Schreiben in Bewegung

Ort: quer durch NRW | Datum: Do, 31.08. 2017– Fr, 08.09.2017 | Wetter: Herbstanfang

Sie wischen am Fenster vorbei, halten stellenweise kurz inne, warten einen Moment, bevor sie weiterziehen: Münsterland, Ostwestfalen, Hellweg, Ruhrgebiet, Bergisches Land, Rheinschiene, Region Aachen. Städte und Stadtteile, Weiß auf dunkelblauem Grund. Daneben beschriebene und beklebte Bänke. Plakatwände auf Backstein und Beton. Aufgemalte gelbe Vierecke am Boden, von denen sich Rauchfäden gen Überdachung spinnen. Am Schotterrand des Bahndamms, unweit der Schienen, blüht der Schmetterlingsflieder. Vor Bahnhofsgebäuden, Industriebrachen und Fabrikskeletten dicke lilafarbene Blütentrauben.

Erstmals seit Beginn des Projekts lasse ich den Bulli eine Woche lang zurück. Eine Woche in fremden Betten. Fremde Vorhänge. Fremder Kaffee. Eine Woche voller Fahrpläne, Ankunfts- und Abfahrtszeiten. Bus, S-Bahn, Straßenbahn. Taxis und Mitfahrgelegenheiten. Eine Woche lang quer durch NRW. Das Steuer nicht mehr in der Hand. Dafür Hände, Augen und Ohren offen für das, was ich sonst umfahren habe. Das Umsteigen. Das Warten. Fester Streckenverlauf. Kilometerlange Schienennetze und S-Bahn-Linien.

Tausche Mittelstreifen auf Asphalt gegen Betonsprossen auf Schotter.

Aachens Norden: das Depot. Noch ist es den TaxifahrerInnen nicht geläufig – in seiner heutigen Funktion. Ein Ort der Begegnung, des Austausches. Steigt man ins Untergeschoss, kreuzt man noch den Weg der Schienen. Einst trafen hier Busse und Straßenbahnen ein. Instandhaltung, Reparatur, Neujustierung. Heute sind es Interessierte, Autorinnen und Autoren sowie ProjektkoordinatorInnen, die Bergfest feiern. Zwischenfazit ziehen. Stadt, Land und Text präsentieren, begutachten, justieren. Und dann wieder raus, auf die Schienen, die Straßen, die Regionen.

Köln: Hauptbahnhof. Über den Rhein und die Hohenzollernbrücke, die mit jeder Liebesbekundung schwerer wird, fährt man auf ihn zu. Den Dombau. „Wennse vorne fertig sind, fangense hinten wieder an.“ Einfahrt in den Bahnhof. Der Verkehrsknotenpunkt zurrt sich zusammen. Am hinteren Ausgang die Bahnhofsbuchhandlung Ludwig, noch immer. Eine Lesung mit Koffertreiben im Augenwinkel. Nicht nur mittwochs schweift der Blick über Anzeigentafel, Bahnschalterschlange, Fahrpläne hinter Plexiglas, während das Ohr der Spur der Bücher folgt.

Am Rande Ostwestfalens: St. Vit. Ein ganzes Dorf in Bewegung: von Bobbycar-Rennen über Bambini- und Schülerlauf bis zu 4,8- sowie 10-km. START – Kreisfeuerwehrschule, Kirche, Kindergarten, Fichtenbusch, Friedhof, Flüchtendenunterkünfte – ZIEL. Fahnen schmücken die Straßen ringsum. Wer nicht mit seinem Laufen Gutes tut, feuert die rund 1000 LäuferInnen an. Musikgruppen, Cheerleader, Wasserstationen. Oder sitzt mit Nachbarn und Freunden an der Strecke. Auf der Bierbank vor der Garage. Bei Start- und Zielgeraden gibt‘s Kuchen, Kaffee, was Warmes.

Für die Sieger ein großes Weizenbier. Von der Brauerei um die Ecke. Ich bin fast zurück.

Über Land blickt man nachts durch Panoramascheiben ins Dunkel. Der Außenraum verwehrt ein Durchdringen, der Innenraum hell erleuchtet. Dazwischen die Funklöcher. Gegen Mitternacht nur noch wenige Blicke, die man treffen könnte. Während der Fahrt also erstmals wieder der Griff zu Tinte und Papier. Schreiben in Bewegung. Kugel und Räder rollen gleichmäßig. (Ge-)Schichten überlagern sich. Orte im Wandel. Momentaufnahmen. Zwischendrin Innehalten, erleuchteter Bahnsteig, Schotter und Schienen. Irgendwo im Dunkeln der Flieder.

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Hier und Nichthier

Ort: Burg Hülshoff | Datum: Sa, 26.08.2017 | Wetter: bewölkt, 19°C

Der Parkplatz füllt sich schnell. Die Leute strömen. Um das hier! zu sehen. Die Sehnsucht in die Ferne. Und das NICHTHIER. Ich bin gerade – in der Mitte. Zwei Monate mit dem Bulli unterwegs durch das Münsterland. Immer ein Stück zuhause dabei: mein Bett, meine Bücherkiste, mein Draht zur Welt. Durch die Windschutzscheibe jeden Tag ein neuer Ausblick. Vor der Tür jeden Tag ein neuer Vorgarten. Bin ich hier oder nichthier, in der Fremde oder doch noch im Eigenen? Vielleicht ist auch die Grenze dazwischen bewohnbar. Die Bewegung. Für kurze Zeit. Wenn die Unruhe nicht wäre.

„Rastlos treibts mich um“

Ein Fünftel ihres Lebens verbrachte die Droste auf Reisen. Zehn Jahre bewegte sie sich auf familiären Routen. Ostwestfalen, der Bodensee, die Schweiz und die Niederlande. Etwa die Hälfte ihres Werks entstand auf Reisen. „The World as Raw Material.“ Ohne das Unterwegs-Sein, in Gedanken wie auf der Straße, hätte auch ich den Großteil meiner Texte so nicht schreiben können. Begegnungen. Menschen in Bewegung. Abgelegene Orte. Ich habe einige gesehen und werde noch einige aufsuchen. Von manchen hatte ich zuvor gehört. Über andere bin ich gestolpert, habe sie auf meinem Weg für mich entdeckt. Einige habe ich beschrieben und geteilt.

„Sehnsucht in die Ferne“ ist der Titel der Ausstellung. So nennt die Droste ihren ganz persönlichen „Plagedämon“. Immer dort sein zu wollen, wo sie nicht ist. Die Sehnsucht in die Ferne immer auch eine Sehnsucht nach dem (anderen) Hier? Nach weiblicher Selbstbestimmung, nach Handlungsmacht? Eine erträumte Freiheit im Schreiben, im heimlichen Lösen des gebundenen Haars. Eine Frau. Unverheiratet. Betritt man die Ausstellung, tritt man zunächst wie selbstverständlich den Reisegefährten entgegen. Auf Augenhöhe. Manchmal begegne ich ihnen auf meinem Road Trip. Dann erntet meine Antwort – „Ja, genau, ich bin allein unterwegs, mit dem Bulli“ – Stirnrunzeln und hochgezogene Augenbrauen.

Daneben dann das Reisegefährt. Die Postkutsche, die Eisenbahn, das Dampfschiff. Technische Entwicklungen ihrer Zeit veränderten das Wie und das Wohin der Reise. Mein Gefährte und Gefährt wäre vielleicht auch etwas für die Droste gewesen: Der Bulli als ein Stück Eigenes in der Fremde. Und statt mobiler Münzsammlung die Bücherkiste. Statt Erpernburger Butterbröde der Filterkaffee im Thermobecher. Und die Rastlosigkeit. Die Unruhe. Sirenengesang der Ferne oder „klingts wie Heymathslieder“? Sehnsucht – in beide Richtungen? Flucht. Suche. Traum. Ziel. Rückkehr.

„Mein Indien liegt in – “

Sehnsucht treibt die Schreibenden um. Nach Räumen. Vermeintlich fern, vermeintlich nah. Die musikalische Performance „NICHTHIER“ lässt die Droste ebenso zu Wort kommen wie westfälische KünstlerInnen der Gegenwart. Ersehnen von Orten. Von Aufbrechen und Ankommen. Nach globaler Entgrenzung und lokaler Verortung. Stimmen sprechen von Westfalen und der Welt. Das Eigene braucht immer auch das Fremde. Zur Abgrenzung. Zur Selbstvergewisserung. Zur Verortung. Wobei beides zum Sehnsuchtsort werden kann: Heimat und Fremde. Heimweh und Fernweh. Im Sehnen scheint die Unmöglichkeit schon verankert – ein künstlerischer Motor?

Wo entsteht Kunst? Was ist der richtige Ort des Schaffens? Der DichterInnen-Ort. Der Ich-Ort der Poesie. Braucht es Sesshaftigkeit oder Bewegung? Verwurzelung oder Ungebundenheit? Den Rückzug ins Ich oder das Mitten-in-der-Welt-Sein? Um Inspiration zu finden. Um kreativ sein zu können. Annettes Ort kann man in der Ausstellung aufsuchen. Die virtuelle Realität ist vor allem – schwer. Im Schaukelstuhl sitzend halte ich die Brille mit beiden Händen. Bin hier, bei mir, das Kissen im Rücken. Das Schaukeln. Bin nichthier, wo sich das Licht im Wassertropfen am Rocksaum bricht, im Grase. Bewege mich. Stetig vor und zurück.

Was sind meine Souvenirs? Was nehme ich mit von meiner bisherigen Reise durch das Münsterland? In meinem „Schatzkästlein“ liegen: ein Stück Sandstein, eine rosafarbene Feder, ein Festivalbändchen, eine venezianische Maske. Mein Atlas des Münsterlandes, der mit jedem besuchten Ort dicker wird. Mehr Zettel ansammelt. Und verschiedenste Texte, die ihren Weg hinein und hinaus finden. Hier dann die Postkarten meines Road Trips. Von: Mir. An: Alle, die mögen. Briefmarke: Sehnsucht in die nahegelegene Ferne, ins Fremde im Eigenen.

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NACKT in Roetgen

Wie gerade von der Mutter geboren, liege ich in Roetgen auf einer grünen Wiese. Nackt. Wie siebenundzwanzig andere wildfremde Menschen um mich herum, die vor hundert Jahren eingeschlafen sind und vergessen haben, aufzustehen – Frösche, die vergeblich auf einen Kuss warten…

Der Anblick der fremden Haut auf den Plastikliegestühlen der Saunalandschaft in Roetgen -, alt, faltig, ohne Spannkraft –  verwirrt mich. Meine Augen wissen nicht, wohin sie schauen sollen. Das linke Auge blickt brav in Richtung der Köpfe, studiert die Falten und Gesichtszüge des Fleisches. Das rechte, freche, das Froschauge, rutscht nach unten, bleibt zwischen ihren Beinen, glotzend: buschige Monster, graue Ungeheuer, die einmal, vor vielen Jahren, ein junges, rosa, zartes Würmchen gewesen sind, unschuldig, verschämt, bevor sie sich auf die Jagd nach rasierten Prinzessinnen, bunten Punks, und toupierten, wilden Irokesinnen gemacht hatten.

 Adams Mutter

Die Sonne strahlt, das fluoreszierte Grün leuchtet, kein Geräusch weit und breit. Nur Dösen, in die Ferne blicken, Augen zu und wegtauchen. Die Welt versinkt in einem träumenden, halbwachen Mittagschlaf. Mit mir. Die dünne weiche Matte unter mir saugt mich ein. Vor mir taucht Adam, mein Urvater, auf.

Wie ein unglückliches Kind in der Kleidung seines älteren Bruders, das nach der Mutter sucht, setzte er sich, müde, erschöpft, verloren, auf eine weise Plastikliege.

Wie ein vom Thron gestürzter König, umfasst er seinen Kopf mit beiden Händen.

Wie die letzte Ahnung, die er nicht aufgeben will, die Zärtlichkeit, Wärme, das Vertrauen des Mutterschoßes zu finden, legt er seinen schweren Kopf, aufgeschraubt auf den wie ein Akkordeon gefaltetem Rumpf, auf die weiche Lehne und schließt die Augen.

Sein blasses Gesicht klebt an dem weißen Plastik wie verwachsen. Er umarmt seinen kahlen Schädel als ob er überlege, ob die Suche nach der Mutter noch einen Sinn mache.

Seine müden Beine, schräg übereinander gekreuzt und sein Unterkiefer, der seine Unterlippe fest beißt, scheinen in jeden Moment engültig zu entscheiden, die Suche nach der Mutter einzustellen, und alles, was er je bis jetzt gesehen, gehört, gerochen, getastet, geschmeckt, gehofft, gedacht hatte, einfach zu vergessen.

Adam schläft ein, nackt, verloren, einsam.

ln dieser gefalteten Position liegt er nun seit genau dreitausend Jahren wie der Frosch, den man vergessen hatte zu küssen, bevor man ihn gegen die Wand geworfen hatte.

Neben dem im Schlaf versunkenem Adam, wacht seine Partnerin, nicht viel jünger als er. Eine schöne Frau. Eva vielleicht. Wenn Eva versucht Adam, den Alten, zu wecken, ohne ihn zu küssen, wechselt er sie im Schlaf aus. Seine Evas werden immer jünger, attraktiver und anspruchsvoller. Leider haben sie immer weniger Lust, wenig Mitgefühl oder Liebe zu Adam, ihm, der immer älter und schlapper wird, zu küssen. Sie liegen neben ihm einsam, unglücklich, drehen ihm den Rücken zu und knurren: er solle endlich mal wieder wach werden, er solle aufhören zu schnarchen, er solle sie nicht weiter warten lassen…

Adam schläft weiter und lässt Evas kommen und gehen. Mit beiden Händen umschließt er seinen kahlen Kopf, immer fester, als ob er auf diese Welt gekommen wäre, allein, um zu üben, sich selbst in Schutz zu nehmen. Um sein Leid und alle Katastrophen zu verschlafen.

 Des Königs neue Kleider

Adam dreht sich nie um. Er will die Zukunft nicht verpassen.

Sein Haar fällt aus in Büschen und fängt woanders an zu wachsen. Ganz wild, wo man es nie erwarten würde. Wo es gar nicht hingehört: in der Nase, in Ohren, auf der Zunge, in der Suppe.

Er sucht nie das Haar in der Suppe. Er isst einfach, alles was er kriegt. Das Essen ist das einzige, was ihm, dem Greis, noch Freude macht.

Seine Freude hat Nebenwirkungen. Sie wächst in seinem Bauch. Wird immer dicker. Wie ein Kind im Bauch einer Frau, die zum erstenmal eine Frucht unter ihren Brüsten spürt, das in siebenundzwanzig Wochen auf die Welt kommen wird, spürt nun Adam die warme Milch in seinem Bauch, eine Mischung aus Lust auf die Mutter, die er nie hatte, und Angst, er könnte es ihr, so wie er ist, nie recht machen und ihre Sehnsüchte nie stillen. Genauso wie er, der Erstgeborene, es seinem Vater nicht recht machen kann, der ihm im Schlaf seine Rippen brach und eine entriss, um ihm daraus eine Frau, die Eva, zu basteln.

Adam schläft.

Seine Mutter – warum gibt es sie nicht? Warum hat er, der Adam, der Erstgeborene, keine Mutter? Was hat sein Vater ihr angetan? Was verschweigt er ihm? Warum fragt ihn keiner nach seiner Mutter? Warum tun alle so, als ob es selbstverständlich wäre, ohne Mutter auf die Welt zu kommen..

Seine Haut hängt wie ein Sack. Seine Augenringe hängen, sein Bauch hängt, seine Hoden hängen. Alles an ihm hängt. Alles um drei Nummer zu groß. Wie damals bevor er die Suche nach seiner Mutter, nach ihrer Umarmung, für immer aufgegeben hat. Wie ein betrogener König, der seinem Vater vertraut hat.

Evas Apfel

Eva liegt neben ihm . wie eine Wachsfigur, die vergeblich bei dem schlafenden Adam nach Halt sucht. Sie spürt das Bedürfnis, sich zu bewegen, frei zu sein, aus dem Paradies auszubrechen.

Sie will, gehört werden, von ihm, ihrem Partner. Er soll verstehen , was sie schmerzt .

Adam liegt neben ihr, mit von ihr abgewandten Rücken und schnarcht. Bevor sie die Sätze, die sie ihm sagen wollte, in ihrem Kopf fertig ausformulieren konnte, war er fort.

Wann wird er seine Augen endlich aufmachen, sie anschauen, ihr ein schönes Wort sagen? Sie küssen?

Die Sonne knallt. Eva im Halb-Sitz-Halb-Liegen-Position hebt den Kopf. Sie knickt ihr linkes Bein in der Mitte, das knochige Knie zieht sie zu ihrer Brust, umarmt es mit beiden Händen, ganz fest, als ob ihr drei Tausend Jahre und ein Tag langes Warten auf ihn, einem einfühlsamen Partner, in diesem Moment aufgbe. Ihr Blick wandert über die grüne Wiese, das kochende Plantschbecken, in dem das nackte faltige Fleisch einer fülligen Dame vor sich hin schmort, und landet zielstrebig auf dem hängenden Bauch ihres schnarchenden Königs, rutscht ein Stück weiter und bleiben kleben an seinen beiden in grauem Gebüsch zerknitterten Hoden. Eva beißt sich auf die Lippe, in dem Moment fällt ein Apfel auf ihren Kopf. Ihr Stirn faltet sich zu einem Fragezeichen. Der Adam neben ihr murmelt im Halb-Schlaf, er habe Hunger.

„Unterhaltung untersagt!“

 Die Überschrift in der achtzig Grad heißen Edelkristallsauna lese ich atemlos.

Die nackten Menschen, die über und unter mit mir auf den Holztreppen tapfer hocken und hauchen, machen, was sie lesen. Sagen nix.

Die Schrift bittet sie freundlich aber aufdringlich, zu schweigen.

Ich mag keine Befehle und unterhalte mich ernsthaft mit meinen Gedanken.

Nein, ich habe nichts gegen die nackte Wahrheit. Ja, aber ich bin katholisch erzogen.

Ja, wie die meisten hier im Thermalbad, in Roetgen… Aber ich gehe öfter in die Sauna als in die Kirche…

Nackt, nachdenklich und nüchtern marschiere ich, das Kind von Adam und Eva, aus dem heißen, verschwitzten Raum und springe in das kalte Brunnenbecken.

Auf der grünen Wiese mit siebenundzwanzig weisen Plastikliegestühlen suche ich mir dann einen Platz in der Sonne.

Wie von der Mutter frisch geboren, liege ich dort wie alle: unsichtbar, nackt, mürrisch, alleine.

Ich grüße niemanden. Schweigsam beobachte ich die fremden Körper.

Wie eine neue Kollektion der Königskleider.

Wie eine Modenschau, ausgestellt auf siebenundzwanzig weißen Plastik-Thron-Stühlen

Die Nacktheit, ihre, meine, unsere, verbindet uns sofort,

wie Peinlichkeit, der sich keiner entziehen kann,

Wie die neue Verschwörungstheorie kurz vor den Wahlen.

Integriert in die erzwungene Nacktheit, schläft das Kind von Adam und Eva ein und träumt von einer Burka, unter der es sich vor allen diesen nackten Menschen verstecke könnte.

 Bikini in Paradies

Am Frühstückstisch der Hoteltherme sitze ich am nächsten Morgen alleine und studiere die wildfremden Gesichter,

Befreit von der Last ihrer nackten Körper, wirken sie so ausgeschlafen, so völlig normal.

Welches Gesicht gehört aber zu welchem Körper aus der Saunalandschaft? rätsle ich vergeblich.

Welcher Frosch wurde in der Nacht geküsst?

Sie atmen den Morgenkaffeeduft ein, klopfen ihr Vier-Minuten-Frühstücksei, schneiden das Kornbrötchen in der Mitte auf, schmieren Butter und Marmelade.

Die Stille im Frühstücksraum könnte ich mit dem Messer schneiden.

Am Nachmittag sitzen im Restaurant an meinem Stammtisch zwei Katharinas: eine entspannte Bistro-Wirtin aus demNachbarort mit sehr gespannter rosa Haut, die jeden Dienstag ihren Ruhetag hier in der Sauna feiert und eine angespannte IT-Spezialistin aus Los Angeles, die ihre stressige IT-Aufgaben mit dem Familienbesuch in Deutschland zu verbinden versucht. Was ich in Roetgen, dem längsten Dorf Deutschlands suche, wollen die beiden Damen wissen.

„Die nackte Wahrheit!“, gebe ich zu: „Ich erforsche an meiner eigenen Haut, was die Menschen dazu treibt, sich bis zum letzten Kleidungsstück vor wildfremden Menschen freiwillig auszuziehen und stundenlang ohne Pieps nebeneinander herumzuhocken, zu liegen, schwitzen, schmoren. Und so tun, als ob es das Normalste auf der Welt wäre, seine Organe, sein Fett, Falten, die fade Haut, alle Monster, die Schamhaare, Hoden, Titten, wie auf einem Teller zu präsentieren“..

Ich frage,  ob das die wirkliche Freiheit sei? Oder eher die Sehnsucht nach dem verlorenen Garten Eden, dem Paradies, das uns unsere neugierige, ungeduldige, selbständige, rachsüchtige Mutter für immer gestohlen hat?

„Nackt sein – die neue Uniform? Die neue Kollektion der Könige, die wir auf unserer Haut spüren wollen?“, werfe ich meine vielen Dilemma in die Runde.

Die IT Spezialistin Katie aus Los Angeles richtet sich auf, als ob ich ihre Gedanken gelesen hätte, Sie schüttelt   entschlossen ihren Kopf: Es sei alles „Fake“, meint sie.

„Alles Show. Selbstbetrug“.

Nacktsein unter wildfremden Menschen sei alles anders als natürlich, sagt sie. Es sei eine typisch deutsche Erfindung, ihre verkrampfte, wahre Natur hinter der nackten Haut zu verstecken! Das könne sie, als geborene Deutsche, die in 16 Jahre Amerika die wahre Erfahrung mit der Freiheit habe testen können, wohl am Besten beurteilen..

„Die Amerikaner gehen in die Sauna nur im Bikini, sie sprechen aber so frei und laut, wie auf der Straße, im Büro, im Restaurant auch“, sagt sie mit triumphierendem Unterton.

„Wir, die nackten Deutschen, schweigen immer, wie im Grab…“

Katty, die Bistrochefin, deren Klientel, die Dauer-Camper aus Holland, Belgien und Deutschland sind, die ihre Freiheit nach der Pensionierung in Wohnwagen bei Hitze, Regen und Eis ausleben, nickt. Sie fühle sich auch nicht ganz wohl so nackt in der Sauna, ständig denke sie, wie sie in den Augen den anderen wirke, und sie wisse auch nicht, wohin mit ihrem Blick. Im Bikini aber, sei es bestimmt noch schlimmer…

Als die Diskussion um die nackte Haut immer heißer wird, leuchtet bei der IT-Katie das Handy. Ihr amerikanischer Chef sei es, sagt sie, und eine tiefe Falte zeichnet sich zwischen ihren Augenbrauen. Sie fühle sich wie per Mausklick über Kontinenten gesteuert, sagt sie nach dem Gespräch und geht.

Als ich am späten Nachmittag im Bademantel die Sauna wieder betrete, sehe ich über die Wiese in Richtung Plantschbecken zwei junge, schön geformten Körper, ohne ein Gramm Fett in kreischend roten Bikinis, grazil schreiten. Alle Augen kleben an den beiden jugendlichen Rebellinnen. Meine auch.

„Oh Gott, wie still es hier ist…? sagt die eine.

„Wie damals als Gott Adam erschuf“, sagt die andere.

„Ja, bevor er den ersten Fehler machte: Eva aus Adams Rippe zu basteln …“sagt die erste und sie kicheren in dem Garten Eden mit den weißen Plastikliegen…

 

„Regelmäßiges Saunabaden stärkt die Abwehrkräfte, beugt kleinen Erkältungskrankheiten vor, ist Training für Herz und Kreislauf, reinigt die Haut und last but not least bewirkt die vegetative Umstimmung eine einmalige Entspannung, die man nur beim Saunabaden erfahren kann…“

https://www.roetgentherme.de/saunadorf/

Mehr von Slavica Vlahovic

Selbst ist der Südwestfale

disclaimer: Manche Rosen sind schon Hagebutten. Es ist Halbzeit bei stadt.land.text. Zeit, für einen kleinen Zwischenstand.
Und Zeit, für eine kleine Klarstellung: Ich bin nur ich. Meine Meinung, mein Blick auf Südwestfalen ist nur ein Blick.
Um mir einen Eindruck zu machen, verallgemeinere ich ab und an – oder übertreibe. Manchmal aus literarischen Gründen, manchmal, weil ich melodramatisch bin und mich in Übertreibungen zu Hause fühle.
Südwestfalen ist zu vielseitig, als dass ich guten Gewissens über „den Südwestfalen“ reden könnte. Hagen zum Beispiel kommt mir wie ein Stück Ruhrgebiet vor, während ländlichere Teile Südwestfalens mich ans Schwabenland erinnern. Wenn ich hier von „dem Südwestfalen“ rede, meine ich wahrscheinlich jemanden, der auf dem Land lebt im Kreis Olpe, Siegen-Wittgenstein oder dem Märkischen Kreis.
Lange Rede, kurzer Sinn: Alle Angaben sind, wie immer, ohne Gewähr.

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In meiner Familie gibt es keine Unternehmer. Mein Großonkel Mahmud hat mir mal den Tipp gegeben, mich von jeder Form von Unternehmensgründung fern zu halten. So etwas scheitert bei uns anscheinend. Wir können schreiben, philosophieren, unterrichten, vielleicht Ingenieure oder Anwälte sein, Hausfrauen oder Schriftsteller, aber sobald jemand ein Unternehmen gründet, geht alles den Bach runter.
Mit dem Mittelstand ging es mir deswegen immer wie mit China. Ich glaube schon irgendwie, dass er existiert, aber war noch nie dort und habe auch nur ziemlich abstrakte Vorstellungen, worum es eigentlich geht.
Hier in Südwestfalen habe ich eine Mittelstand-Schocktherapie erlebt.
Auf dem Weg von meiner Wohnung zum Bahnhof laufe ich an Elektrikern, Dachdeckern und Friseuren vorbei, an Metzgern, Fliesenlegern und Klempnern.
Selbst(ständig) ist der Südwestfale.
Ein Journalist fragte mich kürzlich, wenn auch ein wenig geschickter, was das Ergebnis dieses Projekts sein wird. Immerhin gibt das Land ja Geld aus, das muss ja auch was bringen. Das kommt mir, mit Verlaub, wie eine südwestfälische Frage vor. L’art pour l’art ist hier keine verbreitete Haltung. Mehr so l’art pour la Attraktivität als Standortfaktor.
Also: Was „bringt“ das dieses Projekt? Im besten Fall erkunde ich Südwestfalen, lerne etwas über Land, Leute und Mentalität und halte meine Eindrücke, in literarischer Form oder weniger verschleiert, wie gerade jetzt, dann fest. Interessierte Südwestfalen, die Lust und Zeit haben, können diesen Blog lesen und finden es vielleicht interessant, einen (!) Blick von außen auf ihre Region zu erleben. Andere Menschen aus NRW, und sonst woher, können den Blog auch verfolgen und einen, meinen, Eindruck von Südwestfalen erhalten. Und auch die Eindrücke meiner Kollegen und Kolleginnen in den neun anderen Kulturregionen. Und dadurch entsteht dann ein Wimmelbild von zehn sehr unterschiedlichen Schreibenden auf die zehn sehr unterschiedlichen Kulturregionen NRWs. Mehr bringt es glaube ich nicht. Und muss es denn unbedingt mehr (ein)bringen?
Und wenn ich am Ende mehr über mich selbst als über Südwestfalen herausgefunden habe – muss ich mein Stipendium dann zurückzahlen?
Apropos Zahlen: Ich kann an einer Hand, an drei Fingern, um genau zu sein, die Menschen in meinem Leben mit eigenem Auto zählen. Die Tatsache, dass ich weder Auto noch Führerschein habe, ist vielen Südwestfalen unbegreiflich. Diese Region ist so weitläufig, dass ein Leben ohne Auto kaum funktioniert. Hier scheint es nur zwei mögliche Gründe für mein autofreies Leben zu geben: Bittere Armut oder ein radikaler alternativer Lebensentwurf.
Der Südwestfale liebt sein Auto. Vor allem, wenn es sich um einen BMW handelt.
Bei einem meiner Wanderversuche rettete mich ein Busfahrer, der mich hinter der Leitplanke in einem Gestrüpp fand. Wir unterhielten uns ein bisschen. Er fragte, ob ich Kroatin oder so bin, ich musste ihn enttäuschen. Er selbst kam aus dem Kosovo und ich freute mich, meinen eigenen Blick auf Südwestfalen mit jemand anderem, der nicht von hier kommt, zu vergleichen.
„Schön hier in Deutschland. Alle haben ein BMW und ein Haus.“ Stimmt, dachte ich.
Wenn man aus der Ferne kommt und in Südwestfalen abgesetzt wird, dann sind Kernstücke der deutschen Lebensweise ein dickes Auto und ein Eigenheim.
Schaffe, schaffe, Häusle baue – schon wieder eine Schwabenparallele. Hier wird gearbeitet. Für ein eigenes Auto, ein eigenes Haus, für die Zukunft. Es wundert mich gar nicht, dass die CDU in Südwestfalen so stark ist. „Für ein Deutschland, in dem wir gut und gerne leben.“, scheint wie geschrieben für diesen Teil von Nordrhein-Westfalen.
Die Selbst-Anpacken-Mentalität, die ich hier beobachte, spiegelt sich nicht nur in der Berufswahl wieder, sondern auch in der Freizeitgestaltung.
Hier in Südwestfalen ist mir klargeworden, wie verwöhnt ich Pottkind bin. Nicht, wenn es um Wälder und Berge geht, aber auf jeden Fall mit Blick auf das kulturelle Angebot. Von meiner Essener Wohnung aus bin ich innerhalb von Minuten bei einem der renommiertesten Museen des Landes, bei einem Kunstkino, der Philharmonie, im Ballett und in der Oper. Nie muss ich mich selber kümmern, damit mir etwas geboten wird.
In Südwestfalen ist das anders. Je ländlicher es wird, desto mehr scheinen die Menschen selbst anzupacken und zu singen, zu handwerken, zu tanzen….. Viele Menschen, die sich niemals als Künstler bezeichnen würden, sind hier doch Kulturschaffende.
Das gefällt mir.

Mehr von Lisa Kaufmann

Resümee einer Halbzeit

Zur Halbzeit meines Aufenthalts in Ostwestfalen-Lippe breche ich kurz mit meiner Konvention und breche meine Zeit hier ein wenig herunter.
Um am Anfang anzufangen, muss ich ehrlich gestehen, dass ich außer ein paar Auftritten in einigen lautmalerischen Städten wie Lemgo, Detmold, Altenbeken, Bad Driburg, dem viel bescherzten Bielefeld, Minden und Paderborn diese Kulturregion nur als grünes, verschwommenes Füllmaterial zwischen Himmelsrichtungen aus einem Zugfenster betrachtet habe, oder Ausharrpunkt eines Verspätungs-/ bzw. Strandungsunfalls einer Regionalbahn auf der Durchreise.

Tatsächlich hatte ich mich für eine andere Region beworben. Zum Glück bin ich hier gelandet.
Völlig unvoreingenommen stolperte ich also in den ostwestfälischen Sonnenschein am Tag meiner Ankunft und war schon in diesem Moment ziemlich überrascht, denn es gab hier Sonnenschein.

Aus vielen Aufenthalten in Nordrhein-Westfalen, wusste ich, wie unterschätzt dieses Bundesland ist. Die Rechtfertigung, warum ich in Heidelberg aufgewachsen, dann nach Berlin, nach Marburg und letztendlich nach Bochum gezogen war, tat ich irgendwann mit einer müden Handbewegung ab. Es gibt einfach Banausen, was die verborgene Schönheit von Städten und Regionen angeht. Angenommen, man kommt in Heidelberg an und sieht nur den Bahnhof, würde man lieber in Bochum sein.
Warum ich jetzt aber aus Hamburg nach Herford gesandt wurde, konnte ich noch keinem so richtig erklären, vor allem, weil ich selbst auch nur das Marta kannte, als Architekturfreund, aber nicht die genaue Verortung erklären konnte.

Seitdem habe ich fast jeden Tag damit verbracht eine kleine neue Ecke dieses unergründeten Landstrichs für mich zu erobern. Vom Stehen in überfüllten Regionalbahnzügen, Staunen über von einem Smartphone nicht photografierbarer Naturwunder, Warten im Regen auf Busse, die nur sehr, sehr selten fahren, Kartografieren der Landschaft für ein Gefühl von Heimkehr, seltenem Unvermögen aufzuschreiben, was ich empfinde, Hektik bei manchen Begegnungen, Gelassenheit bei vielen Erkundungen, Wespengarnisonen, die sehr gefährlich für mich sind, nicht selten dem ein oder anderen fragenden Blick ob meines hier auffallenden Kleidungsstils, glücklichem Sonnenbrand nach einem durchwanderten Tag, bis hin zu dem Punkt, wo man weiß, dass man es mag, hier poetischer Forschungsbeauftragter zu sein. Es wäre tatsächlich etwas anderes gewesen mit einem Auto, es wäre zu klein gewesen mit all den Erinnerungen an Bord.

Meine größte Schwierigkeit bestand darin, die Unwegbarkeit der Ländlichkeit Ostwestfalen-Lippes mit mir selbst abzuklären, manchen Veranstaltungen oder Orten in meinen Möglichkeiten nicht gerecht werden zu können, nämlich der Fähigkeit ein Auto zu fahren und zu besitzen. Zum Glück habe ich eine hohe Frustrationsschwelle, obwohl da innerlich schon manchmal ein ziemlicher Groll herrschte, da es hieß, wirklich schöne Facetten der Region zu verpassen. Das spricht ja aber durchaus für diese Perle Nordrhein-Westfalens.

Viel Euphorie und Abenteuergeist wird in kommender Zeit den Herbst sehen in einer wundervollen, überraschenden Fülle der Möglichkeiten einer Kulturregion, die viele Geheimnisse und Wahrheiten birgt, deren Erkundung mir vergönnt ist nachzukommen.

<3

 

 

Mehr von Theresa Hahl