Von Pflichten und Prioritäten

Gut zwei Wochen im Hellweg. Ich glaube, Temperament und Geist dieser Region ansatzweise erahnen zu können. Menschen, denen ich bisher begegne, sind vor allem eins: Heimatverbunden. So höre ich, zum Beispiel: Hamm mag für Außenstehende kein Traum sein. Für gebürtige Hammer aber gibt es keine bessere Stadt auf dieser Welt.
Ich frage mich, ob diese Heimatverbundenheit ein Alleinstellungsmerkmal der Region ist. Oder aber: Beißen sich die Konzepte von Heimatverbundenheit und Großstadt? Sind urbane Zentren zu sehr einer Fluktuation ausgesetzt? Sind Interessen und Möglichkeit zu divers, um sie nachbarschaftlich zu konzentrieren? Nur von Berliner*innen kenne ich eine solche Verbundenheit. Kaum wagen sie sich aus ihrer Stadt heraus. An den Wannsee vielleicht. Oder die Ostsee.

In einem Gespräch höre ich die entscheidende Gegenfrage: Was ist Heimat für dich? Ich denke an wichtige Orte meiner Kindheit, an abwechslungsreiche Sommer, an familiär-besinnliche Weihnachten, an wichtige Tage und Ereignisse der vergangenen 30 Jahre. An Menschen, die nicht mehr leben. Ich frage mich, warum ich erst an einen See in Bayern denke, und nicht an das Haus im Rheinland, in dem ich aufgewachsen bin. Ich denke auch an Orte, die mir zur Heimat wurden. Durch Freunde. Durch prägende Zeiten. Deutsch spricht man dort kaum. Zweite und dritte und xte Heimaten. Home is where your heart is.

Im Hellweg wird diese Frage wohl oft schneller beantwortet. Vermute ich. Hier ist man geboren, aufgewachsen, hier kennt man sich. Hier gehört man hin. Zum Schützenverein. Zur Feuerwehr. Zum Heimatverein. Zum Knappenverein. Home is where you were born.

In einer wunderschönen Landschaft. Mit Kanälen und Halden. Durchbrochen von Kraft- und Bergwerken, von Windrädern und Industrieanlagen. Eine natürlich-mechanische Romanze.

Ausblick Kissinger Höhe, Hamm-Herringen – ©mj

Ich lerne, welche Relevanz Nachbarschaft hier hat. Prioritäten sind traditionell klar verteilt: Im katholischen Teil der Region: 1. Kirche, 2. Hof, 3. Nachbarschaft. Im protestantischen Teil: 1. Nachbarschaft, 2. Hof, 3. Verwandschaft.
Prioritäten und Pflichten sind gleichgesetzt. Christenpflicht, Menschenpflicht, Nachbarspflicht. Wenn mir das Salz ausgeht, frage ich den Nachbar um Hilfe. Wenn der Nachbar Geburtstag hat, kann der Sohn nicht heiraten. Sind Menschen neu in der Nachbarschaft, müssen sie sich integrieren. Und sich beweisen. Solidarität, Gemeinschaft, Integration.

Sogar im Supermarkt, eine große Kette, kennt man sich. Senioren essen gemeinsam zu Mittag. Wahlweise Frikadellen oder Wurst mit Kartoffelsalat. Beim Ärger über die Vorkommnisse in Hamburg ist man sich einig. ‚Das ist nicht unser Deutschland.‘ Heißt auch: Das ist nicht mehr Heimat, das sind nicht mehr meine Nachbarn. Nachbarschaft als Einbahnstraße.
In Regensburg wurden junge Menschen jahrelang missbraucht. In einem Nachbarland wird die Gewaltenteilung abgeschafft. Ein einjähriger Ausnahmezustand legitimiert Willkür am Mittelmeer. Ein Friedensnobelpreisträger stirbt, Anteilnahme wird zensiert. Einbahnstraßen. Nachbarschaft wird zerstört. Und Heimat. Unter anderem.

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