kind zusammenreißen?“, fragte sie mich und kurz wollte ich ehrlich sein und sagen: „Weil er dich mehr hasst als er irgendetwas liebt.“ Aber ich wollte ihr nicht noch mehr weh tun.
Acht Wochen ging das so. Der Mann war vier Tage weg und drei Tage da. Vier Tage Frieden, drei Tage Terror. Es war ein Rhythmus, an den ich mich gewöhnt hatte, aber lange konnte es nicht so weitergehen.
Wenn der Mann da war, blieb ich nachts wach und passte auf den Jungen auf, auch wenn das schwer war. Dann, vor sechs Tagen, nannte der Mann mich Drecksköter und trat mir in die Rippen. Es tat höllisch weh und ich musste mich ganz auf mein Versprechen konzentrieren, um den Mann nicht anzugreifen.
Der Junge stand daneben und weinte, aber ich sah, dass er nicht traurig war, er war wütend.
Ich versuchte, schnell mehr Wörter zu lernen, versuchte mir jedes neue, das ich hörte zu merken und für immer abzuspeichern.

Jetzt weiß nur Pia, wo wir sind. Sie bringt uns Sachen von zu Hause: Klopapier, eine gebrauchte Zahnbürste, ein paar Unterhosen ihres Papas, gestern sogar eine Dose Fisch.
Ansonsten finden wir Essen in Mülltonnen. Wir schlafen in einem Busch. Der Junge hat extra meine Decke mit. Er deckt mich damit zu, aber sobald er eingeschlafen ist, lege ich die Decke über ihn und mich daneben ins Gras. Wir laufen weit, fahren sogar mit einem Bus, mein erstes Mal. Ein bisschen vermisse ich das Fernsehen und das flauschige Sofa, auf dem ich meistens heimlich und manchmal mit Erlaubnis gelegen habe.
Trotzdem: Wir sind glücklich hier draußen.

Der Junge erzählt mir                                                                              viel,
ich mag den                      Klang seiner Stimme. Aber ich habe aufgehört,
neue Worte zu lernen. Sie sind nicht Macht, nur Laute.
Keine Worte
mehr,

n ur Liebe.

Schei ße.Fell. Lieb e.St                                  o c k. Hau t.Zun ge.Liebe. Ic hdachte m
ir wür dendi e Wo rte fehlen um al
les zu                                         ver stehena ber d ie Wortegibt e s ni cht.

Ke in eW orte m ehr. N ur Lie
be.

Mehr von Lisa Kaufmann