C. de Mondego

Heerlen, Nobelstraat 54. Auf Street View hast du schon einmal vor diesem Antiquariat gestanden. Als am selben Abend dein Smartphone ins Spülwasser geglitten ist (für die Warn-App war es zwei Jahre zu alt), hat es 3 Minuten und 41 Sekunden gedauert, bis die Straßenansicht verschwunden war.

Heute, in der Fensterspiegelung des Antiquariats treten deine Füße auf eine alte Karte. Ganz unten in der Auslage liegt der „Atlas Maior“ von Joan Bleau aus dem Jahr 1665. Ein Buch wie eine Marmorplatte: „L‘atlas le plus grand et le plus admirable jamais publie.“ Auf seinem Deckel brandet hellblaue See, darin eine Windrose. Ein Segelschiff kreuzt. Es fährt in Richtung C. de Mondego. Steht das C. für Ciudad? Für Cap? Ist es Spanisch? Portugiesisch? Fragen könntest du das den Antiquar, wäre hier sonntags geöffnet. Auch dein Handy würde es wissen. Du betrachtest das Meer von Bleau und denkst an das Spülwasser. Gut, dass du noch selbst spekulieren kannst, wenigstens über ein „C“. Du stellst dir einen Dialog vor. Mit Humboldt.

„Bestimmt weißt du, wofür das ‚C.‘ in ‚C. de Mondego‘ steht.“

Er nickt. Na klar.

„Und sagst du es mir?“

Der Forschungsreisende zieht eine Augenbraue hoch. Dann lächelt er. Abschätzig wirkt das. Du hattest befürchtet, dass er so jemand ist. Wenn er jetzt noch sagt, dass das Allgemeinbildung ist… Da fällt dir was anderes ein.

„Alexander, was hältst du eigentlich von Alexa?“

Der Wissenschaftler lässt sich Zeit mit seiner Antwort.

„Sie gefällt mir.“

„Auf Facebook?“

Das würdest du entgegenen, wärest du wirklich so schlagfertig wie in ausgedachten Dialogen. Diesmal käme deine Augenbraue zum Einsatz. Aber einen von Humboldt lässt sowas kalt.

„Es kann nicht jeder auf Expedition gehen. Aber alle haben Fragen. Nice Stimme außerdem.“

Hat er das jetzt wirklich gesagt? Gemeint? Doch Humboldt macht nur eine Geste, die dir deutlich mitteilt: Keine Zeit mehr für diese Spielereien. Sorry, da warten noch Kontinente. Da wartet ein Berg voller Arbeit in Amazonien.

Humboldts am Fuß seines Berges am Amazonas, deiner auf der Spiegelung eines Atlas im Schaufenster in Heerlen. Du schwitzt. Das sind die Tropen, das Klima, der Wandel. An der Tür des Antiquariats hängt ein Schild. Haben Sie Fieber? „Dan vragen wij u om niet binnen te komen.“

Von den anderen Büchern im Schaufenster handelt eines von Tango, eines von Art Deco. Es gibt prächtige Kunstbände mit großformatigen Gemäldedrucken, Matisse, van Gogh, Yves Klein. Aber kein Band so groß und so blau wie der von Bleau. Das Papier riecht sicher nach Abenteuer. Entdeckung. Amazonien. So, wie du dir vorstellst, dass es dort riecht. Und dass stellst du dir ebenfalls vor: Der Atlas Maior kommt mit amazon prime zu dir nach Hause. Ein junger Mann muss ihn in der Affenhitze zu dir hinauftragen und du tust, als seist du nicht da, weil dir das peinlich ist. Dann reißt du den Karton auf, schlägst das Kartenbuch auf und verlierst dich. In fernen Welten. Wofür steht jetzt das ‚C.‘? Fragt man Alexander oder Alexa? Manchmal dürfen Fragen einfach Fragen bleiben.

Das Schaufenster zeigt hinter dir zwei Gestalten. Auf der anderen Straßenseite, auf einem schmalen Gehsteig bewegen sie sich unbeirrt aufeinander zu. Als folgten sie Routen in ihren Köpfen. Nein, Routen auf Maps. Bildschirme beleuchten ihre Gesichter.

Twee vrouwen lopen
te appen, botsen
achter je met hun hoofden

tegen niets. Terugkijken.
De etalageruit liegt.

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Zwei Frauen senken
den Blick aufs Smartphone.
Mit den Köpfen stoßen sie

gegen Luft. Zurückschauen.
Sieh, wie das Schaufenster lügt.

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