Von schönen toten Räumen (Stadt Kirche Raum)

Der Weg zu meinem Ziel fast idyllisch. Den Shoppingwahnsinn im Rücken. Links ein Park. Auf den zweiten Blick erst Menschen, denen Räume verschlossen blieben oder wurden, die mein privilegierter Alltag sind. Kontrast von ordentlichem Park und ordnungslosem Alltag drogenabhängiger Menschen. Viel öffentliche Sorge um Schein. Und was ist mit dem Sein?

In der Nachbarschaft aber auch: aufgeräumte Häuser, öffentlich und kirchlich getragen. Suchtberatung, Franziskusküche, Seniorenheim, Kita. Räume für ein besseres Sein. In einem dieser Häuser, Tiefparterre, das Büro Frau Frankenbergs. Gemeindereferentin des Pastoralverbunds Hamm, beauftragt, unter anderem, Räume zu öffnen.

Die Nachbarschaft geprägt von den genannten Einrichtungen. Von Menschen unterschiedlicher Hintergründe. Gegensätze, Widersprüche, Konflikte. Was kann da Kirche?
Kirche ’neu denken‘ ist leicht gesagt. ‚Neu denken‘ ist en vogue. ‚Neue Konzepte‘ gewinnen möglicherweise Ausschreibungen. Neue und nachhaltige Strukturen sind diffiziler. Wie der Kirchenraum der Kirche St. Agnes vor sechs Jahren neu gestaltet wurde, ist da immerhin überraschend.

Kirchenraum ohne Altar, mit mobiler Bestuhlung und mit Becken für Ganzkörpertaufe ©mj

Vor der Kirche St. Agnes ein großer Vorplatz. Geeignet zum skaten und Ball spielen. Ist verboten. Aber auch geeignet für: die Nachbarschaft. Die Gemeinschaft. Für Begegnung, außerhalb eines vorbelasteten Raums. So die Grundidee für das Projekt ‚Kirche im Quartier‘, passiert im vergangenen Juli. Grundidee: Ein Raum für die Nachbarschaft, unterschiedliche Möglichkeiten zur Begegnung.

Junge Menschen, aus Kitas, Schulen und Berufsschulen sind tatsächlich gekommen. Tatsächlich entstanden Begegnungen, die sonst wohl kaum stattfänden. Und tatsächlich: viele trauten sich doch nicht. Die drei Stufen auf den Vorplatz als unüberwindbare Hürde. Fragen und Skepsis. Wird hier missioniert?
Respekt, immerhin steht Kirche drauf.

Kein Glaube mehr an uneigennütziges Handeln, an selbstloses Handeln. Heute, 2017.

Im Gespräch mit Heike Frankenberg die Erkenntnis: kein Mangel an Räumen, immerhin in Hamm. Aber doch, das ist nicht Hamm-spezifisch, ein großer Mangel: Mut, Räume und Verantwortung über solche abzugeben, einerseits. Mut zur Übernahme von Verantwortung für einen Raum, andererseits.

Die Stadtzentren von Verbünden und Vereinen verwaist. Die nur in den Vororten. Räume der öffentlichen Begegnungen dominiert von elitären Vorahnungen. Theater und Kirche, zum Beispiel.

Immer weniger Räume in Stadtzentren, die unvorbelastet sind. Ein Mangel. Belastet mit einer Vorahnung davon, dass nichts mehr ohne Eigennutz funktioniert. Belastet mit Geschmäckle. Von Elite, von Deutungshoheit, von Hoheit der Narration. Das Angebot ‚Wir sind für alle da‘ kann zur Drohung werden. Oder zur Worthülse.

Wer sind wir? Wer sind alle? Was ist ein Raum?

Wie sind die analogen Räume gestaltet, die ernsthaft mit den digitalen konkurrieren können? Muss von der Tendenz zu schnellem Chatten, das reale Gespräch ersetzend, gelernt werden? Kann das adaptiert werden? Wer weiß, was andere Menschen brauchen? Expert*innen aller Professionen sind gefragt. Synergien. Transdisziplinarität. Architektur, Soziologie, Informatik, Pädagogik. Usw. You name it. Die große Gefahr: Entscheidungen von oben für unten. Top-Down. Hierarchien. Für, aber ohne die Zielgruppe.

Gut intendierte Räume gebe es viele. Aber es mangele an Konzepten, die Räume zu füllen. Und da das titelgebende Zitat: Es gibt viele schöne, aber eben auch tote Räume.

Gut gemeint ist noch lange nicht gut.

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Von Gräben in der politischen Nachbarschaft

Es ist noch etwas Zeit bis zum 24. September. Wenn ein neuer Bundestag gewählt wird. Sollten Prognosen hierzulande besser funktionieren als bei der vergangenen US-Wahl dann. Kanzlerin. Vizekanzler aus NRW. Drittstärkste Partei ganz neu in Berlin. Ein anderer Wind. Andere Gegenspieler. Andere Diskurse.

Eine schmale Straße unweit der Hammer Fußgängerzone. Vereinzelte Restaurants und kleine Läden, sehr ruhig ist es. Auffällig, wie viele Wahlplakate hier hängen. Überraschend nur so lang, bis ich weiß, dass nicht nur ein Büro der Linken, sondern auch der CDU hier zu finden sind. Sie sind Nachbarn, von der Straße getrennt. Straße kann hier auch Graben sein, Fenster Spähmöglichkeit, das Gegenüber weit entfernt und verschlossen. Unerreichbar. Oder unantastbar.

Herr Şengül erwartet mich im Büro der Linken in Hamm. Der Fraktionsvorsitzende der Linken in Hamm kam in sehr jungen Jahren aus der Türkei nach Deutschland. Politik ist für ihn Pflicht. Aufgrund von Herkunft. Aufgrund eines Verständnisses von Gesellschaft. Aufgrund von Überzeugungen.
Im Mittelpunkt des Interesses ein Nenner, den sich wohl viele, wenn nicht alle Parteien so ins Buch schreiben: der Mensch in der Gesellschaft. In genaueren Betrachtungen dann Differenzen. Selbstverständlich. Doch das der Anhaltspunkt, darüber sollte man reden.

Im Gespräch mit Herrn Şengül aber noch mehr. Das Miteinander in einer Gesellschaft, die Achtung, der Respekt, die Interdependenzen zwischen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklungen. Dogmatisches Denken. Sicherheit als unerschöpfliches Wahlkampfthema. Der Verlust von Empathie, von Solidarität.
Selbstverständlich heißt es Wahl-Kampf. Selbstverständlich ist es Konkurrenz. Selbstverständlich ist Parteizugehörigkeit ein Label, ein Urteil. Mittlerweile auch selbstverständlich: Bildung wird zum Urteil. Wohnort, Geschlecht, Sozialisation. Unterscheidungen zwischen Urteil und Einschätzung essentiell.

Was ist Nachbarschaft, Herr Şengül? Aufeinander achten, füreinander sorgen, miteinander leben. Das Gespräch mit der Sitznachbarin im Bus, das Fest in der Straße, die gemeinsame Lösungsfindung im Rat der Stadt Hamm. Bescheidenheit und Offenheit. Taktgefühl. In der direkten Nachbarschaft wird nicht über Politik gesprochen, da sind wir alle Bürger. Nachbarn.

Das höchste Amt in der Demokratie das des Bürgers.

Meine eigenen politischen Überzeugungen auszuklammern versuchend: Begeisterung für einen Menschen, der sich für andere Menschen einsetzt. Der konstruktiv streiten möchte. Der von und mit anderen lernen möchte. Der andere Meinungen hören, vielleicht verstehen möchte. Ein Mensch der Prinzipien. Auch, wenn es um unangenehme Themen geht. Auch, oder besonders dann, wenn viele Perspektiven auf eine Gegebenheit relevant sind.

Warum Hamm, Herr Şengül? Hier kennt man sich noch.
Die Nachbarn von gegenüber grüßen mittlerweile auch. Hin und wieder. Immerhin. Nach einigen Jahren.

Die Stadt füllt sich derweil mit Wahlplakaten. Mit Versprechen, mit Phrasen. Im Flimmerkasten ein ‚Duell‘ der beiden Spitzenkandidat*innen. Altbekanntes. Schwarz-rote Perlen.

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Von Familienstrukturen und einem Feuerwehrmann

Mein Termin findet im Hammer Osten statt. Eine schöne, aufgeräumte Wohngegend. Hecken und Tore, die Heime heim-lich machen.

Herr Winters empfängt mich an seinem Esstisch. Glaube ich. Ich wähne ich mich zwar nicht falsch, zwischen Küche und Wohnzimmer. Doch hier ist auch: Schaltzentrale, Arbeitsplatz, Knotenpunkt. Nicht nur zu amtsüblichen Arbeitszeiten. Eine Standleitung fast. Ob Nacht, ob Urlaub.
Anfangs war Herr Winters Pädagoge. An einer Förderschule in Kontakt mit heranwachsenden Menschen, für die ein Leben nach den meisten Richtlinien in Deutschland mehr als herausfordernd ist. Wo Gesellschaft in geradlinigen Kästchen organisiert ist, sind Menschen wie Herr Winters beauftragt, nicht erkennbare Muster zu entschlüsseln, geradlinige Kästchen und Verworrenes einander vertrauter zu machen, Schnittflächen zu finden und auszubauen.
Dann aus dem Schuldienst heraus, hinein in die heimische Schaltzentrale. Seit einigen Jahren ist Herr Winters Sinti- und Roma-Beauftragter der Stadt Hamm; an diesem nicht ganz gewöhnlichen Arbeitsplatz, aber auch immer wieder vor Ort in Hamm. Wenn konträre Systeme aufeinanderprallen, aber miteinander reden und arbeiten müssen, wird aus dem Beauftragten: Ansprechpartner, Kontobevollmächtigter, Helfer, Mittler, Feuerwehrmann. Und vieles mehr, für manche so etwas wie ein außerordentliches Familienmitglied; die größtmögliche Anerkennung dort, wo Familie über allem steht. Über Richtlinien, über konsensuellen Erwartungen: von Schulen und Arbeitgebern, von Ämtern und Behörden, von Gesellschaft.

Familie im Inneren ein Ort der Heim-lichkeiten. Als Rückzugsraum. Verwandschaft, die über Jahrzehnte, Jahrhunderte Zugehörigkeit bedeutet. Schutzraum vor Bedrohungen. Vor Verfolgung. Vor rigiden Kästchen. Identität und Zugehörigkeit, weit über das hinaus, was Pass oder aktueller Wohnort aussagen.
Simpel und von außen betrachtet aber auch: Un-heim-lich. Verschlossen und damit mysteriös. Potenzial für Widerstand. Für Nonkonformität.

Familie als möglicher Raum im Raum der Nachbarschaft. Lokale Nachbarschaft als Raum in einer Gesellschaft. Raum im Raum im Raum. Matrjoschkas. Vom Individuum bis hin zur Weltgemeinschaft; unmöglich, voneinander zu lösen.
Erinnerungen an China: Nach Kulturrevolution, rasantem Aufstieg und Ein-Kind-Politik hat Familie einen besonderen, eigenartigen Stellenwert in China. Familie ist Faktor des Wettbewerbs. Status, Vorsorge, Investition. Viele kleine heim-liche Mikrokosmen, gemeinsam einen Makrokosmos formend. Familie ist Staat, Staat ist Familie. Volks-republik, könnte auch Familien-republik heißen. Die Organisation des Staats schlägt sich in Familienstrukturen nieder.
Die Kulturregion Hellweg ist nicht China. Dort 56 Minderheiten, eine Partei. Hier im Hellweg, in Hamm: viele Parteien, eine Mehrheit, im oben beschriebenen: eine Minderheit. Konflikte schwelen hier und dort, meist nur Missverständnisse, vermeidbar.

Mehr als Missverständnisse derweil zwischen Atommächten in Ostasien, Ohnmacht in Katalonien, Dispute zwischen Bosporus und Elbe. Mangel an Mittlern, an Feuerwehrmännern (oder besser: -frauen!).
Ablenkung nach der Sommerpause kehrt derweil zurück in deutsche Fußballstadien und Fernseher. Welch ein Glück, das macht die Wahrheit auf dem Mittelmeer, in den USA, in Ankara und den anstehenden (Nicht-?)Wahlkampf doch gleich erträglicher. Und auch das Wetter gibt mit seiner Wechselhaftigkeit wieder reichlich Gesprächsstoff für typisch deutschen Smalltalk.

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Von Mosaiksteinen in einem Kaleidoskop

Samstag. Ich lerne kennen, wo ich bin. Wo ich die nächsten Wochen sein werde.
Hamm Marktplatz. Ein Espresso in der Sonne öffnet meine Augen, es ist heiß. Es ist voll. Um mich herum geschäftige Menschen. Es gibt Bratwurst, Pellkartoffel, Gemüsespieße. Man isst, man lacht gemeinsam, man schnackt. Oder klönt? Oder quatscht? Wie sagt man hier? Man kennt sich, wieder einmal. Wieder diese Ahnung: Menschen um mich, die wissen wo sie hingehören.
Zwei sich sehr gegensätzliche Parteien machen Werbung. Wahlkampf. Im Juli. Gut, dass man in Deutschland wählen kann. Im September dann. Auf den Faltblättern Schlagworte: „Für Alle.“ „Für Heimat.“ „Für unsere Familien.“ „Für Gerechtigkeit.“ Und konkret?
Die lokale Zeitung berichtet von Abiturjahrgängen. Prächtige Fotos im vielleicht ersten Abendkleid, ersten Anzug. Alle namentlich erwähnt. Mit Stolz wird der Nachwuchs präsentiert, stolz zeigt sich der Nachwuchs. Gebildet. Vorbereitet. Auf das, was da draußen auf ihn wartet. Auf Überraschungen und Entscheidungen. Auf Widersprüchlichkeiten. Auf große Schlagzeilen, jenseits des Lokalteils:
Gewalt und Machtdemonstrationen in Hamburg. Menschen, die Orte zerstören. Menschen, die ignorieren. Menschen, die andere Menschen degradieren. Ein lautes Wochenende. War das der Startschuss für den Wahlkampf? Ein schmerzhafter Startschuss. Untermalt von Beethovens Neunter. Ode an die Freude. Deutschland im Juli. Freude auf September?

Auf dem Fahrrad versuche ich mir die Stadt zu erschließen, die Region. Ich möchte wissen, was Nachbarschaft in der und für die Kulturregion Hellweg bedeutet. Was bedeutet hier Heimat? Familie, Traditionen? Gerechtigkeit? Werte? Identität? Zugehörigkeit?
Nachbarschaft ist abhängig von Orten und von Gemeinschaften. Gehören dazu auch Zäune? Klar definierte Grenzen und Rituale? Was gehört nicht dazu?
Rechts eine alte Kaserne, sehr belebt. Kein Militär, dafür Kinder auf Fahrrädern. Mit Fußbällen bewaffnet. Viele Menschen in kleinen Gruppen, neue Nachbarschaften auf engstem Raum. Menschen, die eine lange Reise hinter und eine lange Reise vor sich haben. Ungewisse Zukunft, auch über September hinaus. Die Frage nach Zugehörigkeit wird hier anders beantwortet. Vermute ich.

Samstag Nachmittag. Ich sitze auf der Terrasse einer Hammer Ureinwohnerin und höre Geschichten aus einem besonderen Leben. Ich bin beeindruckt. Von Motivation, Ausdauer und Kraft, für Nachbarschaft, für Freunde und Fremde, für Benachteiligte einzutreten. Für Gesellschaft. Für ein Miteinander. Für Orte. Beeindruckt davon, 38 Jahre Nachbarschaft hinter sich zu lassen, um eine neue zu gründen. „Nimm es in die Hand, sei offen, sei hartnäckig.“ Anfang nächsten Jahres ist der Umzug.
In dem Mehrgenerationenhaus wird es elf Wohnungen geben. Für Menschen älteren, mittleren und jüngeren Alters. Das, was einmal der Dorfplatz war, ist hier ein Gemeinschaftsraum. So wird das Haus zum Dorf. Das Dorf zum Haus. Man kümmert sich umeinander. Man lernt voneinander. Man hört einander zu. Die umliegenden Bewohner – in der Nachbarschaft – sind skeptisch, sie leben alle in ihren eigenen Häusern, mit eigenen Gärten. Eingezäunt und begrenzt.

Samstag Abend. Der Marktplatz in Ahlen ist voll. Stadtfest, Bier, Wein, Fressbuden. Ein Gewitter aus Trinksprüchen, guter Laune, Alkohol und Zigaretten, Wiedersehen nach langer Zeit, die Unmöglichkeit, sich in der Menge zu finden. Bekannte Rockmusik, gecovert, von der Westküste. Ganze Familien sind vertreten, mit bis zu vier Generationen. Über den Köpfen hängen Dekorationen, die ich lange nicht erkenne. Bunte Luftmatratzen in Form von Flip-Flops. Ist mir unbekannt, wofür Ahlen bekannt sein könnte? Ahlen, Partnerstadt von Rio de Janeiro? Stadt der schönen Füße? Sandstrand, Karibik, Caipirinhas? Körperkult? An den Füßen jedoch keine Flip-Flop-Mehrheit.

Samstag Nacht. In meinen Ohren hallt es nach. Vor meinen Augen Bilder von großen und kleinen Bauklötzen, Mosaiksteinen, Zement, Sand. Das alles hier. Da, wo ich gerade bin. Die ständige Neuanordnung, ein Kaleidoskop.

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