MOMUMENT Teil I-III

„Man kann heimkehren, wenn man denn begreift, dass ‚heim‘ ein Ort ist, an dem man noch nie war.“ – Ursula K. Le Guin

 

EINS

Als Kind war ich der Erde näher.
So scheint es mir zumindest. Und ich meine damit nicht etwa den Planeten Erde, dem ich selbstverständlich näher war, sondern den Erdboden. Natürlich könnte dieser Eindruck einfach auf meinen damaligen Blickwinkel zurückzuführen sein, denn tatsächlich war mir der Boden damals wohl um einiges näher als jetzt. Und ich sage interessanterweise „ich“, spontan, und meine damit eigentlich: meine Augen. Sind meine Füße oder Waden etwa weniger „ich“ als meine Schädeldecke oder mein Gesicht? Und trotzdem ist da immer dieses Gefühl haltlosen Schwebens und unklarer Beziehungen und Zugehörigkeiten im Raum. Gehöre „ich“ eher dem Himmel, der Decke, der Höhe an oder eher dem Boden? Immerhin verbindet mich mit dem Boden noch die Erinnerung an eine wohl einmal dagewesene engere Beziehung und natürlich die Schwerkraft.

Ich glaube aber gar nicht, dass dieses Gefühl der Erdnähe etwas mit meiner Körpergröße zu tun hat, sondern eher damit, dass der Boden, auf dem wir uns bewegen, metaphorisch und damit auch emotional für einen Ausgangspunkt, für eine Ursprünglichkeit, für eine reine Gegenwart steht bzw. liegt. Vielleicht verwechsle ich aber auch Ursache und Wirkung, und der Boden bedeutet nur deshalb diese reine Gegenwart, diese Ursprünglichkeit, weil ich, als ich ihm noch nahe war, Kind war und damit vergangenheits- und zukunftslos.

Jedenfalls – wenn ich mich nach der Vergangenheit sehne, nach meiner Heimat, nach meiner Kindheit, und es ist immer dieser unauflösbare Komplex, so ist es auch die Nähe zur Erde, nach der ich mich sehne.

Manchmal spüre ich den Drang, mich hin zu knien, meine Wange auf den Boden zu legen oder mein Gesicht in die Erde zu drücken, darin zu graben, mich einzugraben. Vielleicht ist es auch zum Teil eine Todessehnsucht, eine Sehnsucht nach Auflösung, Renaturierung, nach Kompostierung, Kollektivierung, die mich zur Erde zieht. Ich weiß es nicht. Aber selbstverständlich lässt sich das erinnerte und ersehnte Gefühl der Erdnähe bzw. nicht einfach befriedigen durch ein Picknick oder ein paar Bodenübungen. Solche Versuche haben sogar eher die gegenteilige Wirkung, denn sie geben mir zu spüren, wie fremd ich diesem Erdboden geworden bin, wie weit davon entfernt. Es ist, als würden sich unter mir die Erinnerungen stapeln und mich vom Ursprung entfernen. Es gibt nichts, das das Gefühl der Erd-Entfremdung aufheben kann.

Aber auch Gefühle sind nur Reaktionen auf Relationen. Als Kind war ich mir nicht bewusst darüber, dass es einen anderen Zustand geben würde, ja, dass man der Erde ferner sein könnte, als ich es damals war. Das heißt: Eigentlich kenne ich das Gefühl, der Erde so nahe zu sein, wie ich es für möglich halte, gar nicht. Ich weiß nur, wie es sich anfühlt, diese Erdnähe bereits verloren zu haben. Steckt in dieser Erkenntnis mehr als nur die plumpe Einsicht, dass wir lediglich das zu schätzen lernen, was uns abhanden gekommen ist? Oder ist diese Einsicht selbst weniger plump, als ich bisher angenommen habe, ohne je wirklich darüber nachzudenken. Wenn ich das Gefühl der Erdnähe nie als solches gespürt habe, sondern es nur in absentia kenne, dann existiert dieses Gefühl nicht, es ist reine Illusion.

 

ZWEI

Seit der Eröffnung von momument war ich nicht einmal dort gewesen. Allen anderen gegenüber behauptete ich, es sei das allgemeine Einverständnis, die kollektive Begeisterung darüber, die mich davon abhielt. Und es mißhagte mir tatsächlich, dass plötzlich alle vorgaben, sich auf eine Welt einigen zu können und darauf vor allem, sich diese Welt zu teilen. Diese Welt jedoch war zerstört und eine zerstörte Welt zu teilen ist leicht. Der ekelhafte vermeintliche Konsens täuschte über die Egoismen, die Arroganz und die Ignoranz hinweg, all das Desinteresse. Sie hätten sich auch einfach irgendein Denkmal für den persönlichen Gebrauch downloaden können, aber nein, jetzt plötzlich hieß es: gerade die Tatsache, dass momument ein gemeinschaftliches Erlebnis und gemeinschaftliches Gut sei, ein öffentlicher Zeit-Ort, eine Bibliothek, mache ihn zu einem wertvollen Denkmal – nicht nur für die Landschaften, Kunst- und Baudenkmäler, sondern auch für das menschliche Zusammenleben auf der Erde. Dass die Erinnerung an dieses Zusammenleben für einige Menschen geschweige denn für andere Erdbewohner nicht gerade eine Erinnerung darstellte, die man teilen und genießen wollte beziehungesweise konnte, wurde übergangen. Es ärgerte mich die Vorstellung, dass all diese Leute sich nun gemeinsam ansahen, was sie jeder für sich allein zerstört hatte.

Aber nicht nur dieser Ärger und dieser Ekel hatten mich abgehalten, momument zu nutzen, sondern auch die Angst davor, es könnte meine Erinnerungen beeinflussen – Erinnerungen, die ich in mir hegte, und die wachzurufen ich mir nur selten und zu besonderen Anlässen erlaubte, weil ich befürchtete, sie könnten verformt werden und abgenutzt bei zu häufigem Gebrauch – wie das teure Geschirr, das meine Mutter nie hatte benutzen wollen, aus Angst, es könne seinen Glanz verlieren.

Nun aber stand mein zweiter und wahrscheinlich letzter Umzug an. Urras würde zu einem weiteren verlorenen Ort werden. Von Anfang an war für mich klar gewesen, dass der Jupitermond nur eine Zwischenstation sein würde, eine Zwischenstation für eine Übergangsphase, und diese Phase war nun vorbei. Trotzdem verspürte ich plötzlich dieselbe Angst, wie kurz vor meiner Abreise von der Erde, die Angst davor, etwas Vertrautes ein für alle Mal zu verlieren, die Angst davor, dass ich etwas vermissen oder bereuen könnte, das ich jetzt noch nicht zu schätzen wusste. Ich denke, diese Angst war es, die mich dazu bewegte, momument doch noch zu besuchen, in meiner letzten Woche auf Urras. Ich glaubte wohl, mich selbst daran erinnern zu müssen, wo ich eigentlich herkam, was ich eigentlich zu vermissen hatte, und dass das hier nur eine Übergangsphase war, eine mir fremde Zwischenstation.
Eine vertraute Sehnsucht ist sehr viel leichter zu ertragen als die Angst vor einem neuen und fremden, und darum in seinen Ausmaßen unberechenbaren Vermissen.

 

DREI

Das momument Archiv war extrem unübersichtlich. Bestimmte Landschaften waren nur in einem Zeitraum von wenigen Jahren, Stunden oder Minuten vorhanden – abhängig davon, ob sie gezielt für die Landschaftsbibliothek gescannt oder von irgendwelchen Urlaubern aufgenommen und in die Open Source Datenbank eingespeist worden waren. Auch die Qualität der Aufnahmen und Rekonstruktionen unterschied sich teilweise gewaltig. Qualitativ besonders hochwertig waren die Landschaften, die sich durch ihren hohen Denkmalwert für die professionelle Archivierung qualifiziert hatten und in denen daher eine konstante Archivierung stattgefunden hatte. Oftmals existierten zu solchen Landschaften auch Rekonstruktionen, der den Aufnahmen vorangegangenen hundert bis zweihundert, teils sogar (mit Lücken!) bis zu viertausend Jahre, die anhand von älteren Scans, Fotografien, Karten, Zeichnungen, Gemälden, Beschreibungen, Berechnungen usw. hergestellt worden waren. Zu den ältesten archivierten Landschaften gehörten der Grand Canyon, die ägyptischen Pyramiden und der Sechin Komplex in Peru.

Eigentlich hatte ich mich schon im Vorhinein dafür entschieden, jene Landschaft auszuwählen, in der ich meine Kindheit verortete und in der ich nach meiner Auswanderung von Deutschland nach Sri Lanka nur noch sehr wenige Male gewesen war. Aber als ich in der Eingangshalle vor dem momument-Designer stand, zweifelte ich für einen Moment an meiner Entscheidung. Vielleicht sollte ich die Gelegenheit nutzen und in den mexikanischen Dschungel gehen, die Antarktis vor der Gletscherschmelze besuchen oder auf den Mount Everest steigen. Wann würde ich noch einmal in die Lage kommen, diese Orte und Zeiten so realistisch zu erleben? Nie wieder vermutlich. Keines der privaten Unternehmen konnte eine solche Auswahl und so hohe Qualität anbieten wie momument.
Aber dann ging mir auf, dass ich einen virtuellen Eisberg niemals von einem echten unterscheiden können würde, weil mir der Vergleich fehlte. Die Qualität spielte hier also eine weniger große Rolle, während mir auch nur die geringste Abweichung in der Beschaffenheit einer Lammkraut-Blüte oder im Ruf eines Kiebitz‘ sofort auffallen würde. Das dachte ich zumindest.

Mehr von Charlotte Krafft

Iconoclash im Zeitalter von Corona

Unter der heiligen Agatha habe ich früher oft gestanden.

Eine goldene Statue, die auf einem hohen Sockel steht und den Kircheneingang bewacht. Ihren Blick hat sie weder auf die vorbeieilende Gemeinde, noch gen Himmel gerichtet. Sie starrt ins Ungewisse, ihre rechte Hand zur Seite gestreckt, eine unbestimmte Geste, mit der sie die, dort unter sich scheint schützen zu wollen, mit der Linken hält sie das Kreuz vor der Brust.

 

Wenn wir aus der Messe kamen, die Erwachsenen stehen blieben, um sich zu verabschieden, noch ein paar Worte tauschten, ihre sozialen Kontakte pflegten, dann drehte ich meine Runden um die heilige Agatha. Es gab ja sonst nichts. Keinen Spielplatz weit und breit, nur ein Parkplatz auf der anderen Seite, dort ein weiteres Denkmal, der Pannenklöpper, der an das Schmiedehandwerk erinnert, Reichtum der Region. Aber zum Pannenklöpper durfte ich nicht, denn ich musste in Sichtweite bleiben. Also drehte ich Kreise um die Schutzpatronin Agatha, die der Stadt und auch darüber hinaus, in Attendorn schützt sie die Schmiede.

Der Unachtsamkeit von Schmieden ist auch einer der schlimmen Brände zu verdanken, die die Stadt erfahren hat, das war 1634, und wenn man sich klar macht, dass die Region auch Eisenland genannt wird, wird einem klar, warum Schmiede hier so wichtig waren. Bränden fiel die Stadt öfter zum Opfer, zuletzt im zweiten Weltkrieg.

 

Wegen Corona verbringe ich meine Zeit zu Hause und damit im Netz, dabei, Informationen über Krankheit und Quarantäne in der Region Südwestfalen zu suchen. Bis auf Läuse habe ich keine eigene Erinnerung an Zeiten, in denen wir jemals zu Hause bleiben mussten. Meine Mutter erzählt mir von Kinderlähmung, Zeitungsberichte erinnern an den Pockenausbruch vor fünfzig Jahre in Meschede, die ein Reisender aus Pakistan mitbrachte. Die Viren gelangten damals durch das Treppenhaus, den Essensaufzug, infizierten Menschen auch ohne direkten Kontakt.

Pandemie ist ein Zustand, der an Mittelalter erinnert, an Pest, an Hilflosigkeit, an katastrophale Zustände. Das ausgebrochene Chaos, bei dem nichts mehr hilft, außer vielleicht noch Beten. Der schwarze Tod hat auch in Südwestfalen gewütet und gegen ihn gab es für die meisten Menschen keine andere Rettung als den Glauben. Gelübde, Beten, Hoffen.

Als Kind konnte ich die Agatha nie in ganzer Person sehen, so hoch steht die Statue auf ihrem Sockel. Aber die vier Tafeln, die ihre Stele umgeben, waren damals genau auf meiner kindlichen Höhe. Und so lief ich wartend von einer Seite zur anderen, sah mir die Bilder an, war schockiert. Das Verlassen der Kirche nach dem Messegang am Sonntag wurde zum kindlichen Horrortrip. Bilder, heute im Internet für sensible Gemüter zensiert, waren meine Wegbegleiter nach dem Gottessegen. Jede Tafel eine menschliche Katastrophe.

Zu Füßen der Agatha sind Feuer, Wasser, Flucht und Hunger zu sehen.

 

Die Hungertafel habe ich nie vergessen. Die leeren Augen und hohlen Münder haben sich in mein Gedächtnis geprägt, leichter abrufbar als Munchs Schrei und immer verbunden mit einer Angst, die mich als Kind befiel, ob wir wohl verschont bleiben würden, wenn das Unglück kam, die potentielle Wirklichkeit von Krise und Konflikt schien  mir als Kind realer, das Ozonloch wuchs, die Bitterkeit des Krieges stand meiner Großmutter noch im Gesicht, die Berliner Mauer war  Zeichen des kalten Krieges und nicht zuletzt mussten wir wegen Tschernobyl auch mal zu Hause bleiben. Aber das alles wuchs sich dann aus, mit der Zeit verschwammen die Ängste zum von der Erwachsenen bewältigten Kindheitstrauma.

Und ohne die aktuelle Schockerfahrung hätte ich mich wohl auch nicht an sie erinnert. Corona hat die profane Sicherheit, in der man sich in in unserer Wohlstandsgesellschaft sonst befindet, plötzlich und ohne Vorwarnung umgestoßen.

Ich habe lange nicht mehr an die heilige Agatha meiner Kindheit in Olpe gedacht, aber wenn ich heute an sie zurückdenke, dann wird mir bewusst, wie weit sie und ich uns doch in meinem Leben nicht nur räumlich, sondern auch im Bewusstsein voneinander entfernt haben.

Gerne würde ich wieder an sie, oder einen anderen Heiligen glauben, ein Gelübde ablegen, an dem ich mich festhalten kann, bis zum Schluss. Ich könnte sie fragen, wie sie das ganze sieht mit Corona. Aber ich weiß, ich würde keine Antwort bekommen, Agatha schweigt und steht, streckt eine Hand schützend über die Gemeinde und umklammert mit der anderen das Kreuz. Das wird sie tun, solange sie auf ihrem Sockel steht.

Wir sind einander fremd geworden, Agatha und ich. Noch vor wenigen Wochen bin ich dort an ihrer ikonischen Figur selbst vorbei gelaufen, als es noch selbstverständlich war, sich draußen frei zu bewegen, unachtsam und unaufmerksam, was wollte ich schon mit Kirchen und Gedenken, das kam mir überflüssig und unmodern vor. Ich suchte nach mehr, was Besonderem, etwas, das richtig überrascht, der Clash, die Einzigartigkeit, aber bitte keine religiöse Ikone. Und die Bilder zur ihren Füßen, die mich früher als Kind in Angst und Schrecken versetzten, haben mich zu dem Zeitpunkt sowas von gar nicht interessiert.

Das überrascht mich jetzt, weil ich mir bewusst mache, wie aktuell sie doch sind, diese Bilder der menschlichen Plagen, heute noch, die Brände in Australien sind kaum gelöscht, die geflohenen Massen verzweifeln vor Europa, nicht nur die Wege am Rhein sind immer wieder überflutet, aus Angst vor dem Hunger reißen wir uns gerade die Nudelpackungen aus den Händen.

Wie kam es, dass Agatha und ich, oder zumindest das, was die Ikone, ihre bildliche Darstellung transportiert, die Sehnsucht nach Schutz vor Katastrophen, soweit voneinander entfernt haben?

„Das Heilige und das Profane“ so schreibt Mircea Eliade, „bilden zwei existentielle Situationen, die der Mensch im Laufe seiner Geschichte ausgebildet hat.“ Und so frage ich mich, ob es sein könnte, dass ich die Seinsweise, des modernen, areligiösen Menschen, so völlig in mich aufgenommen habe, dass ich nichts mehr von dem spüren konnte, was Eliade als heilig beschreibt, die Entwicklung von strukturell religiösen Symbolen, die universell in ganz unterschiedlichen Gesellschaften zu finden sind, so wie die Präsenz einer Schutzpatronin eben.

Noch vor meinem Studium bin ich aus der Kirche ausgetreten. Es kam mir vor wie eine logische Konsequenz, nach den Jahren in Israel und dann doch wieder zurück in Deutschland, stellte mein Austritt aus der Religion eine gewisse persönliche Ordnung her.

Heute kann ich nicht mal vor die Tür treten, draußen lauert das Coronachaos, und mit ihm der Tod, nicht unbedingt für mich, sondern vor allem für die vielen Menschen, an die ich es weiter geben könnte. Und ich verstehe nicht mehr, wie ich das alles so von mir habe fort halten können, und glauben, dass es nicht mehr möglich sei, vor einer solchen Katastrophe zu stehen, dass eine Krankenversicherung, der Gesundheitscheck, die Altersversicherung, das Arbeitslosengeld, die moderne Gesellschaft, einfach der gesunde Menschenverstand schon dafür sorgen würde, dass hier in unserer modernen Zivilisation schon alles so weiter laufen würde.

Was Eliade suchte, war die vergessene Wahrheit, er wollte, „dem entsakralisierten Menschen von heute die Bedeutung und den Inhalt der traditionellen Schöpfungen enthüllen“. Im Sakralen sieht Eliade die Notwendigkeit aus dem von Menschen Erlebten Chaos eine Ordnung wiederherzustellen, dabei helfen eben Gelübde, Gebete und Rituale.

Warum Fetische zerstört werden, überlegt der französische Soziologe Bruno Latour mit seiner Arbeit zu Iconoclash und hinterfragt damit die Praxis des Ikonoklasmus, Bildersturm, oder einfacher, wie können die weiter existieren, die die bildlichen Strukturen dessen zerstörten, was die Welt solange zusammen hielt.

Du sollst dir kein Bildnis machen, das erste göttliche Gebot bezieht sich auf das Unfassbare jeglicher Existenz, oft als das Verbot jeglicher Repräsentation, missverstanden. Denn ein Bild von etwas haben, bedeutet auch, eine feste Vorstellung von etwas zu haben.

Die Vorstellung vielleicht, dass wir als moderne Zivilisation vor Chaos und Katastrophen geschützt sind, abgesichert in unserem Hightech-Raum.

Für Latour ist die Menschheit nie modern gewesen, Viren, Umweltverschmutzung, künstliche Reproduktion, in alledem sieht er den Fehlglauben des Postmodernen sich jenseits traditioneller Grenzen zu bewegen. Wir haben uns von der Welt lediglich ein falsches Bild gemacht.

Und wenn die Bilder fallen, fallen dann auch wir selbst?

Sind wir verrückt geworden“, fragt sich Latour in seinem Text zu der Ausstellung Iconoclash, die 2002 in Karlsruhe zu sehen war. Die Mediatoren des Heiligen, so Latour, sind fragile, sie werden heute angebetet und morgen zerstört.

 

Mich hat die heilige Agatha für immer verloren, ich kann sie nicht anbeten, kein Gelübde ablegen, um den Schrecken heute abzuwehren, denn daran glaube ich nicht. Doch was Agatha und mich heute näher bringt, ist das Wissen, das ihre ausgestreckte Hand transportiert. Und zwar die Erkenntnis, dass wir Menschen immer schon Katastrophen und Chaos ausgesetzt waren und es weiter sind, und dass wir diese, mithilfe unserer uns eigenen Kreativität überwunden haben und werden. Der Mensch trägt das Chaos in sich, und gebärt daraus neue Sterne, wie Nietzsche schreibt. Unsere Kreativität ist das, an dem wir festhalten können, mit der wir Bilder und Beschützer schaffen, nur um sie wieder zu zerstören, Formeln finden, um sie wieder zu verwerfen, nur vergessen sollten wir nicht, dass dieser ewige Kreislauf aus Fort- und Rückschritt, aus Stirb und Werde, niemals zu durchbrechen sein wird, niemals, bis zum Schluss.

 

 

Wasser, Feuer, Flucht

Die Bilder wurden von Magdalena Bechheim zur Verfügung gestellt, Herzlichen Dank!

 

 

Mehr von Barbara Peveling

Von Eindrücken aus dem Hellweg | Fazit

Ein verregnetes Wochenende in Berlin. Treiben einer Großstadt, kurze Mützen auf dem Hinterkopf, Kleidung aus dem Secondhand Laden. Man nennt es Vintage. Oder shabby-chic. Bioläden, Rennräder, Apple-Computer. Club Mate Flaschen, selbst gedrehte Zigaretten, gekrempelte Hosen, minimalistische Tattoos. Die Vermengung vieler Sprachen aus unterschiedlichsten Ländern und Kulturen. Man ist cool, man ist Weltstadt. Arm aber sexy. Alles Menschen der Kunst. Und der Start-Ups. „Home is where your heart is“ und „the concept of home does not appeal to me, I am global citizen. But Berlin, you know, so cool.“ Ankerlos. Traditionslos. Fähnchen, flatternd im coolen Wind.

Der Hellweg im Kontrast. Voller Kontraste. In der Stadtplanung etwa. Andere Welten hinter der Brücke, bis zur Bahnstrecke, in der nächsten Nachbarschaft. Juristen hier, Arbeiter dort. Kraftwerk rechts, Tempel links.
Strähnchen im modernen Kurzhaarschnitt. Markenzigaretten. Bier aus der Region. Vornamen der Kinder im Unterarm verewigt, andere Vornamen als in Berlin. Man spricht deutsch. Oder westfälisch. Start-ups heißen hier Firmen. Status des Eigenheims, des Autos. Gepflegte Vorgärten – was sollen nur die Nachbarn denken. Carports und Garagen, Gartenzäune.

Nachbarschaften im Hellweg. ©mj

Die Herkunft, die Heimat bestimmt signifikant die Identität. „Hamm ist die geilste Stadt der Welt.“ oder „Heessen ist das Zentrum“. Man hat ja alles was man braucht. Stadt. Land. Fluss. Der Hellweg sehr ländlich. Das Ruhrgebiet nicht weit. Aber doch auch: „Nach Düsseldorf an einem Mittwoch Nachmittag ist mir einfach zu weit. Und zu stressig. Da geht der ganze Tag verloren.“

Während Wissenschaftler*innen auf aller Welt die Frage nach Identität untersuchen, hält sich das Thema hier keine Zigarettenlänge. Identität ein Mosaik mit scharfen Kanten. Deutsch. Westfälisch. Sind schwarz-gelb, respektive blau-weiß. Sind, in sperrigem deutsch: Interessensgemeinschaften. Wie die Gruppe Mazda-Cabrio-Fahrer an einem spätsommerlichen Sonntag Nachmittag, in Kolonne fahrend. Oder die Jungs am Bahnhof, alle mit Bierflasche in der Hand, alle mit dicken Buchstaben auf dem Shirt: SC Hackenstramm.
Cool also schon auch. Nur anders. Und vor allem: local citizens. Fest verankert, verwurzelt. Verankert in Vereinen und Verbänden, in Organisationen, in Traditionen, in Freund*innen und Familien. Alle leben sie hier, seit Generationen. Oder kehren zurück, früher oder später. Von hier kommen sie, hier leben sie, hier bleiben sie. Wollen auch mal reisen. Vielleicht sogar weiter weg. Aber.
Eine Zufriedenheit mit dem, was vor der Haustür liegt. Was die Nachbarschaft hergibt. Was Traditionen vermitteln.

In Städten wie Berlin nur wenig von so etwas, was als nationales Selbstbewusstsein betitelt werden könnte. Im Hellweg immer wieder die Vergewisserung des Selbstverständlichen. Markierungen der Zugehörigkeiten, der Sympathien, der Gesinnungen. Vermutlich selten als Kritik am Anderen gemeint.
Für Außenstehende, für mich, aber implizit. Markierung als Deutsch in Deutschland ist Markierung der Deutungshoheit. Ist Aus- und/oder Abgrenzung. Oder Eingrenzung, Begrenzung des Horizonts, je nach Perspektive und Blickwinkel.

Flaggen im Hellweg ©mj

Wege, Orte, Begegnungen, die meinen Alltag prägen, meist in Großstädten. Mein Rhythmus getaktet von Transportmitteln, von Kommunikation in unterschiedlichen Sprachen, von ‚Projekten‘ hier und dort. Das Verschwimmen von Zeitzonen, von Stadt- und Landesgrenzen. Vernetzung ist das Schlagwort. Ein Grundsatz: Raus aus der Komfortzone. Versuchen, das Andere zu verstehen. Das Fremde. Das Unbekannte. Füreinander sensibel, füreinander aufmerksam machen, miteinander lernen. Das Miteinander ist auffällig im Hellweg.

So fremd mir der Hellweg anfangs war, vielleicht noch ist, so bereichernd waren vier Monate dort, so sehr schätze ich die Vielfalt, die Zufriedenheit, das Miteinander, sei es auch geprägt von lokalen Patriotismen und Rivalitäten, die mir unverständlich sind und bleiben. Das Unverständnis aber nicht relevant.

Relevant ist eine Offenheit. Empathie und Solidarität, im Großen nicht erst jüngst niedergeknüppelt von sozioökonomischen Wandeln, von Differenzen zwischen Stadt und Land, Nord und Süd, von West und Ost.
Was sind Traditionen, während wenige Konzerne zunehmend Denken und Handeln lenken und global normieren?

Vier Monate in einer unbekannten Region, Eindrücke aus Landschaften, aus Stadtgeschehen, Geschichten von Menschen, viele Fässer ohne Boden. Ein Privileg. Reisen bildet. Die Begegnung mit Nachbar*innen aus anderen Regionen. Nachbar*innen im Hellweg, oder Düsseldorf oder Berlin, oder Brüssel, Damaskus, Beijing, Santiago. Die Begegnung mit dem Unbekannten eine Begegnung mit sich selbst. Mikrostrukturen als Exempel für Makrostrukturen.

Zurück in Großstädten erzähle ich Geschichten aus dem Hellweg. Kein Baumarkt, eine Kulturregion in NRW. Auch mir neu. Neue Gedanken zu Heimat, zu Deutschland im Sommer 2017. Neue Rhythmen, Traditionen, Sprachgebräuche.
Im Hellweg, so glaube ich gelernt zu haben, sagt man nicht tschüss. Stattdessen: Bis dahin!

Mehr von Matthias Jochmann

This is the end, beautiful friend – verfrühtes Fazit – UPDATE

(Dies ist eine ergänzte und erweiterte Version, Details siehe Infobox unter diesem Text)

Die Straße ist wie mit gelbem und rotem Konfetti übersät, der Fahrtwind tost ins Gesicht, das Sonnenlicht bricht so grell durch die verfärbten Baumwipfel, dass vor mir einige Sekunden nur Licht und Dunkel ist, Blindflug mit 100 km über eine Sauerländer Bergstraße – und trotzdem ein großes Gefühl von sicher und gut und hier.

Ein spektakulärer 15. Oktober 2017 war das: 24 Grad, blauer Himmel, von den Bergstraßen und Gipfeln Fernsicht und Waldhorizonte, wie ich sie im Kunstunterricht mit verschiedenen Grüntönen bis ins hellgrau immer malen sollte, Seen glitzern und strahlen, die Segelboote wie Rosenblätter auf einem Teich. Die Wiesen entlang der Strecke gemäht, die Felder geerntet, Maisstängel stehen vertrocknet hunderte Meter neben der Straße in Reih und Glied, die Kolben leuchtend gelb wie Überlebende. Das Jahr geht zu Ende und gleichzeitig in zwei Wochen auch der Schreibauftrag. Ich kann nach so einem unfassbar schönen Tag wie gestern nur hoffen, dass das Sauerland auch von mir etwas bekommen hat, außer einen neugierigen, manchmal erstaunten, immer wohlwollenden Blick. Zeit für ein Fazit.

Auch halbes Sauerland ist zu viel
„Sauerland“ bedeutete ja im Sinne der „Regionalen Kulturpolitik“ nur den Hochsauerlandkreis. Kreis Olpe und der Märkische Kreis, die auch Ur-Sauerland sind, laufen als Kulturregion „Südwestfalen“. Ich war froh über die Zweiteilung, denn schon der HSK war in seiner Fülle von Orten und Themen und Entdeckungen in vier Monaten niemals zu bewältigen. Obwohl „Bewältigung“ und erschöpfend umfassende Erzählung mein Ziel nicht war. Nur ein Kratzen an der Oberfläche dessen, was „das Sauerland“ ist. Bloß einen Bogen spannen, Momente erzählen und hoffen, dass alles zusammenhält.

Es war Arbeit, auch wenn das für Außenstehende oft so nicht ausschaute. Da fährt einer mit Motorrad und Auto rum, geht Wandern und Radfahren, trifft Leute aus der Region zum Gespräch, besucht bekannte und weniger bekannte Orte, schleppt sein Notizbuch herum, sitzt manchmal auch auf einem Berggipfel oder seiner Terrasse – und schreibt Texte fürs Internet. Manchmal handeln die von Dingen und Leuten, die ihm begegnet sind, manchmal auch von ganz anderen Sachen: eine Haustür, eine Kurve, eine leere Telefonzelle, ein Aufkleber oder ein aufgeschnapptes Gespräch, das mit „Davon träum ich!“ endete.


Regionale Kulturpolitik?
In der Broschüre zur Regionalen Kulturpolitik (RKP) heißt es zwischen weiteren Absichten:

„Das Programm will die zehn Kulturregionen dabei unterstützen, sich auch im zusammenwachsenden (ja?, Anm.d.Verf.) Europa zu profilieren und ihre Attraktivität und Identität nach innen und außen zu stärken.“

Was man in solchen Broschüren eben schreibt.
Das mit „Identität nach Innen und Außen stärken“ passt noch am ehesten aufs Sauerland-Schreiber Stipendium. Jedenfalls dann, wenn die Texte in der Region für Zustimmung oder auch Kritik gesorgt haben, wenn sie Gespräche gestiftet oder den Blick auf das vermeintlich Bekannte hinterfragt haben. Wenn.

Klassische Kulturberichterstattung – das war mir von Anfang an klar – sollte der Westfalenpost oder dem WOLL Magazin überlassen bleiben. Meine Aufgabe sah ich stattdessen darin, in der Doppelrolle aus Bewohner und Buiterling (Zugezogener), mit begrenzter Zeit und festem Wohnsitz in der Region, das zu beschreiben, was ich bei meinen geplanten Zufallsbegegnungen erlebt habe. Nicht weniger und nicht mehr.

Und so wird es sicher auch enttäuschte Erwartungen gegeben haben, durch die Art und Weise, wie ich meinen Auftrag erfüllt habe, aus der Region zu berichten. StadtLandText war ein Pilotprojekt, ich der erste Sauerlandschreiber, der seine Rolle erst allmählich fand, die zentrale Orga erschien an manchen Stellen ausbaufähig und unterfinanziert – alles ganz normale Vorgänge in einem Projekt diser Größenordnung also.

Entäuschungen mögen aber auch durch die Inhalte entstanden sein: Manchmal führt so eine Spiegelung der eigenen Heimat, wie es die Sauerlandtexte ja auch sind, eine Beschreibung also des ganz Nahen und Gewohnten durch einen Fremden, zu der unangenehmen Frage, ob es denn so sein muss. Oder ob es auch anders sein kann. Und was „das Sauerland“ eigentlich ausmacht – jenseits der Klischees (stur, bodentständig, heimatverbunden, geraderaus…).
Die Spiegelung kann andererseits auch dazu führen, stolz auf etwas zu sein, das man gar nicht als so besonders begriffen hat. Da bekommt man dann von Außen gezeigt, dass es einem gut geht, dass das Leben hier gut ist und die Sauerländer zum Bespiel gar nicht stur, sondern im Gegenteil neugierig, auskunftsfreudig und offen sind. Da interessiert sich einer, das ist doch immer ein gutes Gefühl, oder?

Doku-Fiktion
Überraschungen, Sackgassen und Zufallsfunde, längst Bekanntes und Abseitiges nebeneinander, Kritisches und Affirmatives – manchmal alles in einem Text. Das ist mal besser, mal gar nicht gelungen. 
Ob ein paar Sauerländer nach vier Monaten dieser punktuellen Berichterstattung und subjektiven Schreiberei ihre Region ganz anders sehen? Ob Leute, die noch nie im Sauerland waren, wegen meiner Textes herkommen  – nun, bestimmt nicht. Das wäre vermessen.
In vier Monaten konnte ich nicht mehr beschreiben, als zwei, drei Bojen im Meer aus regionalen Eigenheiten, Traditionen und Geschichten. Ich habe ohne Anspruch auf regionale Vollständigkeit, journalistische Korrektheit und überprüfbare Schlussfolgerungen geschrieben. Das ganze ist eher eine Art Doku-Fiktion geworden als ein Portrai oder gar eine auch nur in Ansätzen erschöpfende Beschreibung. Im Zweifel für den Zweifel, wie Tocotronic mal gesungen haben.

Überhaupt habe ich nach den ersten Wochen mit dem Gefühl „Ich muss über dies&jenes schreiben, das haben die sich gewünscht, das ist ein Highlight, hat jemand gesagt“ einfach nur noch über das geschrieben, was mich packte. Das heißt, was mich tatsächlich animierte, es aufzuschreiben. Ganz. Nicht was repräsentativ oder offensichtlich interessant war. Und so müssen mehr als 30 weitere Ideen, Themen, Orte oder Menschen auf den nächsten Sauerlandschreiber warten – der dann aber ganz andere Dinge suchen und finden wird.

Bloß ein Blog
Hinzu kommt: ein Blog, selbst wenn er so viel gute Presse bekommt und auf so viel Interesse stößt wie StadtLandText, erreicht trotzdem nur eine sehr (sehr!) begrenzte Zahl von Menschen. Kleine fiktive Rechnung: Hier leben nur rund 200.000 potentielle Leser (habe als Zahl mal die Wahlberechtigten genommen). Von denen dürften vermutlich die üblichen etwa 10-15% prinzipiell Interesse an kulturellen Themen haben. Von den 10-15% wollten vielleicht 50% wirklich auch mal hineinlesen in den Blog, nachdem sie aus der Zeitung oder dem Fernsehen davon erfuhren und lesen überhaupt auch mal Blogs. Und von denen haben das dann 50% auch wirklich gemacht: Bleiben rechnerisch 8000 Leute. Ich glaube, es waren weit weniger.

Was mir oft passierte in den vergangenen Monaten, war das Folgende: Ich stellte mich als der Regionalschreiber Sauerland vor. Viele hatten dann tatsächlich vom Projekt gehört und sagten: „Finde ich super. Bin aber noch nicht dazu gekommen mal reinzulesen.“  Wie das Projekt außerhalb, im Rest von NRW, wahrgenommen wurde? Ich habe da nach Jahren als Zuarbeiter und Redakteur von Onlinekulturmagazinen so eine Ahnung.

Stille Tage in Kultur

Trotz Berichterstattung in allen Westfalenpost Regionalausgaben, in der WDR Lokalzeit, dem Woll Magazin und dem Westfalium, trotz der fleißigen Arbeit des HSK Kulturbüros: Auffällig fand ich, dass ich in vier Monaten keine einzige Anfrage aus der Sauerländer „Kulturszene“ oder sagen wir, von den Kulturmachern der Region, für ein Gespräch bekommen habe, keine einzige Einladung zu einer Veranstaltung, kein „komm doch mal auf einen Kaffee vorbei“, nichtmal ein Hinweis, das und das könnte interessant sein – und natürlich auch keine Einladung zu einer Lesung.
Das ist aber nicht schlimm und vielleicht nichtmal überraschend. Denn die Projekte, die ich kennenlernte, wurden ausschließlich durch ehrenamtliches Engagement am Leben gehalten. Und da hat man vermutlich einfach zu sehr mit der eigenen Arbeit zu tun als auf Öffentlichkeit durch ein Projekt wie StadtLandText zu hoffen, das selbst kaum Öffentlichkeit hat – außer die virtuelle in den Medien. An der Menge von Kulturplayern kann es wohl nicht gelegen haben, die sind, trotz der Vertreutheit zählbar. Wen ich dann in den vergangenen Wochen kennenlernte, hatte ich entweder vom Kulturbüro HSK empfohlen bekommen, selbst entdeckt oder von Gespärchspartnern ans Herz gelegt bekommen.

Fazitfazit
Ich habe in vier Monaten 1000 km Strecke im HSK zurückgelegt, habe das erste Heimatmuseum meines Lebens besucht, habe beim Löschen eines Brandes geholfen, habe Kirchen und Kapellen und Kreuzwege durchschritten, habe viele offene, neugierige, auskunftsfreudige Menschen getroffen, war auf Lesungen, Vernissagen, Konzerten, ich bin Flüsse entlang und Berge rauf und runter gewandert und gefahren, habe Klöster und Kunsthäuser von Innen gesehen, habe Menschen gesprochen, die ihre Region lieben, aber auch um die sozialen Probleme (Öffentlicher Nahverkehr, Kneipensterben, Dorfgemeinschaftsverödung, wenig tägliche Kulturangebote, Jugend geht weg…) wissen.
Ich stellte fest, hier ist fast alles aus Bürgersinn und Eherenamt. Jedenfalls die Kultur zu großen Teilen und selbst der Kulturjournalismus. Bei Zeitungsatikel-Honoraren der WP und WR von 12-20 Euro macht man das aus Lust und Laune, nicht aus Verdienstabsichten.

Was habe ich noch gelernt?
Hier sind die Sonntage oft alles andere als geruhsam, wenn das Wetter im Sommer und Herbst stimmt: Dann wird 14 Stunden bis in den späten Abend hinein gearbeitet, die Trecker dröhnen die Straßen hinauf und hinunter, abends wird noch mit Flutlicht auf den Wiesen Heu gewendet. Hier wird am Samstag der Gehweg mit Spatel, Drahtbürste und Besen bearbeitet, hier spricht kaum einer gern und gut über die Holländer, die hier viele Häuser und Hotels kaufen, aber ohne sie gäbe es die Hälfte des Tourismus nicht. Hier sieht man keine Polizei, so gut wie keine Menschen mit irgendeinem „Migartionshintergrund“, hier fahren fast nur Kinder und Alte Bus. Hier macht man regelmässig Abendspaziergänge durch die Feldwege, mit Hund oder Mann oder Freunden, sagt Hallo zum Entgegenkommenden. Hier gibt es eine Weihnachtsbaumkönigin, sehr viele Fliegen trotz angeblichem Insektensterben und es gibt um ein Vielfaches mehr Hochsitze als Theater- und Kinositze. Hier lässt man die Kirche im Dorf, aber geht auch seltener hinein. Und wenn man die Kirche kritisiert, dann wird vielleicht auch mal ein olles Plakat abgehängt, aber angesprochen wird man auf den Text nicht. Auch wenn man später hört, dass er nicht sehr gemocht wurde. Außerdem: Wer regelmäßig Hoch-Kultur schätzt, fährt ins Ruhrgebiet oder nach Köln, wohnt trotzdem gern hier. Wer liest, findet viele, tolle, eigentümergeführte Buchhandlungen, mehr als im Ruhrgebiet. Hier ist jeder in irgendeinem Verein und spricht über Heimat – und trotzdem scheint keiner mehr zu glauben, es geht einfach immer so weiter.

Hier begegnete ich Menschen, die ein gutes Leben führen, längst nicht mehr „hinterwäldlerisch“ abgetrennt von den Entwicklungen außerhalb. Ganz im Gegenteil: Viele der ganz großen Themen, wie die Digitalisierung, die Umbrüche in der Landwirtschaft, der Klimawandel, veränderte Familienstrukturen, Zuwanderung und Abwanderung, überalternde Gesellschaft sind hier sogar früher als anderswo sichtbar – mit allen Konsequenzen. Und der Sauerländer macht weiter. Weil er immer noch weiß, was er hat. Und ich weiß es jetzt auch.

Mehr von Christian Caravante

Von Ängsten und Islamkritik

Nicht mehr lang bis zur Bundestagswahl. Fußgängerzonen mit Schirmen und Aktionen. Gummibärchen, Kugelschreiber, Luftballons. Plakate mit Bekanntem. Oder Irritierendem.

Ein Gespräch mit Pierre Jung, Kandidat der Alternative für Deutschland im Wahlkreis 145. Rund 90 Minuten, davon vor allem: Kritik am Islam. Islam sei Ideologie. Wie Sozialismus. Islam sei eine Gefahr. Für uns.

Immer wieder eine binäre Gegenüberstellung: wir und die.

Wir, die Deutschen, auf der einen Seite. Sie, die muslimischen, sich nicht assimilierenden Menschen auf der anderen Seite. Wir, die Wütenden, auf der einen Seite. Sie, die Naiven und Gutgläubigen auf der anderen Seite. Wir, die Freiheitsliebenden. Sie, die von den Medien fehlgeleiteten. Wir, die Nachfahren von Kant. Freiheitsliebend. Freiheitlich und konservativ.
Wir, die mit der deutschen Seele, die immer tief in die Materie eintauchen und die Grundsätze hinterfragen. Wir, die arbeiten, hart, bis alle Aufgaben gelöst und alles glatt ist. Der Geist der Freiheit stumpfe schließlich nie ab, bei uns.
Sie, die Südländer, die möglicherweise behaupten, fünf sei eine gerade Zahl. Oder sie, die Muslime, die sagen: So Gott will.

Wir, die nicht gegen Muslime sind. Aber gegen den Islam.

Wir, das sind auch die sich eingeschränkt und bedroht Fühlenden. Eingeschränkt von Tempolimit. Bedroht von anderen, fremden, vor allem dieser einen, dieser muslimischen Kultur. Von der Radikalisierung von Muslimen in Deutschland seit dem 11. September. Von der Scharia, die im deutschen Recht auch ihre Anwendung finde. Bedroht vom Verlust freiheitlicher und konservativer, vor allem aber deutscher Werte. Bedroht, vergewaltigt zu werden. Bedroht, von einer Vergesellschaftung des Islams, die in der Verbreitung der Verschleierungen von Frauen ihren Ausdruck finde. Bedroht von einem Ausverkauf deutscher Werte. Bedroht von einem wirtschaftlichen Bankrott Deutschlands. Bedroht, weil deutsch in Deutschland.

Ein einprägsamer Satz, immer wieder. Eine Antwort auf Bedrohungen und Einschränkungen: „Politik ist für mich Notwehr!“

Meine Gedanken sind Fragen. Meine Fragen wirken surreal, auf mich selbst. Ich glaubte uns alle schon viel weiter. Warum so viel Angst? Vor dem Neuen, vor dem Fremden, vor dem Anderen. Antworten? Nicht zu finden im Wahlprogramm dieser ‚Alternative‘.

Schlagworte vielmehr: Verrohung, Aufspaltung zwischen Arm und Reich. Mangel an Informationen. Mangel an Bildung. Mangel an Empathie. Mangel an (multi-)kulturellen Angeboten, Mangel an gemeinschaftlichen Räumen. Gefühlter Verlust von dem, was einmal Heimat ausgemacht haben könnte. Und: Wiederholung der Geschichte. Kommt der Glaube auf, schlecht dazustehen, wird nach unten getreten. Auf die Schwächeren. Auf das leicht identifizierte Feindbild.

Der schwindende Glaube an die Politik der Mitte. Wer ist schuld? Wer hat wirklich Macht? Nach welchen Interessen wird politisch wirklich gehandelt? Welche Herausforderungen haben Priorität? Gibt es noch Herausforderungen, die individuell zu beantworten sind, ohne neue Fragen aufzumachen?

Die Welt der Gegenwart, die Realität, komplex. Es gibt nicht mehr nur das Hier und Jetzt. Heimat nicht mehr verortbar, nur noch ein Gefühl.

Deutschland im Herbst. Home is where your fear is.

Mehr von Matthias Jochmann

Heimat festhalten – Die Wunderkammer – TEIL 1

„Lauter Buchstaben und Zeichen aus dem Setzkasten der vergessenen Dinge“, W.G. Sebald, Austerlitz.

Bremse ziehen, rechts ran, was ist DAS denn? Etwas oberhalb der Straße ein gigantischer, sicher 30 Meter hoher und 100 Meter breiter Schieferhaufen. Nein, vielmehr ein enormer Schieferschuttberg, wie die Ruine einer antiken Hügelgrabstätte, riesig, schwarz, glänzend. Im Sauerland wartet weiterhin hinter jeder zehnten Kurve eine Überraschung. Und der Hügel passt in doppelter Hinsicht: Ich bin auf dem Weg ins Städtchen Holthausen zum „Westfälischen Schieferbergbau und Heimatmuseum“.

Eine Herausforderung, wegen des – jedenfalls für mich – ambivalenten, unklaren, gern als Kampfbegriff verwendeten Worts „Heimat“. Soviel vorab: dieses Museum ist für mich ein Ereignis. Wie der Schiefer-Schuttberg bei der Anreise türmten sich beim Besuch bald Assoziationen, Fantasien, Erinnerungen und grundsätzliche Fragen über Heimat, Vergangenheit und museale Präsentationen übereinander. Dieses Haus ist eine Wunderkammer.

Der Blogtext in zwei Teilen ist mein bescheidener Versuch einen Weg auf diesen Hügel aus Gedanken zu finden – und vielleicht eine Aussicht.

Heimat ist fremd
Das Museum in Holthausen – ich gestehe – ist das erste deutsche Heimatmuseum meines Lebens. Heimatmuseum – das klang für mich piefig, national und provinziell. Bei mir kam eh immer nur Fernweh, nie Heimweh. Heimatmuseum, ob an der Nordsee, im Schwarzwald oder Sauerland, ist das nicht konzeptionsloser, konservativer Krimskrams mit handgeschriebenen Hinweisschildern? Ist das nicht eine Erd- & Schollenverbundheit, die mir fremd aber nicht Heimat ist? Heimat ist immer da, wo man liebt und lebt, dachte ich lang. Um dann – vermutlich eine dieser leidigen Alterserscheinungen – festzustellen: Heimat ist in einem, egal wo man hingeht. Sicher kann man sie auch woanders finden, irgendwo ankommen, weit weg von dem Ort, an dem man aufgewachsen ist. Allein, dann ist das die so genannte „zweite Heimat“.

Luftblasen aus der Tiefe
Heimatmuseum bedeutete bisher für mich einen Versuch, etwas zu konservieren, das allzu sehr im Fluss ist, etwas, das Interpretationen und erinnerungspolitischen Absichten unterworfen ist, die mehr mit dem Heute, als dem Gestern zu tun haben. Dazu, Heimat ist individuell und nicht kollektiv zu fassen. Sie besteht aus Erinnerungen und Gefühlen, Gerüchen und Familientraditionen, aus nostalgischen Anwandlungen und der eigenen Geschichte – die man ja selbst kaum korrekt und zusammenhängend erzählen kann.

Heimatmuseum bedeutet hingegen ausgewählte Alltagsobjekte meist namenloser Besitzer in Schaukästen mit einer zusammenhängenden Erzählung zu versehen und zu behaupten: So ist das hier. Die Menschen, die Geschichte machen, verschwinden hinter Gegenständen, die alles und deshalb nichts bedeuten können.
Ein Hammer, eine Schürze, ein Kruzifix, eine Stickerei, ein Tisch, ein Geweih – was erzählen die als Haufen von Zeug auf einem Flohmarkt? Und was bedeuten sie im Museum? Und wo sind darin die Menschen, die jeden Tag vor die Tür gehen, gut gelaunt, mies drauf, vorfeudig, traurig, gestresst, allein, mit Absichten und Unzulänglichkeiten? Heimatmuseum, Volksfest, Trachtenverein, Brauchtumpflege und Heimatfilm: allerhöchstens Luftblasen aus der Tiefe des kulturellen und biografischen Ozeans einer Region und ihrer Menschen. Oder?

In Fraktur
Das Grundproblem vieler historischer oder Heimatmuseen, die Auswahl und das Auslassen, fand ich gleich am Eingang zum Museum in Holthausen auf der „Historischen Tafel“ bestätigt, laut der die neuzeitliche Geschichte der Region so verlief:

„1929 bis 1933 Weltwirtschaftskrise, 1939 bis 1945 Zweiter Weltkrieg, 1945 Gründung der UNO, 1949 Konrad Adenauer wird Bundeskanzler.“

1933-39, Nationalsozialismus, Verfolgung und Vernichtungkrieg? Nö. Diese Haltung ist „Heimatschutz“ als blinder Fleck. Warum braucht „Heimat“ so verzweifelt eine Geschichte von Erfolgen und Siegen? Egal, denke ich, jetzt reingehen, wer weiß, wer diese Tafel in Frakturschrift angebracht hat und warum sie immer noch hängt – hoffentlich ist sie kein Motto für das, was mich drin erwartet, sondern selbst ein Artefakt vergangener Denk- und Schreibweisen.

Damaskuserlebnis
Dem Betreten der Räume, ich kann es nicht anders sagen, folgte sehr bald meine Bekehrung, mein Fall vom Pferd vor Damaskus. Ich bin schon im dritten Raum hellwach und begeistert. Der Rundgang beginnt recht unvermittelt mit Kunstwerken des sauerländer Bildhauers Eugen Senge-Platten und einigen Fotos von ihm, führt hinauf in Räume, wo in großen Glaskästen vor Fototapete drapiert ausgestopfte Tiere aus Wald, Wiese und Himmel erstarrt sind. In einer Ecke grobe Holzskulpturen, in einer anderen bunt bemalte Fensterläden mit der Geschichte einer Sauerländer Mörderin. Weiter geht es in Räume, die komplette Werkstätten von Schuhmachern, Druckern und dem untergegangen Handwerk des Stellmachers beherbergen. Dazwischen mal Fotos, mal Leuchtkästen, mal Arrangements zu Strickwaren, Tabak, zur Auswanderung in die USA oder zur „Holzwurst“. Kabinette mit Stubeneinrichtung und Totengedenkbildern, Urkunden von Dorfwettbewerben, Hinweisschilder, Fotoerklärtafeln über Holzwirtschaft und das Zimmer des Künstlers und Verkehrsamtsleiters und freien Mitarbeiter des Museums Leo Bittner.

Jedes Objekt, ob besonders, alltäglich, verständlich oder fremd, wurde bei meinem Rundgang Teil eines nicht fassbaren Ganzen. Da entstand Energie zwischen den tausenden Dingen und ihren unendlichen Geschichten in den vielen, verschachtelten Räumen. So kann ich Heimat glauben. Weil so Leben ist.

Ich verliere mich bald in den sich immer wieder auftuenden Räumen und Kabinetten, Themen und Gegenständen, ich schreibe, fotografiere, erinnere mich an Besuche im Sauerland als Kind, ich assoziiere so wild und durcheinander in Bildern und Worten wie Christoph Schlingensiefs Theater…. Und dann werde ich nur durch Zufall nicht im Haus eingeschlossen – was vielleicht das größte Abenteuer als Sauerlandschreiber hätte werden können. Vor dem Haus, an einem Sommerabend kann ich nur noch denken. Mehr davon!

„Es liegt einem auf der Zunge, wie hier Vogelfutter in der Fixierschale, Blumensamen neben dem Feldstecher, die abgebrochene Schraube auf dem Notenheft und der Revolver überm Goldfischglas zu lesen sind.“ Walter Benjamin, Das Passagen-Werk

ENDE TEIL 1

Mehr von Christian Caravante